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Verschiedene: Die Gartenlaube (1889)

Ihrem und Herrn Chevallets, des ersten Buchhalters, Beisein übergeben‘ – ich mußte zustimmend nicken – ‚wir vier haben zusammen das Comptoir verlassen und‘ – er lächelte bitter – ‚die verehrliche Polizei hat inzwischen schon festgestellt, wo ich, Sie, Herr Souchon und Herr Chevallet seit gestern abend um sieben Uhr gewesen sind. Sie ist freundlich genug, einem jeden von uns zu bestätigen, daß wir keine Diebe sind. Hier sind die Schlüssel, aber Schlüssel oder Nachschlüssel hat der Dieb gar nicht nöthig gehabt. Mit solchen Kleinigkeiten halten sich die Diebe, wie es scheint, heutzutage nicht mehr auf. Kommen Sie mit und sehen Sie sich den Tresor selber an!‘

Er stürmte voran, durch die Couponkasse, die Wechselkasse, die Buchhalterei in den engen Gang, der zur Tresornische führte, eine Art von Alkoven an der Schmalseite der Hauptkasse.

,Er muß sich irgendwo unter der Treppe am Nachmittag versteckt haben; Vaillant, den Wachhund des Comptoirs, haben sie mit Strychnin vergiftet vor der Nischenthür gefunden; den alten Nachtwächter Lesoudier hat der Spitzbube in den Kopf geschossen, er wird die Stunde nicht überleben und ist nicht zur Besinnung, geschweige denn zu einer Mittheilung zu bringen. Und dann sehen Sie die Raffinirtheit des Halunken: hier liegt ein Ballen russischer Konvertirter, über fünf Millionen Franken werth – Stückzahl und Preis steht drauf – da sehen Sie: nicht ein Siegel erbrochen; war dem Burschen zu gefährlich. Auch kein einziger Wechsel fehlt, nicht ein Blatt französischer Rente – nichts, dessen Veräußerung zur Entdeckung führen könnte. Dafür hat er aber alles weggeräumt, was an Barem da war, so viel er nur schleppen konnte. Noch hat Herr Souchon nicht genau festgestellt, wie viel; aber schon jetzt sind es über vier Millionen Franken allein in französischen Banknoten. Ein Packet mit zweitausend Stück Tausender, drei Packete mit je tausend Stück neuer Fünfhunderter, macht schon dreieinhalb Millionen, den Rest in sieben kleineren Packeten mit Hundertern. Auch einige Rollen Napoleons, zwei oder drei, fehlen ganz, zwei sind aufgebrochen und ein paar Dutzend Stück herausgenommen – vier Stück lagen heute früh an der Erde, eines war bis ins Kassenzimmer gerollt. Da liegen noch die Fetzen der Rollenhülsen. Aber mehr als ein paar tausend Franken in Gold sind das nicht. War ihm offenbar zu unbequem.‘“

„Unsere Herren Spitzbuben, durchbrennenden Kassirer und dergleichen Raubzeug machen’s meist dümmer – Gottlob!“ schaltete der Kölner Polizeihauptmann in seines Bruders Erzählung ein und trank sein Glas aus.

„‚Haben Sie gar keinen Verdacht?‘ fragte ich den Direktor.

‚Einen Verdacht schon, aber keinen Dieb! Wer mit so unerhörter Frechheit und Schlauheit mordet und raubt, der wird selten gepackt. Hier der Herr Kommissar meint zwar, die Polizei würde ihn noch heute kriegen; aber das sagt die Polizei immer. Es nützt nichts, aber es tröstet!‘

‚Und der Verdacht?‘

‚Seit dem letzten Montag will Herr Souchon – und seit Dienstag auch Herr Chevallet – Tag für Tag, manchmal wiederholt am selben Tage, einen großen, breitschultrigen, ganz glattrasirten Menschen bemerkt haben, in tadelloser Kleidung, ein bißchen englisch aussehend, eine Art von ‚Gentleman‘, der englische Fünfpfundnoten zum Umwechseln brachte. Er hielt sich jedesmal so lange wie möglich an der Kasse auf, erkundigte sich nach den Wechselkursen, prüfte jeden Napoleon, wies einmal einen ausgezeichneten Ludwig den Achtzehnten zurück, und als er gestern vormittag wiederkam, wechselte er drei Fünfpfundnoten in kleine und größere deutsche Noten und etwas deutsches Gold um. Dabei soll er kein Auge vom Tresor gelassen haben, so daß er Herrn Souchon unheimlich wurde. Beiläufig, ein Engländer oder Amerikaner war er auf keinen Fall, er sprach gerade so gut französisch wie ich.‘

‚Das ist aber eine herzlich schwache Spur,‘ bemerkte ich.

‚Hören Sie nur: der Raubmörder trug bei all den Wechselgeschäften stets dicke schwarze Lederhandschuhe, die er niemals auszog, auch nicht um kleinere Münzen einzustreichen, und Souchon, dem das beim zweiten Besuch des Schurken auffiel, hat deutlich bemerkt, daß er an der linken Hand nur vier Finger hatte; der kleine Finger fehlte!‘“ –

„Und einen Mörder und Dieb mit solchem Signalement hat die Pariser Polizei nicht in vierundzwanzig Stunden gekriegt?!“ schrie Richard empört dazwischen und wollte aufspringen. Doch besann er sich gleich, lächelte vergnügt und sagte nur: „Ja so!“ Dann aber nach einer kurzen Pause: „Und nicht mal die Nummern der größeren Banknoten wurden in Eurer alten Gaunerbude notirt?“

„Ich bitte Dich,“ entgegnete ihm Hans, „bei einem Kommen und Gehen des Geldes in Millionen täglich? Da hätten ja mehrere Leute den ganzen Tag nichts anderes zu thun gehabt, als die Nummern aufzuschreiben. In der Beziehung konnte der Verbrecher ganz ruhig sein. –

Genug, ich sah ein, daß ich hier überflüssig war. Helfen konnte ich nichts; ich mußte ja froh sein, daß die Polizei mich ruhig laufen ließ. Der Direktor war viel zu aufgeregt, um mir zum Abschied mehr als einen flüchtigen Händedruck zu gönnen.

Vor dem Weggehen fragte ich noch den Polizeikommissar, welche Maßregeln zur Ergreifung des Thäters man denn getroffen hätte. – ‚Alle, die in solchen Fällen überhaupt üblich und möglich sind. Ganz Frankreich, alle Grenzstationen, alle Polizeiverwaltungen des Auslandes sind seit einer Stunde telegraphisch benachrichtigt; das genaue Signalement nach den Angaben der Herren Souchon und Chevallet ist jetzt schon auf allen Eisenbahnstationen bekannt. In Paris wird durch die Revierpolizisten Haus bei Haus Umfrage gehalten, ob ein Mensch mit einer vierfingrigen linken Hand bekannt sei. Ich denke, vor heute abend haben wir ihn.‘

‚Viel Glück!‘ sagte ich und empfahl mich.

Wohin nun? Fort von Paris! An eine Stellung, wie ich sie gehabt, war in den nächsten Wochen nicht zu denken, am wenigsten für einen ehemaligen Angestellten des verkrachten Comptoir d’Escompte, und nun gar unter der Verdachtwolke, die nach diesem ungeheuren Diebstahl auf jedem ruhte, der im Dienste des Comptoirs gestanden. – Ohne Stellung und Einnahme auf dem theuren Pariser Pflaster? – Das ging nicht lange. Auch war mir Paris wie mit einem Schlage zuwider geworden, ich war trostbedürftig, sehnte mich nach der Heimath, den nächsten Angehörigen, was man leider immer erst dann spürt, wenn’s einem miserabel geht. Also auf nach Köln: ‚der Dom, der Karneval un dat köllsche Wasser – da geht ja nix drüber!‘ Zum Glück hatte ich meine fünfzehn Kupferaktien schon einige Tage vorher, als es zu knistern anfing, verkauft, – sonst könnte ich damit heute Deine Gute Stube neu tapezieren.

Ich ging trübselig nach Hause, vierter Stock in der Rue des petits champs. Mein bißchen fahrende Habe war bald gepackt. Der große alte Familienkoffer, als Frachtgut an Dich adressirt, wird wohl erst nächste Woche kommen. Die kleine Schwägerin findet darin für ein Jahr neueste französische Lektüre, – gut umschütteln und mit Auswahl zu sich nehmen. Einen kleineren Koffer gab ich abends als Freigepäck auf und nahm nur das Handtäschchen dort mit in den Wagen.

Mit dem Packen, den Laufereien zum Spediteur, einigen Abschiedsbesuchen und einem Besuch im Louvremagazin für die Frau Schwägerin, dann meiner Henkersmahlzeit im Palais Royal waren die paar Tagesstunden schnell hingebracht. Die brave Madame Perrin, Boulangistin vom Chignon bis zum Pantoffel, bei der ich fünf Jahre gewohnt habe – ‚eine Perle von Miether‘, wie sie beinah weinend beim Abschied mir bescheinigte –, ließ sich’s nicht nehmen, mir selbst eine Droschke zu besorgen, eine richtige Pechnummer: 13 403, ungerade Zahl mit ungerader Quersumme, – allein genügend, um mich so mißgestimmt wie nur möglich zum Nordbahnhof fahren zu lassen.

Von der Rue des petits champs bis zum Bahnhof sind’s vielleicht zwanzig Minuten. Mir dünkten sie wie Stunden. Mein ganzes Pariser Leben zog auf der Abschiedsfahrt an meiner Seele vorüber. Dort gegenüber der Bibliothek, hinter dem kleinen Rasenplatz des Square Louvois, hatte ich zuerst gewohnt, in dem stillen Hotel Lulli, als ich vor sechs Jahren als dummer Junge nach Paris kam; – bei jenem Bankier in der Rue Richelieu hatte ich meinen ersten Hundertmarkschein in Napoleons gewechselt; – bei –“

„Ueberspringe mal ein Dutzend solcher sentimentaler Erinnerungen, Hänschen, und laß den Expreßzug nach Köln abfahren!“ trieb Richard den behaglich erzählenden Bruder an. Evchen protestirte; alles, was Paris anging, war ihr von höchstem Interesse.

Hans fuhr fort: „An der Ecke der Rue Drouot und der Rue Lafayette –“

„Laß doch die Ecke in der Ecke und fahr’ ab!“ hetzte Richard, dem um seinen Bericht für den Polizeipräsidenten bange wurde.

„Nein, die Ecke kann ich Dir nicht schenken; Du wirst gleich sehen warum nicht. – Also an der Ecke, wie mein Kutscher nach rechts hinüber biegen will, – sieh mal, so –, kommt von dort, links,

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