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Verschiedene: Die Gartenlaube (1889)

des Sonnenlichtes, bei uns an den Aufgang des göttlichen Lichtes, das die Erde mit eitel Liebe zu erfüllen bestrebt ist. Ob der Lichterbaum nun einst in der Methhalle stand zur Feier der Sonnenwende, ob heute in der Familienstube zur heiligen Weihnacht, immer tönt von ihm der Gruß: ‚Ich verkündige Euch große Freude.‘ – Und unter der Tanne raucht diesmal der auferstandene Purzelmann.“

„Aber der ist gar ein heidnisches Götzenbild,“ mahnte der Pfarrer.

„Er war der Beschützer der echten deutschen Liebe,“ trat der Bibliothekar für den kleinen Götzen ein. „Als solchem gebührt ihm ein Ehrenplatz bei einem deutschen Fest.“

Der Pfarrer wollte noch einmal gegen diese wunderliche Christfeier Einspruch erheben. Aber die treuherzigen Augen des jungen Forstgehilfen sahen ihn flehend an, und er meinte die Worte seines Töchterleins zu hören, die jetzt früh und spät in sein Ohr klangen: „Ach, gebt es doch zu! Wir haben uns so lieb; wir wollen warten; wir können uns einschränken; wir sind noch so jung.“ So schwieg er denn.

Triumphirend kehrte Doktor Ehrlich nach Hause zurück.

„Hulda!“

„Herr Bibliothekar!“

„Es werden runde Gebildbrote gebacken zu Ehren des runden Sonnengesichtes, das sich uns nun wieder zuwendet.“

Hulda schlug die Hände über dem Kopf zusammen. „Die Christwecken müssen länglich sein; das ist auch viel besser theilbar.“

„Schwumprich!“

„Zu Befehl!“

„Die Lichtchen für die Tanne gießen wir selbst. Schicken Sie nur die bunten gemalten Dingerchen wieder fort. Das Wachs wird vom Bienenvater drunten im Thal geholt; solche selbstgemachten Lichter riechen wie eitel Honig und sitzen so fest auf den Zweigen wie die Reiterchen, während die modernen Lichter vor Verfälschung nicht einmal ordentlich kleben.“

„Ja woll, Herr Bibliothekar!“

„Und Du, Sif,“ wandte er sich an diese, „bäckst die Pfefferkuchen in der gewonnenen Form: lauter Reiter mit goldenen Helmen und silbernen Harnischen.“

„Ja, Väterchen,“ flüsterte Sif mit versagender Stimme. Wie kann sich doch das schönste Fest in eitel Traurigkeit verwandeln!

Endlich waren alle feierlichen Vorbereitungen getroffen, der große Tanzboden des Sichelhammers mit Tannenreis und Moos geschmückt. Die Gesellschaft stand im Kreis, und – es war wunderbar! – alles paarweise: der Apotheker und Eulalia neben der dampfenden Punschterrine, der Forstgehilfe und das Pfarrerstöchterlein hinter der Tanne, unter der Thürguirlande Hulda und der Schwumprich.

Jetzt flammten alle die gelben Wachslichtchen. Und nun wurde es still wie immer in den ersten Minuten, wenn die Tanne brennt, als töne es wirklich von ihr herab:

„Ich verkündige Euch große Freude!“

Durch die kleinen Scheiben strahlte das Licht weit hinaus in das Dunkel. Ein einsamer Wanderer fing es auf und folgte ihm nach. Tönte auch in ihm der Gruß wieder: Ich verkündige Euch große Freude?

Kinder flogen noch in ihren flachen Schlittchen über den Weg. Sie hatten die schönste Bahn; denn sie fuhren von den Dachfirsten ihrer verschneiten Heimstätten herab.

„Warum sind die meisten Häuser dunkel? Und was ist das dort für ein großes Gebäude, das so hell erleuchtet ist?“ fragte der Wanderer.

„Das ist der Sichelhammer; und dort raucht unser Purzelmann,“ riefen die Kinder stolz. „Fräulein Sif zündet ihn eben an.“

Ja, Sif zündete ihn wieder an. Das Herz wollte ihr brechen, als sie die Wachholderzweiglein durch den kleinen Mund schob und nun ihre Lippen an das Oehrchen des Purzelmannes schmiegte – ganz so wie damals! Sie vergaß den Tanzboden des Sichelhammers, all die getreuen Nachbarn und guten Freunde. Sie meinte, in der gewölbten Halle des Museums zu stehen, sie meinte, seinen Blick auf sich ruhen zu fühlen – wie damals an dem glückseligsten Tag ihres Lebens. Thränen drangen in ihre Augen. Sie mochte nicht aufsehen, damit die Täuschung dauere.

Der kleine Götze dampfte sie wie zuredend an; sie mußte sich endlich doch aufrichten. Aber durch Thränen und Dampf sieht sie noch immer die großen grauen Augen auf sich gerichtet.

Da – neben dem von Moos umwundenen Sockel des kleinen Götzen steht er leibhaftig. Und jetzt tritt er langsam zu ihr heran. Er neigt sich ihr zu und spricht in gedämpftem Tone: „In der Nacht, die unserem Volke heilig war von Uranfang an, ruhte aller Kampf. Sollte nicht auch für mich da ein Wort der Vergebung gesprochen werden können?“

Sif senkte demüthig das Haupt. „Ich allein habe um ein solches zu bitten,“ sagte sie mit leiser bebender Stimme.

Er schüttelte den Kopf. „Nein, ich war schuldig.“ Er atmete tief auf wie einer, der eine schwere Last endlich von der Seele gewälzt hat. Und ohne auf ihre abwehrende Bewegung zu achten, fuhr er fort: „Es war ein strenges, aber gerechtes Verhängniß, daß ich mir selbst die Strafe bereitete, während die Erkenntniß meiner Irrthümer und Fehler in mir zu tagen begann. Ich, der Angehörige des deutschen sonst allezeit vernünftig genügsamen Gelehrtenstandes, strebte nach der Verbindung mit einem reichen Mädchen. Und warum? Weil mir Schliemanns Ruhm nicht Ruhe ließ. Ich wünschte, auch Ausgrabungen zu machen in Griechenland, ich, der Direktor des deutschen Museums. Und zu diesem Zweck wollte ich die Tochter des orientalischen Stammes heirathen, die Ellen hieß, und deren Vater seinen einst so hoch geehrten Namen Aaron in den griechischen Arion gewandelt hatte. Ich wollte ein feudales Haus bauen, anstatt es belehrend zu schildern; ich wünschte, selbst die schönen Geräthe zu besitzen, die ich den Künstlern und Kunsthandwerkern zu Nutz und Frommen ihres Berufes zugänglich machen sollte; ich wünschte, einen Eros auszugraben, und erstickte die deutsche Liebe in meinem Herzen.

Da kamen Sie! Und gottlob! Ich hatte meine Natur noch nicht ganz zu verderben vermocht, wie ich auch daran herum gestümpert hatte; sie war besser und stärker als mein Wille. Das Gerüst von Berechnungen, das ich künstlich aufgestellt hatte, brach zusammen, und ich wurde noch gewürdigt, eine richtige Liebe zu empfinden. Es war der demüthigendste Augenblick meines Lebens, als ich zwischen Ihnen und Fräulein Arion stand. Und ich blieb, wie alle gründlichen Gelehrten, in dieser Schwierigkeit stecken, über die der gewandte ritterliche Graf Rossel so leicht hinwegglitt. Und das geschah mir recht. Warum war der Schuster nicht bei seinem Leisten geblieben? Bei ehrlicher Arbeit, bei einfachen Ansprüchen an eine gemüthliche Häuslichkeit und dem Ruf eines gewissenhaften Forschers auf den erwählten Gebieten?

Aber ich habe gebüßt und gesühnt. Und nun beschwöre ich Sie, Sif, bei Ihrem kleinen Liebesgott, der da so freundlich lacht – verzeihen Sie mir!“

Sie legte ihre Hand, unter Thränen lächelnd, in die seine, und er flüsterte ihr zu:

„So sueze Juncfrouwe sah ich nie,
Wollte sie mir gnedicliche sin, – ahi!“

Hand in Hand gingen sie zu dem Bibliothekar – und baten um seinen Segen.

Das starre Staunen der Versammlung löste sich in hellen Jubel auf.

Des Bibliothekars Verwunderung über den jungen Kollegen und unerwarteten Schwiegersohn ging im allgemeinen Tumult unter, bis plötzlich auf der andern Seite des Saales abermals ein junges Paar knieend um den elterlichen Segen flehte, Pfarrers Mariechen und ihr Forstmann, und nun die ganze Gesellschaft dorthin sich wandte, um zuzusehen, wie die Frau Pfarrerin sich mit Würde in ihr Schicksal fand.

Da trat mit dem ersten Glase Punsch der Bibliothekar vor den Purzelmann und sprach:

„Das bringe ich Dir, mein kleiner Gott! Du hast die klugen Menschen, die an Dir zweifelten, Deine Macht fühlen lassen, hast sie ohne Barmherzigkeit mit der alten einfältigen deutschen Liebe beglückt – sie mochten wollen oder nicht. Du hast gezeigt, daß es trotz aller neuen Weisheit bei der alten Thorheit bleibt, und daß das thörichte Herz immer wieder dem unfehlbaren Einmaleins ein Schnippchen zu schlagen vermag!

Und nun tanzt einen deutschen Ringelreihen um den braven kleinen Mann!“

Die Dorfmusik fiel ein, und im fröhlichen Reigen drückte jeder glückliche Bräutigam seine Liebste aus Herz.




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