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verschiedene: Die Gartenlaube (1889)

„Liber süser Papa liber guhter Papa Bitte komm doch Wiehder Du hast einmahl gesagt Du Willst mein Papa sein Ich und Mama Sind sehr Traurich und so grüse Ich Dich als Dein Sascha.“

„O Gott!“ schrie Alfred auf und schlug seine Hände vor das Gesicht.

„Fasse Dich, fasse Dich!“ flehte Germaine angstvoll, „besinne Dich! Begreife doch, daß nun alles gut werden kann! Sie hat Dich gerufen durch das Kind, das von Dir so heißgeliebte. Daß ihr Ruf nicht zu Dir drang, konnte sie nicht wissen – Du nicht ahnen, daß Du gerufen warst. Eile zu ihren Füßen! Sage, daß Du sie noch immer liebst – höre, daß Du noch immer geliebt bist! Ja, Du bist es. Ich fühle es, ich glaube es. Sieh! für Gerda und ihr Kind bitte ich.“

„Und – und Du?“ fragte er mühsam.

„Sag’ ihr, daß ich nicht Dein Weib, daß ich Deine Schwester bin; sag’ ihr alles!“ fuhr Germaine mit immer steigender Leidenschaft fort. „Heute noch sprich das Wort, das auch vor dem Gesetz die Lüge aufdeckt, die uns bindet. Ja, laß es alle Welt wissen, daß wir niemals Gatten waren, daß wir beide frei, ganz frei sind!“

Auf ihren Wangen brannten Fieberflecke, ihre Augen glühten.

„Daß ich mich vermählen wollte, sie wird es nie verzeihen. Denn sie wird verstehen, daß ich es nicht that, um einem andern Weibe zu gehören, sondern um mich auf ewig von ihr zu scheiden,“ sagte er tonlos. „Daß Du meine Schwester bist, ändert für sie nichts, nichts an der Grausamkeit, die ich ihr angethan.“

Er starrte vor sich hin. In seinen Augen glomm allmählich ein festes finsteres Licht auf und die Erregung in seinen Zügen wandelte sich in herbe Unbeweglichkeit.

„Ja – Grausamkeit,“ wiederholte er wie für sich, „das ist es und das wollte ich, das war meine Wehr gegen die Qual, die ich um ihretwillen litt.“

Er stand auf. In einem völlig veränderten Ton, aber ohne Germaine anzusehen, sagte er: „Aber wir wollten ja ‚Kugler‘ suchen. Geh’ nur! Die Luft hier ist unerträglich. Ich bringe Dir das Buch.“

Sie ging, langsam wie eine, der man eine riesengroß aufflackernde Hoffnung zerschlagen.

Er aber nahm das Papier mit den kindischen Schriftzügen, bedeckte es mit Küssen, las es mit nassen Augen wieder und wieder und, indem er es auf seiner Brust verbarg, dachte er:

„Dich – Dich, geliebtes Kind, kann ich nicht mithassen …“

Als Germaine die Wohnstube betrat, erschrak sie so, daß sie sich an dem Stuhl nächst der Thür festhalten mußte. Marbod Steinweber stand am Fenster und wandte sich der Eintretenden zu.

Mit einer Förmlichkeit und einem fremden Ernst, wie er ihn in jener Stunde gezeigt hatte, als Germaine ankam, und seitdem nie mehr, fragte er, ob Alfred nicht zu Hause sei.

„Gewiß,“ erwiderte sie leise, „er kommt gleich.“

Sie sahen sich nicht an.

„Hat Marie auch ihr so fürchterliche Dinge gesagt?“ dachte er, „weshalb sonst ist sie nicht wie gestern noch, freimüthig, liebevoll? Oder hat Alfred selbst ihr gesagt, daß sie so nicht – nicht auf mich blicken dürfe?“

„Ich habe mit ihm allein zu sprechen,“ sagte er nach einer Pause. Das klang rauh, ja verletzend. Merkte sie das nicht? In demüthiger Bescheidenheit antwortete sie:

„Ich werde mich gleich zurückziehen.“ Und es schien, als wollte sie augenblicklich das Zimmer verlassen.

„Nicht so – nicht so!“ rief er plötzlich ausbrechend, „Lebewohl dürfen wir uns sagen. Ich gehe. Wir sehen uns zum letztenmal.“

Da hob sie ihr Auge zu ihm mit innigem Blick. Es war ein unverhüllter Blick der Liebe.

Der Schreck ließ seine Seele in Schmerz und Wonne erbeben.

„Man hat mir gesagt,“ begann er stockend, „daß ich störend zwischen Ihnen und Alfred stehe. Mein Gewissen hat dieser Warnung recht geben müssen. Ich bin gekommen, um Alfred Lebewohl zu sagen und Sie zu bitten …“

Er hatte sie bitten wollen: „versuche Alfred zu lieben!“ Aber nein, nein – das sollte doch nicht von seinen Lippen.

„Um was zu bitten?“ fragte sie und sah ihn immer an, wie hilflos einem übermächtigen Zwang gehorchend.

„Zu bitten – an mich – nur – wie an einen Freund zu denken – denn ich …“

Er kam wieder nicht weiter. Ihre Augen schienen in seiner Seele zu lesen und zu erkennen, daß die Worte auf seinen Lippen lauter Lügen waren.

Sie schwiegen beide einige Sekunden. Er versuchte sich zu fassen. Sie schien ihm so liebens- wie hassenswürdig zugleich; das heiße Glücksgefühl in seinem Herzen bemühte er sich gewaltsam zu tödten und nur auf den Schrecken zu achten, der ihn erfaßte, weil das Weib seines Freundes sich so besinnungslos dem unerlaubten Gefühl hinzugeben schien.

„Eins möchte ich wissen,“ begann er leise, ohne sie anzusehen, „haben Sie mich damals, als wir uns zuerst begegneten, so gar nicht bemerkt? War an mich in Ihrer Seele keine Spur von Erinnerung zurückgeblieben? Waren in Ihrem Herzen, als Sie Alfreds Gattin wurden, auch nicht die blassen Schatten irgend eines flüchtigen Traumes von – von – einem andern?“

Germaine sah ihn ruhig und fest an.

„Nein,“ sagte sie klar. „Ich hatte Sie nicht mehr und nicht minder bemerkt als all die hundert gleichgültigen Menschen, die bei unserem Wanderleben an mir vorübergezogen sind. Ich bin von denen, deren Augen kein Gedächtniß haben, deren Seelen aber zu langsam sehen, um sich bei flüchtigen Begegnungen schon jemandes Bild einzuprägen.“

„Ich danke Ihnen,“ sprach er.

Sie neigte das Haupt, ging an ihm vorüber und hinaus. Er wußte nicht, ob sein Herz ihren Worten dies hinzusetzen durfte: „wenn meine Seele aber ein Bild aufgenommen hat, hält sie es fest für immer.“

„Nun, Marbod? So früh? Ist nicht Deine Bureaustunde …?“ fragte hinter ihm Alfreds Stimme.

„Es giebt Stunden, wo auch der pflichteifrigste Mensch einmal sich dagegen auflehnt, eine Arbeitsmaschine zu sein. Ich konnte heute nicht arbeiten und habe mich entschuldigt.“

Jeder von ihnen war so stark mit sich beschäftigt, daß ihm die erregten Züge des andern nicht auffielen.

„So – so,“ sagte Alfred, der kein Wort verstanden und gar nicht zugehört hatte; zerstreut fügte er hinzu: „Setze Dich doch! Bleibe bei uns, sei heut unser Gast!“

„Ich habe kein Recht mehr, mich an Deinen Tisch zu setzen, wenn ich nicht ein Unwürdiger sein will,“ sprach Marbod finster.

Alfred wurde aufmerksam und zugleich ward ihm sehr unbehaglich. Scenen und Erregungen mit großen, pathetischen Worten waren ihm entsetzlich.

Er hatte Marbod immer in einem vernünftigen Gleichmaß der Stimmung und des Gebahrens gekannt und dies vor allem an ihm geliebt.

„Ich bitte Dich,“ sagte er ganz niedergeschlagen, „fange Du doch nicht auch noch an, Dich mit aufregenden Phantasien zu beschäftigen.“

Es ging ihm, wie einem chronisch Kranken, der das Kranksein und die Klagen anderer nicht erträgt, weil die eigenen Leiden ihm das Wichtigste für alle zu sein scheinen.

„Es sind leider keine Phantasien,“ begann Marbod, des Freundes Hände ergreifend, „es ist eine traurige Wahrheit, die ich Dir beichte, indem ich mich Deinem Richterspruch übergebe. Für die Gefühle, die über uns kommen, sind wir nicht verantwortlich, wohl aber für die Folgen, die wir aus ihnen entstehen lassen. Ich liebe Germaine. Ich habe sie immer geliebt. Seit dieser Nacht aber weiß ich, daß meine Liebe von jener Art ist, die besitzen oder entsagen muß. In ruhiger Freundschaft neben ihr weiter leben – das kann ich nicht. Du begreifst, daß ich gekommen bin, um für immer Abschied von Euch zu nehmen.“

Alfred sah ihn mit einem Erstaunen an, das man hätte ein objektives nennen können.

„Ah,“ sagte er, „Germaine! So kann sie doch ein Herz erwärmen. Ich dachte, sie sei zu kühl, um zu empfinden, oder um Empfindung einzuflößen.“

„Manche Herzen gleichen kühlen und dunkeln Kellern; man muß tief hinabsteigen, um den feurigen Wein heraufzuholen.“

Alfred sah dem Freund herzlich in die männlichen, von tiefer Erregung zerstörten Züge.

„Hoffst Du auf ihre Gegenliebe?“ fragte er.

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