Seite:Die Gartenlaube (1889) 403.jpg

Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
Verschiedene: Die Gartenlaube (1889)

Eine Pfingstfahrt nach Rügen.

Von Helene Pichler.
(Zu dem Bilde S. 392 und 393.)

Wenn „Winterstürme wichen dem Wonnemond“, wenn „Pfingsten, das liebliche Fest“ vor der Thür steht, wenn der Frühling selbst in den großen Städten an die Fenster pocht, dann regt sich im Stadtmenschen die Sehnsucht nach der blauen Ferne. Je größer die Stadt, je enger und höher ihre Mauerwände, je eifriger und athemloser in ihnen die Jagd nach Erwerb und Vergnügen während des Winters, um so mächtiger drängt es den Bewohner fort, fort aus der bedrückenden Enge, ins Gebirge, an die See; nur fort!

In diesem Drang nach Luft und Licht offenbart sich ein unverwüstlicher Naturtrieb, welcher den Menschen zwingt, die während der Wintermonate in dumpfen Arbeitsstuben und schwülen Gesellschaften ertragene geist- und nervenerschöpfende Lebensweise mit der freien Sorglosigkeit und dem urfrischen Behagen an der einfachen Natur zu vertauschen. Lange bevor die eigentliche Reisezeit beginnt, äußert sich dieser Drang schon in den Extrafahrten, jenen kleinen Gesellschaftsreisen, die mittels besonders eingestellter Bahnzüge und Dampfschiffe ausgeführt werden und sich auf die mehr oder minder nahe gelegenen „nächsten“ Naturschönheiten erstrecken.

Bei allen Extrafahrten erscheinen die Großstädter in hellen Haufen, trotzdem jeder Betheiligte von vornherein weiß, daß das Vergnügen einer solchen Fahrt häufig, nein regelmäßig mit zahlreichen Bitternissen gemengt ist. Der Drang ins Freie ist aber so mächtig, daß die kleinen und großen Beschwerden der Fahrt freudig in Kauf genommen, wohl gar als Erhöhung des Lebensgenusses betrachtet werden.

In der Kunst, kleine Uebelstände als Würze des Daseins zu empfinden, hat es der Berliner zu wahrer Meisterschaft gebracht. Er ist überhaupt der „Extrafahrer par excellence“, bei dem unter allen Umständen der Humor oben bleibt. Sein beliebtestes Ziel bei solchen Fahrten ist Rügen, besonders an Pfingsten.

Nach Tausenden zählen die Theilnehmer, die sich auf dem Stettiner Bahnhof im Norden Berlins zusammenfinden. Schon hier bei der Abfahrt des Zugs, die gewöhnlich in der Nacht vom Pfingstsonnabend auf den Sonntag erfolgt, wird die Widerstandskraft auf eine harte Probe gestellt, denn der Platz, zu dem das vorsichtshalber schon Tags vorher gekaufte Billet berechtigt, ist nur in schwerem Kampf zu erreichen. Das drückt und quirlt durch einander, das ruft und schreit, schiebt und stößt. „Unjlaublich, wie ville Ellenbogen et uff die Welt jiebt,“ sagt der Berliner, wenn er sich endlich durchgerungen hat und nun mit vergnügtem Gesicht sich in ein bereits vollgepacktes Coupé zwängt. „Nu können wir losjondeln!“

Aber bei dem besten Willen aller Coupéinsassen ist der Raum doch zu knapp, jeden Augenblick kommen fremde Kniee, fremde Schultern und Ellenbogen mit einander in Berührung.

„Kommen Sie her, Jüngelchen, wir legen Ihnen über! Denn jeht et!“ Und unter dem Lachen der gesammten Gesellschaft wird ein schmächtiger Tertianer genöthigt, seinen Platz aufzugeben und sich wie ein etwas zu groß gerathenes Wickelkind über die Kniee der Sitzenden legen zu lassen. Das paßt ihm aber nicht recht, er zieht darum den Stehplatz am Fenster vor.

Der Zug geht ab. Eine schlaflose Nacht im heißen, staubigen Eisenbahnwagen wird mit bewunderungswürdigem Gleichmuth ertragen. Nach dreistündiger Rumpelei steigt man in Stettin aus, reckt die steifen Glieder, jagt in der Bahnhofrestauration eine Tasse Kaffee hinab und trottet dann durch die kühle Nachtluft dem Hafen zu. Trapp, trapp, trapp! Hunderte und aber Hunderte eiliger Füße besteigen den Dampfer. Uff, hier findet man Platz und kann zum ruhigen Genuß von „des Daseins Wonne“ gelangen. Ganz bedeutend hilft dazu ein nahrhaftes Frühstück, dem man um der ungewöhnlichen Stunde willen – es ist vier Uhr morgens – durch einen Cognak besonderen Nachdruck verleiht.

Der flaggengeschmückte Dampfer hat sich unterdessen in Bewegung gesetzt, die Häuser der Stadt gleiten vorüber, bleiben zurück. Der Fluß weitet sich, stolzer und mächtiger rollen die Wogen heran, die das Schiff durchschneidet, die grauen Morgennebel zerflattern, und in glorreicher Schöne steigt die strahlende Pfingstsonne empor.

„Nu is et janz mollig,“ meint der Berliner und beginnt, sich mit seinem Nachbar anzufreunden. Ist dieser liebe Nachbar gar eine schöne und junge Nachbarin – um so besser! Man bewundert gemeinschaftlich „die Natur“, frühstückt gemeinschaftlich zum zweiten Male und verabredet, während der ganzen Tour zusammenzuhalten. Auf hoher See wird dies Zusammenhalten durch die Schwankungen des Schiffs und deren Folgen etwas erschwert, denn jeder ist mir sich selber beschäftigt, dies oder jenes Gesicht überzieht sich mit einer bedenklichen Blässe und die schöne junge Nachbarin ist vielleicht gar für kurze Zeit ganz verschwunden.

„Das is im Leben häßlich einjericht’
Daß bei den Rosen jleich die Dornen stehn –“

recitirt der philosophirende Nachbar.

Zum Glück dauert der unbehagliche Zustand nicht lange, denn die weißen Kreideberge und grünen Wälder Rügens tauchen bald aus den Fluthen empor. Kleine Segelboote, jedes mit zwei stämmigen Fischern besetzt, kommen heran; der Dampfer stoppt und das Ausladen der Vergnügungszügler beginnt. Dabei kommt es vor, daß schwache oder zimperliche Jungfräulein ohne weiteres von derben Fischerarmen umfaßt und auf die Landungsbrücke gesetzt werden.

Sassenitz[1] ist erreicht.

Alles, was männlich ist unter der Gesellschaft, sieht sich vor allem nach einem Wirthshaus um.

Wirthshäuser giebt’s nun genug auf der schönen Insel; auch ist man in Sassenitz auf so starken Besuch wohl gerüstet; zahlreiche Kälber mußten ihr Leben lassen, die Backpflaumen wurden centnerweise geschmort und das „Echte“ in ungezählten Fässern herbeigeschafft. Nach wenigen Minuten fliegen die Kellner, daß es eine Art hat.

Nachdem des Magens Gelüste befriedigt sind, geht’s hinein in die grünen Wogen der Stubnitz, jenes herrlichen Buchenwaldes, der sich von Sassenitz aus meilenweit am Meeresufer entlang zieht.

An den Ufern des geheimnißvollen Herthasees verweilen einige sentinentale Gemüther der Gesellschaft und überlassen sich einem angenehmen Gruseln. Die heiteren Gemüther dagegen finden mehr Gefallen an den zahlreichen Hünengräbern, die in dem grünen Waldesdom verstreut umher liegen. „Mumpitz, allens Mumpitz! Die sind alle schon ausjebuddelt,“ meint ein junger Skeptiker. Man lacht und richtet die Blicke wieder von den bemoosten Zeugen einer tausendjährigen Vergangenheit auf die fröhliche Gegenwart.

Da blinkt das Meer durch die grünen Büsche; nach der andern Seite hin herrscht tiefes dunkles Waldesschweigen. Singend und jauchzend geht es weiter durch die schöne Welt.

Die „große Stubbenkammer“ ist erreicht. Ein „verflossener“ Professor nimmt die Gelegenheit wahr, um einigen Freunden die Entstehung dieser wunderbaren gigantischen Kreidefelsen zu erklären. Im Nu ist er von Wißbegierigen in dichtem Kreise umdrängt. Das gefällt ihm natürlich, er erweitert seine Erklärung zu einem kleinen geologischen Vortrag. Wie die Geschichte aber zu lange dauert, ruft eine helle Stimme: „Männe, nu halten Sie dicht! Bildung haben wir in Berlin jenug.“ Sofort löst sich der Kreis unter Lachen und Scherzen; man will ja nicht lernen, man will nur leben!

Vorwärts! Es wird weitergewandert, gruppen- oder paarweise, vielleicht auch allein. Es kann auch geschehen, daß irgend ein Pärchen hinter schützendem Gebüsch verborgen etwas zu lange die schöne Aussicht bewundert, dann gehen die Alten sicher mit abgewendetem Gesichte sachte vorüber, denn „die Kinnerkens könnten sich ja ’was Wichtiges mitzutheilen haben.“

Wieder ist eine Station des Vergnügungsprogramms erreicht, Arkona. Der Kathedermann a. D. fühlt seine Begeisterung wieder wachsen, er beginnt aufs neue zu dociren. „Arkona kommt her von ‚urkan‘, das ist slavisch und heißt ‚am Ende‘; slavische und wendische Völkerstämme bewohnten nämlich die Insel zur Zeit, als Tacitus –“

„Jotte doch! nu kommt der mit Tacitussen, wo die Welt ringsum doch so schön is,“ meint einer von der Gesellschaft, „Kinnerkens, nu singt ’mal lieber eens!“

Und es wird „eens“ gesungen. Hoch oben von der Klippe, die gen Norden schaut, an deren Fuß das weite blaue Meer brandet, die im Purpurschein der sinkenden Sonne rosig erstrahlt, schallt ein deutsches Lied weit in die klare stille Luft hinaus.

Singen ist sehr schön, aber es macht durstig; zum Glück ist der Leuchtthurm nicht fern – eben flammt ein mächtiges Licht auf, das auf 21 Seemeilen in der Runde über das nächtliche Meer leuchtet. Der Thurm ist zugleich Gasthaus, daher ist die Bemerkung ganz gerechtfertigt: „Wir haben Glück, wo et schön is, is immer ’n Wirthshaus dichte bei.“

Nicht ganz so günstig läuft der am folgenden Tage unternommene Ausflug nach Mönkgut (richtiger als Mönchgut) ab. Die Extrafahrer haben mit dem Besuch der Stubnitz, der beiden Stubbenkammern und des Vorgebirges Arkona das Wirkungsvollste vorweg genossen, und so macht die schmale, langgestreckte, vielfach zerrissene Landzunge Mönkgut, die mit dem Kern der Insel nur schwach zusammenhängt keinen tiefen Eindruck, obwohl der Herr Professor der Ansicht ist, daß gerade dieser Theil der ethnographisch interessanteste der ganzen Insel sei. Die drallen Mönkguterinnen in ihrem Festtagsstaat genügen nicht zur Unterhaltung eines ganzen Tages; außerdem wird gefunden, daß „et in Mönkgut verdammt schlechte Verpflegung jiebt,“ und dann sinkt das Stimmungsbarometer auf eine bedenkliche Tiefe herunter.

Plötzlich zucken Blitze und krachen die Donner, ein heftiger Platzregen ergießt sich über die abgespannte Gesellschaft. Ha, das erfrischt, das bringt „Abwechselung in die ewige Sonne“.

Nun kann man auch mit Anstand zurückverlangen nach Sassenitz, wo gewiß der Dampfer schon zur Rückfahrt geheizt hat. Vorwärts, wer nicht rechtzeitig an Bord ist, muß zurückbleiben.

Nach Sonnenuntergang lichtet der Dampfer die Anker. Vom Land aus werden den Absegelnden feurige Abschiedsgrüße in Gestalt von Raketen und zischenden Schwärmern nachgeschickt. Verlorene Liebesmühe! Die Extrafahrer sitzen ganz still auf ihrem Schiffe; der schwache Versuch, ein Lied anzustimmen, scheitert gänzlich. Sogar der aufgehende Mond, der sein mildes Silberlicht über das Meer ausgießt, vermag die um sich greifende Lethargie nicht abzuhalten; die Extrazügler lassen die Köpfe hängen, es ist zu Ende mit ihrer Genußfähigkeit.

Bei der Ankunft in Stettin wie bei der Abfahrt des Bahnzugs nach Berlin scheinen sogar alle Bande zarter Scheu gelöst, man erstürmt die Coupés und freut sich des eroberten Platzes ohne Rücksicht auf den Nebenmenschen. Man hat nur ein Bedürfniß: Ruhe! Schlaf! Schlaf! und noch einmal Schlaf! Nur die „Kinnerkens“ scheint die Wichtigkeit ihrer Mittheilung, mit der sie immer noch nicht ganz am Ende sind, über dieses gemeine irdische Bedürfniß hinauszuheben.

Es ist noch nicht genau festgestellt worden, wie viel Schlaf ein Berliner Extrafahrer braucht, um sich von einer Extrafahrt nach Rügen zu erholen. Wohl aber ist festgestellt, daß er bei der Ankunft in Berlin schimpft wie ein Rohrspatz: „Eenmal un nicht wieder!“ daß er aber bei der nächsten Pfingstfahrt schon acht Tage vorher sich eines Billets versichert.




  1. Sassenitz, nicht Saßnitz, wie fälschlich gesprochen und geschrieben wird.
Empfohlene Zitierweise:
Verschiedene: Die Gartenlaube (1889). Leipzig: Ernst Keil, 1889, Seite 403. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1889)_403.jpg&oldid=- (Version vom 15.9.2022)