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Verschiedene: Die Gartenlaube (1889)

„Hier,“ sagte Germaine endlich flüsternd, „hier der Brief, von dem Mama für Dich ein Stück abgeschnitten. Hast Du es? Wir wollen es daran halten.“

Alfred tastete an seiner Brust herum. Er konnte vor Erregung die Brieftasche nicht finden und, als er sie endlich hatte, darin nicht das vergilbte Brieffragment.

Germaine zog es zwischen anderen Papieren hervor. Sie legte es anpassend auf die Tischplatte zu dem entfalteten Brief.

„Wenn Du, meine theure Freundin, eines Tages eines männlichen Rathes bedürfen solltest, wende Dich an meinen Sohn. Er wird Dir und Deiner Tochter beistehen, wenn Du ihn in meinem Namen um etwas bittest. Sage ihm dann, daß ich Dich geliebt habe, aber daß unüberwindliche Hindernisse zwischen uns standen, aber sage ihm nicht,“ ……… .

So brach das Brieffragment ab, und so fuhr der Text fort, den vier brennende, starre Augen lasen und wieder lasen:

„sage ihm nicht, daß Germaine nur auf ihrem Taufschein und in den amtlichen Registern die Tochter von Heinrich Thomas ist, daß sie vor Gott mein Kind, das Kind unserer thränenvollen Liebe ist. Wenn die Stimme des Blutes sich nicht von selbst regt, wenn nicht brüderliche Neigung und schönes Vertrauen ihn von selbst erfaßt, wird es auch nicht erwachen, wenn er die Wahrheit erfährt.“

Ja, diese Stimme hatte sich wunderbar geregt und in herzlicher Geneigtheit waren ihre Seelen einander nahe gekommen. Das also war der Friedenszauber gewesen, den er in ihrer Nähe empfunden!

Seine Schwester!

Sie sahen sich an, mit großen staunenden Augen. Und das Entsetzen, das sie erst gelähmt hatte, wandelte sich plötzlich in heftige Erschütterung.

Sie fielen sich in die Arme und klammerten sich aneinander an, als nahte ihnen etwas, was sie wie eine Woge in unbekannte Tiefen ziehen wollte.

„Das also war’s, was uns zu einander zog!“ rief Alfred und sah sie wieder und wieder an, und was ihn einst so verwunderlich bekannt angemuthet – jetzt begriff er es: die Züge, die in seiner Familie erblich waren, hatten sich vereinzelt auch auf ihrem Angesichte gezeigt.

Und dann besannen sie sich, daß eine Form, eine gesetzliche Form sie vorhin zu Gatten gemacht hatte. Eine leere Form, die aber doch in dieser Stunde als ungeheuerliche Verkettung des Geschickes erscheinen mußte.

„Was nun?“ stammelte Germaine.

Alfred ging mit schweren Schritten hin und her. Sie sah ihm bangend zu.

„Wenn wir die heute vormittag geschlossene Verbindung sofort wieder lösen wollen, so kann es nur geschehen, wenn wir dem Gerichte diese Briefe aushändigen, also zwei theure Todte in ihrer Grabesruhe stören. Und dann ergiebt sich als weitere Folge, daß Du vor der Welt in die peinlichste Lage kommst, oder wir müssen auch vor der Welt den Roman unserer Eltern enthüllen. Mein Gott, wie ist das alles entsetzlich! Nein – niemals! Laß uns doch versuchen, kaltblütig nachzudenken. Was hat sich denn verändert? Was wollten wir denn voneinander? Was habe ich noch im Wagen vorhin Dir gesagt? Geschwisterlich wollten wir beisammen leben, Hand in Hand, nicht Herz am Herzen. Und das soll sich uns nun erfüllen in ganz anderer Weise noch, als wir gedacht.“

Er stieß das alles in höchster Erregung heraus. Das Ungeheuerliche in ihrer Lage, die Anforderungen, welche diese an seine Entschließungskraft stellte, wirkte beinahe betäubend auf ihn.

„Können wir,“ fuhr er fort, „können wir zum Beispiel nachher den Leuten am Bahnhof sagen: diese standesamtliche Verbindung war ein kleiner Irrthum, den wir morgen wieder rückgängig machen werden – denselben Leuten, die uns vor vier Stunden auf eben dieses Standesamt begleitet haben? Begreife es, Germaine, heute und in der nächsten Zeit müssen wir die Lüge weitertragen, die wir heute ahnungslos begannen. Und wenn wir eine Weile scheinbar verheirathet waren, dann können wir dies Band lösen, ohne das Geheimniß unserer Eltern preiszugeben. Ich weiß, da giebt es Gründe: gegenseitige unüberwindliche Abneigung, oder die eidliche Versicherung, daß die Ehe nie in Wirklichkeit bestand, sondern nur in der Form vor dem Gesetz. Es wird und muß sich dann etwas finden. Wir werden den rettenden Ausweg entdecken. Begreifst Du das, Germaine? Können wir uns auf die Gasse hinauswerfen und es allen vier Winden zuschreien, welch ein unglaubliches Spiel das Schicksal mit uns sich erlaubte? Können wir das? Tausendmal nein! Sage doch ein Wort! Sieh mich nicht so entgeistert an! Komm – jetzt hast Du ein Recht – komm an diese Brust! Weine, wenn Du kannst!“

Er breitete die Arme aus und Germaine warf sich hinein.

„Ich will nicht weinen“ sagte sie mit zitternder Stimme; „was ist denn geschehen? Es sieht nur so fürchterlich aus – morgen werden wir gefaßter darüber nachdenken. Zwischen uns hat sich gar nichts verändert – wir wollen uns fassen. Ja, es muß sich eine Form finden, den Vorgang von heute morgen ungeschehen zu machen.“

Alfred streichelte ihr sanft die Haare.

„Wie das wohlthut, Dich immer feststehen zu sehen, wenn auch der Boden unter Dir wankt!“ sagte er aufathmend.

Sie sah ihn durchdringend an.

„Und begreifst Du das Eine, Wunderbare nicht?“ fragte sie leise. „Du wolltest ein unübersteigliches Hinderniß stellen zwischen Dich und jene Frau, um die Du leidest. Da kam die wunderlichste, seltsamste Schickung, und es ist, als hätte sich dräuend ein Engel vor Dir aufgerichtet, der mit flammendem Schwert Dich zurückweist auf den rechten Weg.“

Alfred trat zurück.

„Schweige!“ sprach er hart, „von niemand, selbst von Dir nicht, will ich an sie gemahnt werden. – Und nun eile Dich! Wenn wir überhaupt noch zum Zuge kommen wollen, wird es die letzte Minute sein.“

Die unfreundliche Zurückweisung kränkte Germaine nicht. Gerade in dieser Stunde, wo jede andere zusammengebrochen wäre, richtete sie das Haupt muthig, fast freudig empor. Zum erstenmal in ihrem Leben zog etwas in ihre Seele ein von Hoffnung auf Freude und Glück. Sie war frei, sie konnte es auch vor der Welt jeden Augenblick wieder sein, und doch lebte ihr ein treuer liebevoller Beschützer, dem sie thätig ihren Dank abtragen durfte.

„Ich bin fertig,“ sagte sie, „so komm denn und laß uns klar allem entgegensehen, was an uns herantritt! Naht einem von uns das Glück, so soll das andere es ihm festhalten helfen, naht einem von uns das Unglück, so bekämpfen wir es vereint. Die Natur hat gewollt, daß wir zusammenstehen.“

Sie reichte ihm die Hand und beschämt erwiderte er ihren festen Druck.




11.

Unter vielen Schwierigkeiten hatte Marbod Steinweber sich in seinem neuen Wirkungskreis, in seinem neuen Aufenthaltsort zurechtgefunden. Er war ein Mensch, der sich langsam anschloß, schwer offenbarte, erst nach vielen Ueberlegungen handelte und die Tiefe und Stärke seiner Empfindungen nicht mit Absicht, aber aus angeborener Zurückhaltung verbarg. Er brauchte deshalb zwischen sich und der Welt ein Vermittelndes. Alfred wäre ihm das hier geworden, wie er es ihm auch schon früher gewesen war. Die unruhige Lebhaftigkeit des Freundes zwang Marbod, zu sprechen, wo er sonst geschwiegen hätte; von seinen zahllosen Bekannten drang der eine oder andere auch in Marbods Leben und verhinderte ihn, etwas einsiedlerischen Neigungen zu folgen. Durch Alfreds liebenswürdige Gabe, andere aus sich selbst herauszulocken, lernte Marbod manchen schneller kennen und besser würdigen, an dem er allein achtlos vorübergegangen wäre.

So fehlte der Freund Marbod jetzt überall. Während die Ravenswanns noch in Berlin weilten, war es ihm eine Art Wohlthat gewesen, dort wenigstens von Alfred sprechen zu hören, denn eine ganz seltene Anhänglichkeit, eine wahrhafte Freundschaft band ihn an diesen von ihm selbst so verschiedenen Mann.

Zwar verkehrte er viel und nicht ungern mit Doktor Moritz Bendel, sah auch dann und wann Männer aus litterarischen und politischen Kreisen, die Bendel ihm vorgestellt hatte, aber Alfred vermißte er so sehr, daß er sich selbst einer kindischen Schwäche zieh.

Vielleicht waren seine Gedanken auch so stark mit dem Freunde beschäftigt, seit er jene Briefe bekommen hatte, die ihm von dem jähen Ende des heißerkämpften Glückes meldeten. Immer wieder dachte er diesen Konflikt durch, mit dem warm theilnehmenden

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1889). Leipzig: Ernst Keil, 1889, Seite 390. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1889)_390.jpg&oldid=- (Version vom 3.10.2022)