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Verschiedene: Die Gartenlaube (1889)

War da nicht ein Wagen gefahren, in welchem eine blasse Frau und ein zarter Knabe saßen?

Die Entfernung war zu weit, genau erkennen konnte man niemand.

Alfred starrte dem Wagen nach, der in der Richtung nach Lichtenthal fuhr.

„Adieu!“ sagte er, „adieu!“

Er ging mit hastigen Schritten davon, und doch blieb er draußen auf der Straße stehen, es war ihm plötzlich bleischwer in die Füße gefallen. Wenn er nun um die Ecke bog, über die Brücke in die Allee ging – und der Wagen, in dem „sie“ saß, kehrte gerade zurück? Fast tappend ging er weiter, nicht das schattige Jenseitufer suchend, sondern auf der sonnigen, staubigen Straße vorwärts strebend.

Wenn ein Wagen hinter ihm rollte und ihn einholte, schrak er zusammen und hatte das Gefühl, sich an der Mauer neben sich halten zu müssen. Auf seiner Stirn perlten Schweißtropfen.

Allmählich beflügelte sich sein Schritt und ward fast zum Lauf. Nur heim, nur in die Sicherheit seiner vier Wände – nur der Möglichkeit entrinnen, ihr zu begegnen!

Sein Herz schlug in so beschleunigtem Takt, daß noch Stunden vergingen, ehe er sich faßte. Jede Bestrebung, durch Arbeit oder Lesen sich zu betäuben, war umsonst. Immer wieder sah er plötzlich den fernrollenden Wagen vor sich und das Phantom zweier blassen Gesichter, und immer begann der kaum geebnete Herzschlag von neuem rasend zu jagen. Die Enge des Zimmers bedrückte ihn.

Er suchte die Straße, die er vorhin geflohen hatte. Die unreine Luft des Sommertages zwischen Stadtmauern drückte ihn unerträglich. Er nahm einen Wagen und ließ sich zur Schloßruine hinauffahren.

Die lange Abenddämmerung hatte schon begonnen. Er liebte die satte Ruhe, die mit dem langsam hinsterbenden Tageslicht sich über die sommermüde Natur breitet. Er empfand dann mit vorahnender Wehmuth, daß nach all den gluthvollen Empfindungen des Lebenssommers auch für den Menschen eine Stunde kommen mag, wo der Abendfriede in die Seele einzieht.

Unter den Schatten des Waldes wandelte sich die Dämmerung fast schon in Nacht. Nur wenn die in großen Schlangenwindungen sich den Berg hinaufziehende Fahrstraße Stellen durchschnitt, wo der niedere Waldbestand abgeholzt war, sah man vereinzelte Riesentannen sich haarscharf und schwarz von dem lichtgrauen Himmel abheben.

Oben, in der Restauration, die sich an und zwischen die gigantischen Burgtrümmer geklemmt hat, war viel und lustige Gesellschaft. Man erwartete Mondschein, und die vergnügten Menschen brachten ihre Zeit bis dahin mit Essen und Trinken zu.

Auch Alfred versuchte zu Abend zu speisen, aber die laute Nachbarschaft an den Tischen rechts und links verdarb ihm den Appetit. Uebermuth, an dem man selbst nicht theilnimmt, erscheint einem abgeschmackt und kindisch.

Es war nun völlig dunkel geworden. Alfred zahlte seine Zeche und ging in die Schloßruine hinauf. Die dunklen, schmalen Treppen, die da zwischen rothgrauen Mauerkolossen von Stockwerk zu Stockwerk, von Galerie zu Galerie steil emporführen, waren ihm wohlbekannt. Er tastete sich vorwärts und aufwärts. Da und dort sah der besternte Abendhimmel durch die leeren Fensterbogen und gab ein unsicheres Licht.

Endlich war er auf der obersten Galerie. Die Bäume aus dem Burghof und dem einstigen Festsaal ragten mit dunkeln Wipfeln aus der inneren Tiefe kaum bis hierher. Ein wild ausgezackter Mauerrand, der an einigen Stellen noch so hoch war, daß die Fensterbogen in ihm unverfallen ihre edlen Linien zeigten, umschrankte schützend die Höhe.

Alfred lehnte sich an den Rand und sah in die sich erhellende Nacht hinaus. Seitwärts von ihm ragte massig der andere Theil der Ruine, welchen der viereckige Wachtthurm krönte, von dem tags die roth-gelbe Fahne wehte, die Fahne, an welcher der süße geliebte Knabe sich erfreut. O, daß ihn alles, alles daran mahnen mußte!

Tief im Thal, in das man über die sich niedersenkenden Waldesbreiten hinweg sah, blinkten die Lichter von Baden auf. Ein weißlicher Dunst lag da unten und nahm jetzt gespenstischen Silberglanz an. Der Mond war hinter der Wolkenbank am Horizont emporgekommen. Sein blinkendes Halbrund schien blitzschnell am Himmel hinzufliegen, weil unter ihm silberweiß umsäumtes Gewölk vor dem Winde jagte. Schwarz und groß erhoben sich die zerrissenen Mauertrümmer vor dem Glanz, der in ungebrochener Fülle durch die hohlen Fenster kam und schneebleich auf dem Estrich lag. Ein summender klagender Ton schwoll zuweilen an und verklang. Die Aeolsharfen erzitterten im Winde.

Die schöne Größe dieser Nachtstunde überwältigte den einsamen Mann. Er legte sein Gesicht in die Hand. Ihm war, als müsse er weinen und mit den Thränen die Todeskälte erweichen, die ihm im bangen Herzen saß.

Wenn er hier in diesem schönheitsgesegneten Augenblick mit ihr stände! Wie würden sie es zusammen genießen! Ob sie wußte, wie er litt?

Sein Auge suchte die ihm wohlbekannte Stelle, wo sein Haus, jetzt das ihre, sich an den Waldessaum lehnte. Da – gerade gegenüber – da war’s – jenes Licht, das ruhevoll von der jenseitigen Bergeswand blinkte – es brannte auf der Veranda und leuchtete ihr in das bleiche, geliebte, gehaßte Gesicht.

Sein Herz schlug wieder bis zur Unerträglichkeit.

Plötzlich dachte er an Germaine und wie auch sie allein beim Lichtschein saß. Wer wußte, ob nicht gerade in diesem Augenblick beide Frauen seiner dachten? Er wurde ganz ruhig, die Sorgegedanken, was aus dem Mädchen werden sollte, beschäftigten ihn ablenkend. Er wußte, daß es vielleicht unmöglich sei, eine für sie passende Stellung zu finden, da es ihr an einer bestimmten Berufskenntniß fehlte. Und da sie auf einen glücklichen Zufall nicht warten wollte, was sollte werden?

Das Licht drüben zog ihn wieder an. Ja, wenn er nicht für ewig und in unauslöschlichem Zorn von Gerda geschieden wäre – bei ihr hätte Germaine Pflichten und eine Heimath finden können.

Germaine war so recht geschaffen, wie ein Geist des Friedens in einem Hause zu walten. Sanft, freundlich, immer gleichmäßig – ihr ganzes Wesen eine Wohlthat. Am besten wäre es für ihn und sie, wenn sie zusammenbleiben könnten. Aber das ging nicht, außer sie wurden Mann und Weib. –

Das Licht da drüben – dies unerträgliche Licht! – Er wandte sich ab und ging zurück, um in das Waldthal hinter der Burg hinabzusehen.

Und warum nicht heirathen, wenn Germaine mit herzlichem Vertrauen und brüderlicher Gesinnung zufrieden war? Die Frage stand ihm frei. Wie alles zwischen ihnen lag, konnte ihr „Nein“ ihre Freundschaft nicht stören und sie somit nichts verlieren.

Eins fühlte er ganz klar – es mußte ein Ende gemacht werden.

Wieder zog es ihn gewaltsam, nach jener Stelle zu gehen, wo er das Licht sehen konnte. Lange starrte er hinüber.

„Einen Abgrund muß ich schaffen zwischen Dir und mir,“ dachte er, „über den keine Sehnsucht und keine Reue den Weg mehr findet.“

Stimmen und Gelächter schollen jetzt störend in seine mondscheinumflossene Einsamkeit. Er verließ schnell die Galerie und stieg abwärts, den Heimweg antretend.

Wie zwischen schwarzen Mauern ging der Fußweg durch den Wald bergab. Durch die ragenden Wipfel fanden silberne Strahlenbündel oft unterbrochene Wege, den Pfad und das Buschwerk mit Lichtflecken ungleich zu besäen.

Die nächtige Waldesruhe wirkte wundervoll auf den stillen Wanderer. Ihm schien es jetzt, als sei der Entschluß, Germaine zu seinem Weibe zu machen, nicht auch dem aufquellenden Zorn und Trotz, als sei er einzig dem tiefen Friedebedürfniß seines Herzens entsprungen. In diesem Entschluß fühlte er sich gesunden, fühlte er sich männlicher. Ihm war Ziel und Zweck in das Leben gekommen. Und seit damals – seit er von ihr geschieden, war seine Seele heimathlos in der Irre gegangen.




8.

Die sechssitzige Break, in welcher man die Tour nach Gernsbach machen wollte, stand schon über zwanzig Minuten wartend vor dem Hotel. Alfred war in das Haus gegangen und Germaine wanderte langsamen Schrittes auf dem Bürgersteig vor dem Hotel hin und her, ihre alte Dienerin neben sich, die mit ihrem weißen Haar und sauberen Anzug einen würdigen Eindruck machte. Die Alte trug den Mantel ihres Fräuleins, sie war so vergnügt, als sollte sie selber eine Lustfahrt machen.

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1889). Leipzig: Ernst Keil, 1889, Seite 342. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1889)_342.jpg&oldid=- (Version vom 29.12.2019)