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Verschiedene: Die Gartenlaube (1889)

rasender Eile dem Lago Maggiore entgegensauste, ein ganz anderer Mensch geworden, ganz der alte stramme Soldat, der aufmerksame Kavalier. „Das macht die Luftveränderung, Kindchen,“ sagte er ernsthaft, als sie ihn mit erstaunten Augen ansah.

Nun waren sie bis Weihnachten in Neapel gewesen und hatten das Fest selber auf Capri gefeiert, in Paganos gemüthlichem palmenumrauschten Gasthause; sie waren an Neujahr nach Pompeji gegangen und hatten mit seltsamen Gefühlen zurückgedacht an das, was der letzte Jahresabschnitt für sie bedeute. Dreihundertfünfundsechzig Tage – was bedeuteten die gegenüber diesen Jahrtausende alten Trümmern, und doch, was hatten sie gebracht an Leid und Weh!

Sie hatten auf den Stufen des Forums gesessen und ein Telegramm verfaßt an Mutter und Tante und es auf der Station Pompeji befördern lassen. „Ein Wunsch für die Gegenwart, kommend aus uralter Vergangenheit!“ – Ein seltsamer Gedanke und doch so beruhigend. „Es fliegt die Zeit, wir mit ihr, und mit uns all unser winzig Freud und Leid, das uns in unserem verblendeten Größenwahn so wichtig dünkt!“ So sagte Lore zu sich, während der alte Herr schmunzelnd meinte. „Was wohl so ein alter Römer, der hier auf Sommerfrische saß, für Augen gemacht haben würde zu Eisenbahn und Telegraph!“

Sie waren dann nach Rom zurückgekehrt gegen Ende des Januars, von Formen- und Farbenschönheit gesättigt, von einer wunderbaren Natur überwältigt und gehoben, um nun ihr stilles, fleißiges Leben wieder aufzunehmen, in dem alten und doch ewig jungen Rom, dessen Reiz niemand auszukosten vermag.

Dort unten im Höfchen rauschte wieder der silberne Wasserstrahl aus dem antiken Löwenmaul; die Gemma sah just noch ebenso wenig appetitlich aus, und der Teppich und die Gardinen hatten vielleicht ein paar Löcherchen mehr. Sonst war alles beim alten. Und nach dem Frühstück ging die Eccellenza mit der schönen Signora nach wie vor spazieren, bewaffnet mit Plänen und Reisehandbüchern, und gegen Dunkelwerden kamen sie zurück, nahmen ihr Pranzo und saßen am Kaminfeuer, an dem sich die Signora die Füßchen wärmte, nachdem sie dem alten Herrn sorglich die Decke über die Kniee gebreitet hatte; denn eine römische Stube, gar ein Salotto, ist im Februar kalt, selbst wenn ein Teppich die Steinfliesen bedeckt.

Heute rüsteten sie sich für den Besuch einiger Kirchen; Lore wollte die Raphaelschen Sibyllen in Santa Maria della Pace sehen.

Es war heller Sonnenglanz in den Straßen und blauer Himmel drüber, und so milde frühlingsgleiche Luft.

Auf der Piazza Navona plätscherten die Brunnen. Der General und Lore gingen zwischen spielenden Kindern und müßigen Spaziergängern hindurch und bogen in die enge dunkle Gasse ein, die zu der Kirche führt. Das Portal war geschlossen, und ein diensteifriger, aber erbärmlich krüppeliger Knabe führte sie um die „Chiesa“ herum in einen niedrigen Kreuzgang und begann dort wie wahnsinnig an einer Seitenpforte zu hämmern. Endlich ward aufgethan; der kleine Krüppel erhielt sein Trinkgeld und Lore trat mit dem Onkel über die Schwelle der Kirche, in der durch die Glasmalereien der Fenster eine magische Dämmerung herrschte. Ein leiser Duft von Weihrauch erfüllte den feierlichen Raum und zerfloß oben unter der achteckigen Kuppel in kleinen Wölkchen.

Völlig leer war dies mit alten Bildern und kunftvollen Holzschnitzereien ausgestattete Gotteshaus, nur ein Herr stand vor der Seitenkapelle und sah empor zu den Gemälden.

Schweigend winkte der Sagrestano der jungen Frau herüber, wo der Fremde stand. „Ecco,“ sagte er dann und wies hinauf zu den Sibyllen

Sie stand da mit der stillen Andacht, die ihr schönes Gesicht immer zeigte, wenn sie sich in einem Gotteshause befand; und jetzt war dieser Ausdruck noch erhöht durch die Bewunderung des Werkes eines gottbegnadeten Künstlers.

Dicht neben den Herrn war sie getreten, so dicht, daß ihre Schulter fast seinen grauen Touristenanzug berührte, aber sie merkte es nicht, so fest hingen ihre Augen an den schönen Frauengestalten da oben. Sie wandte nicht einmal den Blick nach ihm, als er jetzt hastig einen Schritt von ihr zurücktrat.

„Lore!“ klang es in ihr Ohr, zweifelnd, fragend; da schaute sie sich hastig um nach ihm, und ihre Hand griff nach dem Betschemel, der ihr zunächst stand, als suche sie einen Halt. Aber sie war keines Wortes mächtig.

Wohl wußte sie durch ihre Mutter, daß Ernst seiner Gesundheit wegen im Süden sei, aber man hatte ihr von Nizza und Mentone geschrieben. Nun war er in Rom, nun standen sie hier, von denselben Mauern umschlossen, in der feierlichen Stille der kleinen Kirche, allein, ganz allein.

Der General war mit dem Küster in einer Seitenkapelle nahe dem Altar verschwunden.

Verwundert lugten die Engelsköpfe Raphaels herunter; sie mochten schon manches junge Paar hier nebeneinander gesehen haben, denn in Santa Maria dell Pace hörten alle jungen Eheleute Roms die erste Messe nach der Vermählung. So ein Paar wunderlicher blasser Menschenkinder war ihnen aber sicher noch nicht vorgekommen!

Lore hatte sich zuerst gefaßt und hielt ihm die Hand hin. „Ich sah Sie noch nicht nach dem Tode meiner Schwester,“ sagte sie, ohne ihn anzuschauen, „nehmen Sie die Versicherung, daß ich herzlich mit Ihnen trauere um den Verlust Ihrer Braut.“

Sie athmete auf. Sie hatte ihn mit wenigen Worten auf den einzigen Weg gelenkt, den sie miteinander gehen durften.

Sie fühlte flüchtig ihre Hand gedrückt und hörte, wie er sprach: „Ich danke Ihnen, Lo –, gnädige Frau.“

So blaß sie vorhin war, so purpurn erglühte sie jetzt. „Onkel,“ rief sie, sich umwendend, und als der alte Herr seine Schritte zu ihr herüber lenkte, fügte sie, auf Ernst deutend, hinzu. „Der Bräutigam unserer armen Käthe.“

Die Herren schüttelten sich die Hände. Der General murmelte irgend etwas zwischen den Zähnen, das wie eine Beileidsphrase klang. Und dabei betrachtete er verwundert den auffallend hübschen Mann, dessen feines, noch die Spuren der Krankheit tragendes Gesicht mit den intelligenten Augen ihn fast betroffen machte.

Lore ging indessen von Bild zu Bild, aber sie sah nichts. In ihr tobte ein förmlicher Sturm.

Sie stand auf den Stufen des Hochaltars und hörte eine lange Rede des Küsters, der das alte Madonnabild pries; aber sie begriff nichts. Sie lauschte nur immer auf jene Stimme, die in ihr Ohr scholl, von dort unten her, die sie nie mehr zu hören gehofft hatte.

Eifrig sprechend schritten die Herren dem Ausgang zu. Erst in der geöffneten Thür schaute sich der alte Herr nach Lore um. Sie kam nun auch eilig daher und ging ihnen voran durch die engen Straßen; langsam folgten die beiden. Der Doktor ohne ein Auge zu verwenden von dieser vornehmen schlanken Frauengestalt, als könne er nicht genug schauen, als müsse er nachholen, was er versäumt hatte.

Es war ihr, als fühle sie diesen Blick, und sie spannte den Schirm auf und legte ihn über die Schulter, obgleich ihr die Sonne ins Gesicht schien.

Sie stand endlich still vor dem Palazzo Madama. „Ich bin sehr müde, Onkel,“ sagte sie.

„Ei, da fahre nach Hause; ich bummle noch,“ erwiderte der alte Herr, besorgt ihr blasses Gesicht betrachtend. „Hab’ ja Gesellschaft; leg Dich, ruh’ Dich aus!“ Und er rief nach einem Wagen.

„Ja! Adieu!“ Sie grüßte freundlich ernst durch ein Neigen des Kopfes, dann rollte das Gefährt mit ihr von dannen.

Sie legte sich daheim gehorsam auf ihr Bett und schloß die Augen, die ihr merkwürdig brannten. Sie sehnte sich so nach Ruhe, aber ihr Herz klopfte und hämmerte entsetzlich. Hätte sie ihn doch nie wiedergesehen!

„Wenn ihn nur der Onkel nicht zum Essen mitbringt,“ dachte sie, „ich kann es nicht ertragen!“ Und dann wünschte sie es wieder.

Nein, der alte Herr kam allein. Indeß für den folgenden Tag hatten sie sich verabredet, das Museo Lateranense zu sehen.

Aber Lore wollte am andern Morgen nicht mit. Was war ihr nur? – sie hatte doch sonst nie Launen gehabt! Der General ging brummend allein. Er hatte verabredet, sich mit Schönberg in einem Restaurant auf dem Korso zu treffen; dahin lenkte er seine Schritte.

Lore setzte sich an die geöffnete Thür des Balkons, denn draußen schien die Sonne und erfüllte den kleinen Hof mit köstlicher Wärme. Sie hatte irgend eine Handarbeit ergriffen, und während sie Masche an Masche schlang, dachte sie nach über ihr Schicksal und über das ihres Hauses, um wieder dahin zu kommen, wo sie immer anlangte, daß ja doch alles Glück für sie dahin sei;

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