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Verschiedene: Die Gartenlaube (1889)

„Ich habe heute viel an ein anderes Weib gedacht. An diese Germaine. Aber ganz anders, als ich sonst an Frauen denke. Du weißt, ich kann keiner begegnen, ohne daß meine Phantasie sich in irgend einen Zusammenhang mit ihr setzt. Meist denke ich, wie würde diese Frau in der Liebe sein? würde sie mich lieben können, mich zu beglücken vermögen? wäre ich unter gegebenen Umständen fähig, für sie zu empfinden? Ja, Du weißt, es ist ein geistiger Donjuanismus in mir. Kein solcher Gedanke erwachte in mir in Bezug auf Germaine. Und doch beschäftigt sie mich stark. Es ist, als hätte ich sie lange gekannt, sie erscheint mir vertraut, und ich denke mit einem ruhigen und beruhigenden Wohlgefallen an sie. Denke Dir, ich kann mir ganz gut vorstellen, daß sie immer mit uns lebte, und hätte nicht im mindesten die Furcht, daß sie uns in unserer Liebe und in der Zweiseligkeit unserer jungen Ehe störte. Wie findest Du das alles?“

„Ganz einfach. Ich denke mir, daß die gemeinsame Erinnerung an denselben theuren verstorbenen Menschen das geheime Band des Vertrautseins ist. Wenn Du es willst, können wir ja die Verwaiste unter irgend einer Etikette zu uns nehmen,“ sprach Gerda, sein Haar sanft streichend.

„Aber Du kennst sie noch gar nicht. Wenn sie Dir mißfällt?“

„Darum keine Sorge! Du und ich, wir empfinden doch immer dasselbe. Da Du sie gern hast, werde ich sie gewiß leiden mögen.“

„Aber würdest Du nie eifersüchtig sein? Du weißt, ich kann das nicht ertragen, obschon ich es selbst im höchsten Grade sein könnte.“

Gerda sah ihn erstaunt an.

„Ich – eifersüchtig? O nein! Du liebst mich – zwar könnte diese Liebe sich Dir in verhängnißvollen Augenblicken verdunkeln und Dich nicht vor einer Untreue zu schützen vermögen, aber schon im selben Moment, wo Du eine solche begingest, würde Deine Liebe wieder riesengroß lebendig in Dir sein und Du würdest dann vor Reue Dich so elend fühlen, daß die erste Untreue auch die letzte bliebe. Auf einen Mann, dessen Wesen man so genau erkennt, ist man nicht eifersüchtig. Das käme mir vor, als wollte ich wachsam mit Streichhölzchen einen Gegenstand umleuchten, der im vollen Sonnenglanz vor mir steht.“

„Wie Du mich verstehst!“ sagte er entzückt.

„Also von dieser Sünde, die keine ist, kommen wir zu der, welche Du wieder gutgemacht hast,“ mahnte Gerda heiter.

„Als Du mir versprachest, die Meine zu werden, vergaß ich, Dir das zu geben,“ flüsterte er, das Angesicht zärtlich ihr zugewandt, während er an ihren Finger den Ring steckte, den er schon ein Weilchen bereit hielt.

Gerda sah auf die blitzenden Steine. Ein leiser Schreck wollte sich in ihr regen über die Kostbarkeit der Gabe, und ein schlichter Reif wäre ihr lieber gewesen, doch überwog die Rührung über das schöne Symbol ihrer Zusammengehörigkeit. Sie neigte sich, sein Haar zu küssen, und ließ still ihre Hand in der seinen.

Aus dem Thal stieg es kühl auf, und vom Walde her begann ein feuchter Dunst zu wehen. Der starke Nachtthau des Hochsommers feuchtete schon bei der sinkenden Dämmerung Rosen und Buschwerk.

Ein tausendfältiges zirpendes Summen erfüllte die Abendluft. Das Volk der Grillen wisperte seinen Gesang.

Die fernen Wälder waren schwarz; am lichten Abendhimmel blinkten Sterne auf. Und da und dort im Thale blitzte der Lichtschein aus Menschenwohnungen. Im nahen Walde düsterte es so sehr, daß die Stämme an der Grenze wie ein graues Riesengitter vor einer nachtschwarzen Wand erschienen.

Der Pfiff einer Lokomotive gellte unten auf, und tief zu Füßen des Berges wand sich, von weißlichem Rauch überwölkt, eine Wagenschlange dem Ausgang des Thales, der lauten Welt draußen zu. Man sah die beiden glühenden Lokomotivenlampen vorangleiten. Und dann ward es ganz still, und die Abendschatten verdunkelten sich zur tiefen ruhvollen, lichtlosen Sommernacht.

„Ich wußte es,“ flüsterte das Weib in des Geliebten Ohr, „hier wohnt doch der Friede.“




5.

"Nun, wie hat sie Dir gefallen?“ fragte Alfred am andern Tag, als er mit Gerda vom Kirchhof zurückfuhr. „Sage mir Dein Urtheil über sie!“

„Das heißt zuviel von meiner Menschenkenntniß verlangen,“ antwortete Gerda. „Wie kann ich über ein Mädchen urtheilen, von dem ich nichts gesehen habe wie einige Thränen. Allerdings muß ich gestehen, daß mir das gefaßte Wesen, welches ebenso entfernt von sinnloser Schmerzzerflossenheit wie von gesuchter Kälte war, sehr gefallen hat. Die paar theilnehmenden Worte, welche ich ihr sagte, und die höflich dankbare Erwiderung, welche sie dafür fand, haben mir auch keine Gelegenheit zu tieferem Urtheil gegeben. Ich werde sie ja morgen kennen lernen, und dann werden wir sehen, was wir mit ihr machen. Uebrigens sieht sie mir nicht so aus, als ob sie in hilfloser Ergebenheit fremde Menschen – und wir sind ihr doch fremd – über ihr Schicksal bestimmen ließe. Weiß sie, daß ich Deine Braut bin?“

„Nein!“

„Du hättest es ihr sagen sollen. Sie würde eher Vertrauen und Neigung fassen, sich uns anzuschließen.“

„Wenn wir sie morgen zusammen besuchen, können wir es ihr ja mittheilen.“

Als der Wagen den Berg hinanfuhr – die Fahrstraße ging theils durch Wald, theils an Villengärten und Rasenmatten vorbei – schaute Gerda sich entzückt um.

„Es ist nicht zu beschreiben, wie der weite Blick in Waldfernen und über die gleichsam ineinander verschobenen Berglinien meiner Seele wohlthut. Ich glaube, das Auge eines jeden Menschen hat wie die Zunge einen Sonderappetit, dessen Befriedigung hier der Seele wie da dem Magen angenehm und gesund ist. Andere mögen am Meer die kleinen Unzufriedenheiten ihres Daseins ausathmen: ich fühle mich in den Waldbergen am glücklichsten, und Du glaubst nicht, wie ich froh bin, immer hier leben zu können.“

„Immer?“ fragte Alfred verwundert. „Wie meinst Du das?“

„Ach, davon wollen wir nachher sprechen,“ sagte sie in leichter Verlegenheit.

Alfred fühlte, daß dies ein Gespräch werden sollte, von dem Gerda heftige Auseinandersetzungen fürchtete. Er glaubte auch zu wissen, um was es sich handeln würde. Die Hindeutung, welche von Gerda nicht beabsichtigt gewesen war, wirkte nun auf beide wie fernes Wetterleuchten auf gewitterbange Naturen. Sie waren still und unfrei, sie fürchteten den Ausbruch und wünschten doch, das Unvermeidliche erst hinter sich zu haben. So gingen sie den ganzen Tag nebeneinander her; wenn aber jemand sie gefragt hätte. „Was ist Euch?“ wären sie um eine Antwort verlegen gewesen.

Alfred widmete sich seinem Liebling, dem Knaben, dem hier oben eine neue Welt aufging. Sascha wünschte eine Hütte zu haben aus Tannenzweigen und sich wie Robinson dort häuslich einzurichten. Mit unermüdlicher Güte half Alfred ihm bei seinem Spiel. Sie bauten am Waldesrand eine Hütte, so groß, daß sich mit einiger Mühe beide darin niederhocken konnten, während inmitten noch der Kindertisch aus Alfreds Jugendzeit stand.

Wie er so sein altes Spielzeug wieder mit aufbauen half auf dem alten kleinen Tisch, wurde sein Herz von Wehmuth schwer. Er erinnerte sich an alles: diese kleinen Nägel, die in einer krummen Linie in die Dachplatte hineingehämmert waren, sie stammten aus seinem ersten Werkzeugkasten, und da war noch der Hammer, mit dessen Hilfe er damals auch die kostbaren Salonmöbel mit Nägelschmuck versehen. Er glaubte die Ohrfeige wieder zu fühlen, die er damals bekommen. Mit Heiterkeit und Rührung erzählte er Sascha davon. Das Kind horchte, höchlichst interessirt. Kinder sind immer entzückt, wenn von ihnen geliebte Respektspersonen begangene Kinderthorheiten erzählen.

In einer Schachtel befand sich ein Haufen von lauter Bleisoldaten, die aber nur noch aus Rümpfen bestanden. Alfred beschrieb dem sich für diese Idee begeisternden Jungen, wie er die Beine in einem Theelöffel über einem Stearinlicht geschmolzen habe, um Bleikugeln für sein kleines Gewehr davon zu gießen. Er konnte noch eine winzige Narbe an der Hand zeigen, die eine bei jener Gelegenheit davongetragene Brandwunde zurückgelassen.

Und so ward ihm seine Kindheit lebendig, und sein Geist durchmaß die Spanne Zeit, die seitdem verflossen. Sein Auge ging über die Jahre hinweg, prüfend, wie über ein Erntefeld, und er sah, daß er nichts eingeheimst hatte.

Damals waren alle seine kindischen Thorheiten eine unreife Form für eifrigen und nutzsuchenden Thätigkeitsdrang gewesen.

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1889). Leipzig: Ernst Keil, 1889, Seite 296. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1889)_296.jpg&oldid=- (Version vom 29.12.2019)