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Verschiedene: Die Gartenlaube (1889)

mich nur wissen zu lassen, ob ich die Ehre habe, vor der Tochter der Frau Josephe Thomas zu stehen.“

Und da sie heftig nickte, fuhr er bedrückt fort:

„So bitte ich Sie, mir die Gründe Ihres Kummers mitzutheilen. Mein Name ist Haumond, Alfred von Haumond – es dürfte Ihnen bekannt sein, daß Ihre Mutter mich zu sprechen wünschte.“

„Mama ist todt,“ rief sie aus und sank in ihren Stuhl zurück, das Gesicht in ihren Händen auf der Platte des Schreibtisches bergend.

Ein heftiger Schreck ließ Alfred zunächst ganz verstummen. Wahrlich, peinvoller hätte die Situation gar nicht sein können. Eine Verknüpfung von Umständen förderte nun Antheilnahme von ihm an dem Tod einer Frau, die er nicht gekannt hatte und die ihm herzlich gleichgültig war. Nichts ist lästiger für einen ehrlichen Menschen, als aus Höflichkeit eine Trauer heucheln zu müssen, von der er in der That nichts empfindet. Alfred trat an das Fenster und sah in das dunkle Grün der Tannenzweige hinein, in denen ein munterer Spatz wie auf einer Treppe von Ast zu Ast abwärts hüpfte.

Er überdachte, was er sagen solle, was er thun könne, welche Art von Beistand die verwaiste Tochter von ihm erwarte, und in welcher Form er ihr diesen am zartesten anbieten dürfe. Als er sich umwandte, um die Fragen an sie zu richten, die er zunächst für nöthig hielt, sah er, daß sie sich gerade wieder erhob und ein Gesicht und eine Haltung zeigte, denen man unschwer die vollkommen wieder erlangte Fassung ansah.

„Verzeihen Sie, mein Herr, daß die Erinnerung an mein noch so neues Unglück mich überwältigte. Ich begreife völlig, wie sehr peinlich es für Sie sein muß, in ein fremdes Haus, zu fremden Menschen zu kommen und – eine Leiche zu finden,“ sagte sie mit ihrer sanften Stimme.

Alfred war über ihre Fassung so erstaunt, daß er sie fast nicht begriff. Aber sie berührte ihn wie eine Befreiung und sehr wohlthätig. Der Anblick von Jugend und Schönheit, die leidet, weckt überdies leicht das Mitleid. So geschah es schon mit wirklicher Wärme, als er entgegnete:

„Ich beklage es aufrichtig, daß der Mund, welcher zu mir sprechen wollte, auf immer verstummt ist. Vielleicht, mein Fräulein, sind Sie von dem unterrichtet, was Ihre Mutter mir zu sagen wünschte, und dann werden Sie es mir später erzählen. Für jetzt gestatten Sie mir, daß ich mich in Ihre Angelegenheiten dränge und Sie bitte, mir alle Pflichten zu übertragen, die ein Todesfall mit sich bringt.“

„Bitte,“ sagte sie, immer mit derselben sanften Ruhe sprechend, „setzen Sie sich zu mir! Ich will Ihnen alles gleich jetzt berichten. Es ist ohnedies sehr wenig.“

Alfred nahm neben ihr auf dem Sofa Platz, und während sie sprach, betrachtete er genau ihren schönen Wuchs, ihr edles Gesicht, ihr blondes einfach geordnetes Haar. Und dabei kam sie ihm so merkwürdig bekannt und vertraut vor; diese zarte Schläfe mit dem schönen Haaransatz, dieses Wangenprofil mußte er schon sehr ähnlich irgendwo gesehen haben. Daß sie so gesammelt und knapp alles erzählte, berührte ihn wieder seltsam friedlich. Mit einer Geduld, die er gar nicht an sich kannte, hörte er zu.

„Meine Mutter,“ sagte sie, „war mit Ihrem Vater wohl sehr befreundet. Er besuchte uns jeden Sommer, wenn ich mit Mama im Bade war, und erwies auch mir die größten Zärtlichkeiten. Ein ganzes Packet von Briefen, die vom ihm an meine Mutter gerichtet sind, ist als Bescheinigung dieser Freundschaft vorhanden. Es war der Wunsch meiner Mutter, Ihnen einiges aus diesen Briefen vorzulesen und dieselben dann zu verbrennen. Der Tod, der gestern abend, nun doch unerwartet, dem langjährigen Leiden der vielduldenden Frau ein Ende machte, sanft und unbewußt, hat ihr die Erfüllung dieses Wunsches versagt. Die Briefe sind zu Ihrer Verfügung.“

„Nicht doch,“ antwortete er, „die Briefe werden ebensoviel von dem Seelenleben Ihrer Mutter wie von dem meines Vaters enthalten, und so scheint es mir besser, daß man sie entweder ungelesen vernichtet, oder, wenn Sie dies nicht wollen, daß wir sie eines Tages zusammen lesen, wenn wir selbst uns erst ein wenig näher kennen. Viel wichtiger erscheinen mir zunächst andere Fragen …“

„Ich begreife,“ fiel sie schnell ein und sah ihm gerade in die Augen, „Sie wollen wissen, ob und wie die Angelegenheiten erledigt werden, welche ein Todesfall mit sich bringt, wer mir darin beisteht, und ob ich die Mittel dazu bei mir führe, alle Ausgaben zu bestreiten. Nun denn: auf Anordnung des Arztes, den wir beriefen, als Mama sich schlecht fühlte, und der sich mir voll thätiger Güte zeigt, ist die Verstorbene heute im Morgengrauen schon nach der Leichenhalle des Kirchhofes gebracht worden und wird morgen früh beerdigt, alles wie die Gesetze es vorschreiben. Ich bin allein mit einer alten Dienerin, die uns noch von den Zeiten unseres früheren Wohlstandes her treu geblieben ist und sich stets weigerte, Mama, bei der sie dreißig Jahre gewesen, zu verlassen. Geldmittel haben wir noch, um einige Wochen leben zu können. Bis dahin hoffe ich, irgend eine Stellung gefunden zu haben. Die alte Lisbeth kann dann in das Feierabendhaus gehen, in welches Mama sie schon früher eingekauft hat.“

Alfred bekam nach dieser kurzen und doch erschöpfenden Auseinandersetzung das Gefühl, hier vollkommen überflüssig zu sein.

„Ich sehe schon,“ sprach er, „ich kann Ihnen zunächst gar nichts nützen, und bewundere die Sicherheit und die Klarheit, mit welcher Sie Ihre Lage übersehen und sich in ihr zurecht finden.“

„Mußte ich das nicht?“ fragte sie. „Zwar durfte ich Sie erwarten, aber man kann sich doch nicht hilflos der ungewissen Theilnahme eines Fremden anheimgeben. Ist es nicht schon genug der Unbescheidenheit, daß ich für später gute Rathschläge von Ihnen verlange? Was habe ich überhaupt für Rechte an Sie? Mir scheint, es ist fast unerlaubt, daß ein Vater seinem Sohn die seltsame Erbschaft hinterläßt, für eine Frau sich interessiren zu sollen, welcher er, der Vater, einst freundschaftlich nahe stand.“

Daß Gerda gestern abend ganz Aehnliches gesprochen, fuhr Alfred erst durch die Erinnerung, als er mit der größten und aufrichtigsten Wärme sagte, daß er diese Erbschaft allerdings zunächst unbeguem gefunden habe, nun aber, da er Fräulein Thomas kennen gelernt, seinem Vater Dank wisse.

Und dabei dachte er verwundert, wie ihn doch dieselbe Aeußerung von Gerda zu heftiger Antwort gereizt, und wie angenehm ruhig er mit diesem Mädchen dasselbe Thema besprechen konnte.

Eigentlich sollte er nun gehen. Aber es war etwas in diesem verschatteten Zimmer, an dieser stillen, schwarzen Mädchengestalt, was ihn anwehte wie Frieden. Die von der Trauer ein wenig gedämpfte Stimme that ihm wohl, die einfach sachliche Redeweise hatte etwas Beruhigendes.

Er dachte an die heiße Mittagssonne, in welcher er den Weg wieder zurückmachen sollte, athmete tief die kühle Luft des Zimmers ein und fragte, nur um das Gespräch zu verlängern: „Sie nannten Ihre Mutter eine vielduldende Frau?“

Einen Augenblick sah sie vor sich hin. Dann schlug sie das Auge wieder klar zu ihm auf.

„Es darf Sie nicht verletzen,“ sagte sie, „wenn ich Ihnen mittheile, daß meine Mutter an der Seite eines Mannes lebte, der ihrer nicht würdig war. Als ich zum Verständniß des Lebens erwuchs, verstand ich das recht wohl und sah auch, daß es von jeher der Wunsch meiner Mutter gewesen war, dies Band zu lösen. Warum ihr Gatte nicht darein willigte, ist mir nicht klar geworden. Vielleicht wollte keines der Eltern auf mich, das einzige Kind, verzichten. Aber das habe ich wohl herausgefühlt, daß, wenn mein Vater vor dem Ihrigen gestorben wäre, anstatt zwei Jahre nachher, Ihr Vater und meine Mutter sich noch vermählt hätten, trotz ihres Alters. Theure Jugenderinnerungen mußten sie innig miteinander verbinden.“

„Sehr merkwürdig,“ sagte Alfred ein wenig befangen, denn ihm fiel ein, daß das Mädchen vielleicht von dem Wunsch ihrer Eltern unterrichtet sei und ihn als den ihr möglicherweise erreichbaren Gatten betrachte.

Er verstummte. Es schien ihm undenkbar, ihr geradeheraus zu sagen, daß er nicht mehr frei sei, und ihr damit etwas zu nehmen, was vielleicht noch keine Hoffnung, aber doch der blasse Vorschein einer solchen gewesen.

„Am besten wird es sein,“ dachte er, „ich überlasse ihrer eigenen Beobachtung die Erkenntniß dieser Thatsache, denn ich muß sie doch mit Gerda bekannt machen.“

„Haben Sie noch Familie, die Ihnen einen Rückhalt gewähren, eine Heimath bieten könnte?“ fragte er.

Die Familie meiner Mutter ist ganz ausgestorben,“ erwiderte sie traurig, „und es war der oft ausgesprochene Wunsch Mamas, daß ich mich niemals an die Familie Thomas wenden solle.

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1889). Leipzig: Ernst Keil, 1889, Seite 294. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1889)_294.jpg&oldid=- (Version vom 29.12.2019)