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Verschiedene: Die Gartenlaube (1889)

No. 18.   1889.
      Die Gartenlaube.

Illustrirtes Familienblatt. — Begründet von Ernst Keil 1853.

Wöchentlich 2 bis 2½ Bogen. – In Wochennummern vierteljährlich 1 Mark 60 Pfennig oder jährlich in 14 Heften à 50 Pf. oder 28 Halbheften à 25 Pf.


Nicht im Geleise.

Roman von Ida Boy-Ed.
(Fortsetzung.)


Alfred stieg hinauf in die erste Etage. Auch hier klopfte er vergebens an. Erst an eine Thür, dann an die zweite. Endlich rief eine unklare Stimme hinter der dritten Thür. „Herein!“

Als er öffnete, sah er, daß er unvermittelt von dem Flur in ein Wohnzimmer trat, in ein ziemlich geräumiges Gemach, das zwei Fenster nach dem Flüßchen und der Allee zu hatte, trotzdem aber sehr wenig hell war, denn vor jedem Fenster stand eine Tanne. Das Zimmer hatte ganz die übliche Einrichtung: grüne Möbel mit gehäkelten Schonern, einen Pfeilerspiegel in Goldrahmen, einen kleinen sehr bunten Teppich unter dem Sofatisch, auf diesem eine Decke von Jutestoff. An der einen Wand stand ein schmuckloser Schreibtisch, und von diesem erhob sich jetzt eine Frauengestalt.

Alfred fühlte sich in einer Lage vollkommener Rathlosigkeit. Er starrte das schwarzgekleidete Weib an und sah, daß es ein sehr schönes Mädchen von etwa zwanzig Jahren sein mochte. Und dabei wurde ihm seltsam zu Sinn, gerade als ob ihm jemand genau eine solche weibliche Erscheinung einmal beschrieben hätte. „Blond wie eine Ceres – schön – ruhevoll …“, aber er konnte sich nicht besinnen. Er sah, daß ihre großen, sanften Augen, die goldbraun waren, ebenso erstaunt auf ihm ruhten wie seine Blicke auf ihr.

„Pardon, mein gnädiges Fräulein,“ sagte er fast verlegen, „ich bin hier wahrscheinlich irrthümlich eingedrungen. Aber mir ergeht es schon seit einer Viertelstunde in diesem Hause wie Tamino vor dem Tempel des Sarastro; hinter jeder Thür scheint mir ein ‚Zurück‘ entgegenzudonnern.“

„Wen suchen Sie?“ fragte die junge Dame. Und der unklare, zurückgehaltene Ton der Stimme verrieth sogleich, daß die Sprecherin eben noch geweint haben mußte; auch lag ihr auf den Wangen und um die Augen jene Röthe, welche von vergossenen Thränen zurückbleibt.

„Ich suche Frau Josephe Thomas,“ sagte Alfred, dem plötzlich ein bängliches Vorgefühl an das Herz kroch.

Er hatte auf dem einen Fensterbrett dunkles Grün, weiße Blumen und einen angefangenen Kranz gesehen – dazu die Thränenspuren und das schwarze Kleid …

Das Mädchen wollte sprechen. Sie hielt sich mit der Hand an der Lehne des Stuhles fest, von dem sie sich eben erhoben. Sie brachte kein Wort über die Lippen, schüttelte das Haupt und preßte mit der Rechten ihr Taschentuch gegen die Augen.

Alfred wußte nicht: hieß das Kopfschütteln, daß die Gesuchte hier nicht wohne, oder was wollte es sagen? und in welcher traurigen Lage befand sich dies schöne Mädchen, daß sie nicht einmal einem Fremden gegenüber die Fassung fand, zu antworten?

„Mein Fräulein,“ sagte er nähertretend, in höchster Verlegenheit, „ich bitte Sie,


Wenn’s Mailüfterl weht!
Nach einer Zeichnung von Th. Brauer.

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1889). Leipzig: Ernst Keil, 1889, Seite 293. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1889)_293.jpg&oldid=- (Version vom 1.4.2020)