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Verschiedene: Die Gartenlaube (1889)

Der schöne Friede aus dieser Morgenstunde hatte eine weite Leuchtkraft. Er erhellte und vergoldete ihnen den ganzen Rest der Reise, und als sie am Nachmittag desselben Tages in Baden ankamen, meinte Gerda schon, daß alle Hoffnungen erfüllt seien, die sie beide an diese Veränderung geknüpft hatten. Hier gab es keine „Bekannte“, über deren Werth oder Unwert man streiten konnte; keine gesellschaftlichen Anforderungen, die mit den Anforderungen ihrer Liebe in Kampf kamen; hier waren keine tausendfältig verschiedenen Tageseintheilungen möglich, über die man uneins werden konnte. Hier lebte man einfach und selbstverständlich der Natur und erfüllte nebenbei eine Pflicht gegen das Andenken eines theuren Todten.

Zunächst galt es, sich häuslich einzurichten. Alfred bestand darauf, daß Gerda mit den Ihrigen sein Haus bezöge, welches an der Grenze eines Waldes und auf der Höhe über Feldern und Rasenmatten lag, die sich zum Oosthal hinabzogen und zum Besitz Alfreds gehörten. Es sei zwar sehr weit bis nach Baden, allein die köstliche Lage und vollkommene Einsamkeit entschädige für die weiten Wege, die sich ja mit einem Wagen überwältigen lassen würden. Alfred selbst finde noch sein Unterkommen in dem vom Verwalter bewohnten Nebenhäuschen.

Gerda fand den Vorschlag zu vernünftig und natürlich, das im Schweizerstil erbaute Haus am Waldessaum zu reizend und die Lage so gesund für das Kind, daß sie darauf einging. Freilich kam das Tantchen mit vielen Bedenken. Man könne doch nicht bei Alfred zu Gast sein, noch weniger aber ihm das Haus für Geld abmiethen, und ähnliche Dinge. Gerda sagte einfach:

„Weshalb sollte ich nicht unter einem Dache wohnen, das in wenig Wochen mein eigenes sein wird? Weshalb nicht die Gastfreundschaft eines Mannes annehmen, der sehr bald mein Gatte sein soll?“

„Man kann doch nicht wissen …“ stotterte das Tantchen.

„Was?“ fragte Gerda und sah sie mit einem jener Blicke an, die das Tantchen die „Herrscherblicke“ nannte und denen gegenüber sie keinen Laut mehr zu wagen pflegte. Aber ach, sie ihrerseits glaubte nicht an das Zustandekommen dieser Heirath, nicht eher, bis Gerda und Alfred als Eheleute annonciert in der Zeitung stehen würden. –

„Heute,“ sagte Gerda, „wird es den Hausgeistern wieder wohnlich gemacht. Morgen früh suchst Du Josephe Thomas auf.“

Und nun begann ein lustiges Hin und Her, das die Herrschaft mehr entzückte als den übellaunigen Fritz, der sich als überlistet ansah, denn von dieser Einöde aus konnte er seinen Abenteuern schlecht nachgehen.

Ohne die vorhandene Einrichtung in ihren Grundzügen umzustoßen, wußte Gerda den altmodisch ausstaffierten Zimmern bald ein Gepräge von Wohnlichkeit zu geben, daß Alfred die Räume wie übergoldet vorkamen. Der Verwalter mußte mit seinem Einspänner eine Fuhre voll blühender oder reich blättriger Topfgewächse heraufschaffen, und als es Abend war und man um den großen Tisch im Wohnzimmer saß, das sich auf den Altan öffnete, schien es, als habe man schon immer da gewohnt, und als sei das ganze Haus erfüllt von den Spuren eines harmonischen und glücklichen Lebens.

Das Bild von Alfreds Vater sah von der Wand herab. Man sprach von der unverkennbaren Aehnlichkeit und auch davon, daß Alfred den reichen blonden Haarschmuck von ihm geerbt habe. Dies sei eine Familieneigenthümlichkeit, sagte Alfred.

Das Tantchen fragte, ob er seinem Vater auch in andern Dingen gleiche.

„Nein,“ antwortete Alfred, „er war viel ruhiger und ausgeglichener als ich.“

„Das müßte schon das Alter gemacht haben,“ erwiderte Gerda, „denn von Hilde Mollin, die Deinen Vater gut gekannt hat und ihm sehr gewogen war, weiß ich, daß er ebenfalls sehr nervös gewesen sei. Vielleicht ist diese ‚Ruhe‘ und ‚Ausgeglichenheit‘ auch nur ein Erzeugniß Deiner Erinnerung. Die zerrissenen Konturen der Berge werden oft durch eine weiße Schneedecke zu einfachen und sanften Linien; so deckt ein Leichentuch auch die Charakterschroffen eines Menschen zu.“

Alfred fand in dieser Bemerkung eine Spitze, die sich gegen ihn richtete; ihm schien es, als habe sie ihm damit sagen wollen, daß auch sein Charakter „Schroffen“ besitze. Seine Stirn ward roth. Doch bezwang er sich. Gerda bemerkte dieses Bezwingen, und in ihr wallte es auf. Suchte er denn in jedem ihrer Worte etwas?

„Es wird Sie doch bewegen, lieber Alfred,“ sagte das alte Fräulein, das Gespräch über den Vater verfolgend, „nun von dem theuren Verstorbenen noch manches zu hören, was Ihnen bisher fremd war.“

„Gewiß, eine Erbschaft tritt man nie ohne Bewegung an. Und die Fürsorge für zwei mir vollkommen unbekannte Frauen ist obenan keine bequeme Erbschaft. – Du wolltest etwas sagen?“ fragte er schnell, als er bemerkte, daß Gerda die Lippen bewegte, wieder fest schloß und ihr Haupt tiefer zu der Stickerei herabbeugte, welche sie in Händen hielt.

Sie schüttelte den Kopf, ohne aufzublicken.

„Du denkst, ich könnte über Deine Worte gereizt werden, und willst mich schonen,“ sagte er heftig, „sprich nur!“

„Ich wollte nur bemerken,“ erwiderte sie, „daß ich es unerlaubt finde, dergleichen Erbschaften einem Sohne zu hinterlassen. Ein Mann sollte am Abend seines Lebens mit den Ereignissen seiner Jugend derart abgeschlossen haben, daß seinen Hinterbliebenen keinerlei Verpflichtungen mehr aus denselben erwachsen. Ganz absurd fände ich es aber, wenn Dein Vater und jene Frau wirklich den Plan gehegt haben sollten, Dich und das Mädchen zu verheirathen.“

„Diese Bemerkung hättest Du Dir allerdings sparen können, denn da wir die näheren Umstände nicht kennen, dürfen wir uns noch kein Urtheil erlauben, ob mein Vater recht oder unrecht hatte, mich diesen Frauen als Schützer zu empfehlen“ sagte er scharf. „Und was den Heirathsplan betrifft, so finde ich denselben im Gegentheil liebevoll erdacht. Vielleicht hat das Mädchen all dieselben Vorzüge wie ihre Mutter, und da diese Vorzüge meinen Vater beglückten, mußte er wohl annehmen, daß sie auch mich beglücken würden, besonders, da wir uns in unsern Charakterschroffen so sehr gleichen, wie Du sagst.“

„Wie ich sage? Wann hätte ich das?“ rief Gerda empört. „Du drehst meine Worte nach Deinem Gefallen, um für Deine Heftigkeit Nahrung daraus zu ziehen.“

„Du bist es, die einen heftigen Ton anschlägt – nicht ich.“

Sie sahen sich an. Und plötzlich erblaßten sie. Sie begriffen, daß sie sich wieder gestritten hatten, ohne alle jene Gründe, welche in Berlin die vermeintlichen Ursachen ihrer Uneinigkeiten gewesen.

Ein tödliches Schweigen legte sich auf den kleinen Kreis.

Gerdas Finger zitterten, und ihre Nadel konnte die Stelle nicht finden, wo sie den nächsten Stich hinsetzen sollte.

Alfred ließ viele lange Minuten so vergehen, dann stand er auf, sagte leise, fast gedrückt „Gute Nacht“ und ging hinaus.

Am andern Morgen lachte der hellste Sonnenschein. Die Berge in ihrem dichten Tannenbestand schienen dunkelblau umschleiert. Der Himmel war wolkenlos, und dort, wo der Blick nach der Rheinebene bis zu den Ausläufern der Vogesen hinüberschweifen konnte, verblaßte die blaue Luftferne zur Farblosigkeit. Jenseit des Thales schaute das wettergraue Gestein der alten Schloßruine aus dem Gewipfel der den Berg deckenden Buchen und Edeltannen. Eine rothgelbe Fahne flatterte deutlich erkennbar auf den Zinnen. In der Thalestiefe lag die helle Häusermenge der Stadt Baden, und rings um diese, an den niederen Höhen verstreut, blinkten weiße Villen aus dem satten Grün.

Die Bewohner des Berghauses empfanden alle die Seligkeit des Großstädters, der sich aus dem Lärm in die wohligste Stille, aus dem Staub in die köstlichste Waldesfrische versetzt sieht. Selbst das Tantchen hatte einen rosigen Schein auf ihren von Medizin und Stubenluft verkümmerten Zügen und meinte, der Tannenduft, der vom nahen Wald herüber wehe, sei fast so kräftig wie der Koniferengeist, mit dem sie ihr Zimmer zu durchstäuben pflege. Gerda pflückte sich Blumen und Gräser und ordnete sie zu malerischer Wirkung in Schalen und Vasen. Alfred spielte mit dem Kinde, das sich aber nur schwer beim Spiel halten ließ, sondern von allen Thurmruinen, die da und dort die Berge krönten, Namen und Geschichte wissen wollte, auch das Versprechen forderte, überall hin zu dürfen. Auch verlangte es genaue Erklärung, warum die Fahne drüben auf dem alten Schloß roth und gelb sei und nicht schwarz-weiß. Und bei dem allem waren sowohl das Kind wie Alfred so zufrieden und so beschäftigt, daß Gerda dreimal vergebens an den nothwendigen Gang zu der vielbesprochenen Frau mahnen mußte.

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1889). Leipzig: Ernst Keil, 1889, Seite 282. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1889)_282.jpg&oldid=- (Version vom 29.12.2019)