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Verschiedene: Die Gartenlaube (1889)

Sachen zu packen haben, Gerda. Wenn es Dir so recht ist, treffen wir uns heute nacht um elf Uhr auf dem Friedrichstraßenbahnhof. Ich werde alles besorgen, Billette und Plätze im Schlafwagen. Tantchen fährt doch mit?“

Gerda nickte. Ja, so war es besser. In der Unruhe der Abreisestimmung fänden sie doch gewiß hundert Anlässe zu Meinungsverschiedenheiten. Hier war alles Hast, Unnatur, Zwang. In dem Frieden der Wälder würde auch in ihre Liebe der Frieden kommen.

Das Tantchen und Marbod standen vorerst stumm vor Staunen.

Nun wollten diese beiden unruhigen Menschen wieder reisen, und kein Mensch wußte davon.

„Aber das ist stark,“ brachte das Tantchen endlich mit bebenden Lippen heraus.

„Es geht nach Baden-Baden,“ sagte Gerda und geleitete die alte Dame vorsichtig an die Droschke. „Alfred hat dort zu thun. Auch Dir wird es gut sein, Tantchen, Tannenluft zu athmen. Und was Herrn Doktor Steinweber betrifft, so wird er uns in den vier Wochen, die wir wegzubleiben denken, nicht vergessen.“

Marbod nahm ihre dargebotene Hand. Er sah sie an, fast ängstlich. Man merkte wohl, es war ihm leid, daß sie ging, ohne daß er lange und ausführlich mit ihr hatte sprechen können. Und in der That, er hätte sie bitten mögen, innig und eindringlich – er wußte selbst nicht, um was. Für seinen Freund? Aber sie liebte diesen doch, groß und voll Leidenschaft. Was brauchte er da zu bitten. „Verlaß ihn nicht!“ Und doch war’s, als müsse er dieses sinnlose Wort herausstoßen gerade dieses.

„Du verläßt mich heute keinen Augenblick “ sagte Alfred ganz bestimmt, als die Damen fortfuhren. „Du mußt freilich zusehen, wie ich einpacke, aber das ist eine halbe Stunde. Der ganze sonstige Tag ist frei für unsern Willen.“

„Leider nicht der meinige. Ich bin für den Abend von Ravenswann eingeladen,“ sprach Marbod, Arm in Arm mit dem Freunde die Richtung nach der Wohnung desselben einschlagend.

„Sage ab!“

„Ludolf giebt seiner Einladung erhöhte Wichtigkeit, indem er dabei schreibt, daß sie in einigen Tagen verreisen, sein Sommerurlaub beginnt, und daß der heutige Abend der letzte ist, an welchem sie mich vorher noch bei sich sehen können,“ erzählte Marbod, worauf Alfred lachend meinte, daß es dann freilich kein Entrinnen gäbe. Er sei überzeugt, daß das Ehepaar, wenn es in acht Tagen reisen wolle, bis dahin jede Stunde mit Vorbereitungen zu thun habe.

In seiner Wohnung berief Alfred seinen Diener, theilte diesem mit, daß man heute abend reise, und daß Fritz unter seiner Aufsicht schleunigst zu packen habe.

„Hatten der Herr gedacht, mich mitzunehmen?“ fragte Fritz, seinen Herrn ansehend.

„Natürlich!“

„Ich muß den Herrn darauf aufmerksam machen, daß Sie beim Engagement eine Verpflichtung meinerseits, mit auf Reisen zu gehen, nicht erwähnt haben,“ sagte Fritz kühl. Er hatte keine Neigung, bei der Hitze in der Eisenbahn zu sitzen und sich von der guten Verpflegung zu trennen, die ihm Frau Meyns angedeihen ließ. Als eingefleischter Berliner fühlte er sich überdies nur hier am rechten Schauplatz für sein Thun und Nichtthun.

Alfred war sekundenlang stumm vor Erstaunen.

„Aber das ist doch selbstverständlich,“ antwortete er endlich.

„Keineswegs,“ erwiderte Fritz, „ich könnte dem Herrn ja sagen, daß ich alte Eltern oder dergleichen hätte, denen meine stete Gegenwart hier unentbehrlich wäre; es ist nicht der Fall, aber es könnte so sein und würde dann doch klar beweisen, daß die Verpflichtung, mit auf Reisen zu gehen, nicht selbstverständlich ist.“

Marbod bewunderte die Geduld des Freundes, der, anstatt heftig zu werden, ganz wohlwollend fragte:

„Also, Sie wollen nicht mit nach Baden-Baden?“

Fritz besann sich einige Augenblicke. Baden-Baden? Seine vorige Herrschaft war ebenfalls dort, wie ihm die Jungfer derselben, eine seiner „Bräute“, geschrieben. Einer angenehmen Unterhaltung in den Freistunden war er dort also sicher.

„Dorthin – o ja,“ sagte er langsam und ging, um nach den Koffern zu sehen.

„Wie kannst Du das ertragen?“ rief Marbod, „der Mensch ist ja frech und blasirt.“

„Weder das eine, noch das andere,“ antwortete Alfred heiter, „er ist immer logisch und lügt nie. Daß er mich nicht als seinen Herrn und sich nicht als meinen Sklaven, sondern unser Verhältniß als einen Vertrag mit genau abgegrenzten Rechten und Pflichten ansieht, ist vielleicht etwas – modern. Er sieht mich keineswegs für etwas Höheres an als sich selbst. Aber er murrt auch nicht darüber, daß ich es besser habe.“

Marbod stand am Schreibtisch und besah Gerdas Bilder, während Alfred aus Schränken und Schubladen Sachen zusammentrug und auf den Tisch häufte.

„Ich sehe Dich mit einem unspmpathischen untergeordneten Menschen Geduld haben,“ begann Marbod, „ich sehe Dich fast gütig seine Art und Weise psychologisch erklären. Und mit einem andern menschlichen Wesen, dem höchsten, das für Dich die Erde trägt, sehe ich Dich in fortwährenden ungeduldigen Streitereien.“

Alfred warf die Bücher, welche er gerade in der Hand hielt, polternd zu Boden.

„Warum rührst Du daran?“ rief er heftig, sank in den nächsten Stuhl und preßte die geballte Faust gegen die Stirn.

„Das ist mein Freundesrecht. Früher, wenn Dich Unklarheiten quälten, brachte ich Dich auch zum Sprechen, und redend ward Dir’s frei in der Seele und licht,“ sprach der andere, sein ernstes Auge liebevoll auf den Freund richtend.

„Und jetzt ist das Allerschlimmste, daß ich nicht einmal davon reden kann, daß ich mir in meinen eigenen Gedanken in schweigenden, schlaflosen Nächten nicht einmal die Räthsel zu lösen vermag, welche wie dunkle Schatten zwischen mir und der Geliebten schweben,“ sagte Alfred fast tonlos vor sich hin. „Oft ist mir, als müßte ich daran zu Grunde gehen. Jedes ihrer Worte reizt mich, und schweigt sie, so reizt mich ihre Geduld. Wir greifen uns fortwährend an, oder wir bestreben uns, uns gegenseitig zu schonen. Das eine ist so quälend wie das andere. Das eine beleidigt, das andere demüthigt. Tausendmal hatten wir uns vorgenommen – sie und ich, denn sie fühlt alles ebenso und ringt es in erschreckender Gleichheit genau so durch – tausendmal haben wir uns vorgenommen, uns nie wieder zu sehen. Aber mein Herz erschrak dann, und Todesgrauen lähmte alle meine Sinne. Ein Leben ohne sie!? Das ist kein Leben mehr. Und dann kommen wieder göttliche Augenblicke, wo unsere Seelen zusammen emporfliegen als eine Seele zu den höchstem beseligendsten Empfindungen. Ueber alle großen Fragen dieses Daseins denken wir gleich. Oft erscheint es uns, als habe die Natur in ihr und in mir zweimal das gleiche Wesen geprägt. Wir haben täglich das Seltsame, daß wir zugleich das Gleiche denken und einer in des andern stumme Gedanken hinein laut die Bejahung oder Verneinung spricht, denn das eine hat gefühlt, was das andere gerade denkt. Und doch, und doch dies stete Aufbäumen gegeneinander!“

„Mein Gott,“ rief Marbod leise und erschüttert, „wie soll das enden? Hast Du nie an diese Lösung des Räthsels gedacht, daß die Gefühle, welche Gerda und Dich immer wieder zu einander – zwängen möcht ich sagen, aus Eurem heftigen Temperament entspringen, daß eine rein sinnliche Leidenschaft Euch für einander erfaßt hat?“

Alfred schüttelte verneinend sein blondes Haupt. „Nein, wenn es das allein wäre, was uns zu einander zöge, liebte ich dann so ihr Kind? Sieh,“ fuhr er, weich werdend, fort, „wie ich diesen Knaben liebe, kann ich Dir mit keinem Worte sagen. Er ist von ihrem Fleisch und Blut, er hat ihre Augen; wenn ich ihn küsse, liebkose ich zugleich sie, und er, das ist immer der Friede in ihr, die Liebe zu ihr, das Glück mit ihr. O, wäre er mein Knabe! Mein Kind! Mir ist, als wären sie und ich dann waffenlos gegen einander.“

Die Augen des Mannes waren feucht und sein Angesicht blaß.

Marbod war sehr ergriffen. Er preßte die Hand des Freundes innig.

„Mein lieber, alter Junge,“ sagte er zärtlich, „da sehe ich einen Sonnenstrahl der Hoffnung das Gewölk durchbrechen. Heirathet, heirathet so schnell wie möglich, und im Besitz werdet Ihr Ruhe finden. Ihr werdet eigene Kinder haben, und wie einst aus dem Chaos die beste aller möglichen Welten entstand, so wird sich auch aus den gährenden Elementargewalten Eurer Liebe eine ganz philisterhaft glückliche Ehe gestalten.“

Alfred versuchte dem Freunde zu Gefallen ein Lächeln. Dieser sah ein, daß man ihn ganz von seinen Grübeleien entfernen müsse.

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1889). Leipzig: Ernst Keil, 1889, Seite 266. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1889)_266.jpg&oldid=- (Version vom 29.12.2019)