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Verschiedene: Die Gartenlaube (1889)

hier in der frühen Stunde, eine imponirende Einsamkeit umgab sie. Nur ein Zug schreiender Vögel flog am tiefblauen Himmel hoch da droben, und vor ihr stiegen die Sitzreihen empor, von denen einstens Hunderttausende herniederschauten. Hier unten waren, zum Vergnügen dieser Hunderttausende, zahllose Menschen und Thiere auf entsetzliche Weise hingemordet worden. Sie empfand auch heute wieder staunendes Grauen gegenüber dieser Vergangenheit, und sie fühlte sich so klein, so winzig klein in dieser Welt, nicht größer als ein Sandkorn, das der Wind aufwirbelte. Was war sie mit ihrem Schmerz, mit ihrem kleinen einfachen Menschengeschick? Passirt doch jedem einmal Aehnliches, vielleicht Schlimmeres! – Sie würde leben, ihre Tage leben, und sie würde vergehen, wie Millionen vor ihr vergingen im Strom der Zeit. Und sie wollte auch leben. Wie? nun, das war ihre Sache!

Ihr Kopf hob sich stolz empor; es war ihr wunderbar zu Muthe, als hätte sie starken Wein getrunken, der ihre Nerven angespannt, und der sie doch krank dabei gemacht. Sie fühlte Muth in sich der Zukunft gegenüber und zitterte doch vor der schrecklichen Einöde, die diese Zukunft war.

„Avanti!“ sagte sie laut und stand auf.

Der General dort oben, der wie ein Pünktchen erschien, winkte mit dem Taschentuch. Sie erwiderte seinen Gruß und ging langsam dem Ausgang zu, ihn erwartend.

„Avanti!“ sagte auch er, als er zu ihr trat mit sichtlich besserer Laune, und bot ihr den Arm.

„Ich gehe schon allein,“ erwiderte sie, „muß mich daran gewöhnen, Onkel!“ und ihre Stimme klang hart.

Als sie am andern Morgen die Koffer packte, kam der General mit einem Brief herein. „Na, bei Euch scheint’s epidemisch geworden,“ sagte er und legte eine Tüte feiner Bonbons vor Lore hin, „da ist auch Rudolfs Verlobungskarte; hast Du keine Nachrichten?“

„Ja!“ erwiderte sie und zeigte auf den uneröffneten Brief, der dort lag, „von Mama.“

„Noch nicht gelesen?“

„Nein, Onkel!“

„Na, was sagst Du denn dazu, Deine Mama ist ja auf einmal schön heraus? Und hat natürlich Moos, dieser Maikater oder Katze, oder wie sie heißt, die künftige Frau von Tollen.“

Lore nickte. „Hoffentlich!“

„Da werdet Ihr ja bald allein sein, Du und Deine Mutter, Lorchen.“

„Ja!“ erwiderte sie tonlos.

„Willst Du denn nicht lesen, Kind?“

„Nachher, Onkel; ich möchte nur erst fertig sein, weißt Du.“

„Hör’, Lorchen, Du hast mir doch den dummen Schnack da nicht übelgenommen gestern, daß ich da sagte, Ihr heirathet aufs Gerathewohl? Ich hab es nicht bös gemeint; ich dachte nur, die Käthe – aber nimm es nicht übel, Kind – die passe nicht recht für einen armen Lehrer; verstehst Du mich? Das Mädel kommt mir so wild und so – so – na, mit einem Wort – ich kann sie mir besser auf dem Pferde vorstellen als hinterm Küchenherd oder in der Kinderstube. Ja, wenn Du das wärst, Lorchen, dann hätte ich –“

Sie sah ihn an mit einem Blick, wie ein verwundetes Reh ihn haben mag.

Er hielt betroffen inne und nahm ihren Kopf zwischen beide Hände. „Ich wollte Dich wirklich nicht kränken, meine alte Deern! Es ist ja auch richtig, Lore, ehe der Wildfang Lehrerin wird, lieber einen soliden Mann. Na, es wird sich alles historisch entwickeln, gelt?“

Und er streichelte das blasse Gesichtchen.

Sie nickte freundlich und fuhr in ihrer Beschäftigung fort; dann nahm sie den Brief der Mutter mit in ihr Kämmerchen, und da blieb sie lange. Der General schlief indessen. Er wachte erst auf, als Gemma den Tisch decken wollte; dann kam auch Lore.

„Was schreibt die Mutter?“ fragte er.

Sie wurde roth.

„Mama läßt grüßen,“ log sie. Sie hatte noch nicht den Muth gefunden, den Brief zu lesen.

(Fortsetzung folgt.)




Die Bewohner unserer westafrikanischen Kolonien.

Von Hugo Zöller. Mit Abbildungen nach Photographien des Verfassers.
Vier Völkergruppen. – Das Fetischwesen der Togoleute. – Die Heimathsliebe der Kruneger. – Die Trommelsprache der Dualla. – Kriegskanoes, die unsere Dampfer an Schnelligkeit übertreffen. – Fahrzeuge, die man gleich Regenschirmen unter den Arm nimmt. – Die angeblich menschenfressenden Binnenlandsbewohner des Kamerungebiets.

Wer den westafrikanischen Kolonieen des Deutschen Reiches einen Besuch abstattet, wird mit vier großen Völkergruppen in Berührung kommen, nämlich erstens den zum Stamm der Eweneger gehörigen Togoleuten, zweitens mit den die Küste des Kamerunlandes bewohnenden Sippen, die ich unter dem Gesammtnamen „Kamerunvolk“ zusammenfassen möchte, drittens mit den Fan oder Binnenlandsbewohnern des südlichen Kamerungebiets und viertens mit den allenthalben in Westafrika als Arbeiter und Gehilfen des weißen Mannes dienenden, bekanntlich aus Liberia stammenden und nach abgelaufenem Vertrage auch stets wieder zur Heimath zurückkehrenden Krunegern. Allen Individuen dieser vier Völkergruppen sind die bekannten körperlichen Merkmale der Negerrasse, nämlich schwarzbraune Hautfarbe und wolliges Haar, gemeinsam, aber in Bezug auf geistige Anlage, Charakter und Kulturstufe zeigen sich die allergrößten Verschiedenheiten.

Bei den Togonegern, die ein verhältnißmäßig friedfertiges und in materieller Beziehung zu ziemlich hoher Kulturstufe emporgestiegenes Naturvolk darstellen, ist dem Verfasser dieses Aufsatzes nichts so sehr aufgefallen, wie ihr an griechisch-römische und altägyptische Ueberlieferungen erinnerndes Religionssystem. Tritt man in ihre trotz alles phantastischen Aufputzes durchaus nicht ohne einen gewissen Geschmack angelegten Tempel, beispielsweise in denjenigen des Kriegs- und Sternschnuppengottes oder in denjenigen der Liebesgöttin, so weht uns bei aller Bizarrerie, die nun einmal der Negernatur anhaftet, ein gewisser Hauch des klassischen Heidenthums entgegen, wie wir ihn seit unserer Gymnasialzeit und dem Studium griechisch-orientalischer Mythologie nicht mehr empfunden haben. Freilich sind die in diesen architektonisch ganz interessanten Tempeln stehenden und, milde ausgedrückt, doch recht fratzenhaften Statuen aus rothem Thon alles andere eher denn Seitenstücke zum Zeus von Otrikoli oder zur milonischen Venus. Und ebensowenig können die über und über mit weißglänzenden Kaurimuscheln behängten Fetischweiber – die scheußlichsten Hexen, die man sich nur vorzustellen vermag – wenn sie in langer Prozession über die schmutzigen Straßen von Be oder Porto Seguro ziehen, mit dem ehrwürdigen Institut der römischen Vestalinnen verglichen werden. Aber an das alte Aegypten erinnert die in verschiedenen Gegenden sehr verschiedenen Thiergattungen gezollte göttliche Verehrung, die sie vor Verfolgung schützt und ihnen ein verhältnißmäßig bequemes Leben bereitet. Während im Togoland Kühe, Leoparden und die Krokodile einzelner Lagunentheile als gotterfüllte Wesen angesehen werden, baut man bei Groß-Povo und in Dahome den nicht giftigen Schlangen förmliche Tempel und betrachtet die Bachstelzen als Verkörperungen einer besonders mächtigen und einflußreichen Gottheit.

Die Kruneger, die sich durch viele Charaktervorzüge und namentlich auch durch ihren größeren Fleiß vor den Bewohnern des Togo- und des Kamerunlandes auszeichnen, stehen dennoch und trotz ihrer recht guten Anlagen in aller und jeder Beziehung auf einer sehr viel niedrigeren Kulturstufe. Der hervorragendste Zug ihres kindlichen und auf das Materielle gerichteten, aber jeder Bösartigkeit entbehrenden Charakters ist eine Heimathsliebe, wie sie im gleichen Grade kaum bei irgend einem europäischen Volke zu finden sein dürfte. Tritt man in eine der zu jeder Faktorei gehörigen Krukasernen, so findet man stets und unweigerlich ein und dieselben Wandmalereien, nämlich rohe und kindische Abbildungen großer und kleiner Dampfschiffe, sowie für jeden Insassen eine Art von Kalender, der durch täglich hinzugefügte und schließlich zu Mondmonaten zusammengereihte Striche anzeigt, wie weit das Jahr, auf das sich der Krumann verdungen hat,

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1889). Leipzig: Ernst Keil, 1889, Seite 255. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1889)_255.jpg&oldid=- (Version vom 30.3.2020)