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Verschiedene: Die Gartenlaube (1889)

helle Morgensonne erfüllte, sah bleich aus. Sie sollte in wenigen Tagen das Lehrerinnenexamen machen und hatte wohl daraufhin allzuviel gearbeitet in letzter Zeit, und das war ihr schwer geworden, denn all ihre Gedanken, ihr ganzes Interesse weilte wo anders. Sie hatte Angst vor dem Examen; sie würde glückselig sein, wenn vorher noch etwas einträte, was diese Qual unnöthig machte, was ihrem Leben ein anderes Ziel steckte, als Lehrerin zu werden.

„Gott sei Dank!“ sagte sie kühl ironisch auf die freudige Mittheilung, „der wäre besorgt und aufgehoben, Mama, und wenn ich nächstens Lehrerin werde, dann kannst Du ja mit Lore ganz behaglich hier leben.“ Sie warf dabei einen Brief auf den Nähtisch der Mutter.

„Von Lore?“ fragte die Majorin und griff hastig nach dem Bogen. „Liebe Schwester!“ las sie, „Neulich schrieb ich an Mama, heute sollst Du einen Brief bekommen. Onkel schläft, ermüdet von einer Wanderung durch die Sammlungen des Vatikan, ich sitze in meinem sonnendurchglühten Zimmerchen und höre auf das Geplätscher des Springbrunnens in dem kleinen Hof und sehe die Purpurblüthen des Kamelienbaumes leuchten zwischen dem dunkeln Grün seiner Blätter. In den stillen Stunden, wo ich allein bin, faßt mich, wie auch heute, eine unbezwingliche Sehnsucht nach Euch, nach meinem kleinen trauten Mansardenstübchen daheim.

Käthe, ich habe eine Bitte an Dich, gieb mir das Stübchen wieder, wenn ich zurückkomme, es war jahrelang mein glücklichster Erdenwinkel. Aber ich bin wohl unbescheiden?

Ueber den Stand meiner Angelegenheiten schreibe ich an Mama nächstens. Bald, ach bald werde ich frei sein, werde ich heimkommen zu Euch!“

Frau von Tollen ließ das Blatt sinken. „Ja, Käthe,“ sagte sie mild, „das Stübchen bekommt sie wieder.“

Käthe schwieg, sie hatte funkelnde Thränen in den Augen; die Mutter sah es nicht.

„Du sollst mein Schlafzimmer bekommen,“ fuhr sie fort, „denn wir ziehen ja nach oben, wenn ich hier unten vermiethe. Ich nehme Papas Schlafstube und in seinem Zimmer wohnen wir dann. Nicht wahr, Käthe, Du willigst ein? und wer weiß, wie alles kommt, Käthe, Du gehst am Ende bald einmal von uns fort.“

„Unter fremde Menschen,“ erwiderte das junge Mädchen bitter.

„Der Onkel nimmt Dich vielleicht auch einmal mit auf eine seiner Reisen.“

„Mich?“ klang es verächtlich.

Eine Pause entstand.

„Gehst Du auch heute wieder zu Schönbergs?“ fragte die Mutter.

„Freilich! Was soll ich machen?“ war die Antwort; aber um die Mundwinkel zuckte ein Lächeln.

„Ich bitte Dich, Käthe, bleib nicht so lange,“ bat die Mutter, „Du glaubst nicht, wie bange mir ist, wenn ich so ganz allein sitze. Du bist jetzt fast jeden Abend dort, und nachher suchst Du die verlorene Zeit durch nächtliches Studieren wieder zu gewinnen, Du mußt krank werden!“

Aber die Tochter sagte weiter nichts als: „Ich schicke Dir Tante Melitta zur Gesellschaft, Mama.“ Sie ging wieder zu ihren Büchern in das Stübchen hinauf, aber sie saß, ohne einen Blick hineinzuthun. In ihrem Innern tobte es und glühte es. Lore sollte hier wieder wohnen? – Nimmermehr! – Auf dem Schulplatz drüben schrieen und lärmten eben Quarta und Tertia, während Secunda und Prima würdevoll umherspazierten. Die Gruppe der Lehrer stand im grellsten Sonnenschein vor dem spitzbogigen Mittelportal und unterhielt sich. Er überragte sie alle mit seiner schönen schlanken Gestalt. Käthes glühende Augen meinten, er schaue hier hinauf, unverwandt. Es mochte wohl sein; er war allezeit so freundlich zu ihr, von einer so liebenswürdigen Zuvorkommenheit.

Sie trat gewöhnlich kaum in die Stube seiner Mutter, so erschien auch er, und er las ihnen vor und erzählte und mitunter spielte er vierhändig mit Käthe; sie meistens mit zitternden Fingern und unzähligen Fehlern, die er geduldig übersah, wie er auch geduldig ihre Aufmerksamkeiten über sich ergehen ließ.

Liebte er sie? War er nicht ganz anders gegen Lore gewesen?

Sie warf die Feder weg, an deren Stiel sie herumgebissen.

Wenn doch sein Blick aufglühen möchte in ihrer Nähe, wenn er einmal sagen möchte: „Käthe, meine Käthe!“ Sie wußte genau, wie er das aussprechen konnte. Und nun sollte Lore wiederkommen, frei, ganz frei und mit der alten heißen Liebe im Herzen – Sie würde das nicht ertragen, sie würde einfach verrückt!

„Heute abend!“ sagte sie auf einmal und strich sich die Haare glatt hinter den zierlichen Ohren. Und während sie mit großen offenen Augen auf den jetzt wieder todtenstillen Schulhof starrte, vertiefte sie sich in die herrlichsten Zukunftsträume.

Es war gegen sechs Uhr abends, als sie zu der Mutter trat, um Adieu zu sagen. Frau von Tollen befand sich im Garten; sie ging in der milden Luft auf und ab. Die Verlobung von Rudolf war ein Balsam gewesen auf ihr vergrämtes Herz; sie hatte ein Gefühl der Ruhe, zum ersten Mal wieder seit dem Tode ihres Mannes. Nun blickte sie freudig staunend auf die Tochter; Käthe erschien ihr eigenthümlich schön in diesem rosigen Dämmerschein des Frühlingsabends, sie hatte einen Strauß Schneeglöckchen vor die Brust gesteckt, der kleine einfache Hut mit dem langen Kreppschleier gab ihr etwas Phantastisches – oder lag es in dem glühenden Ausdruck der schwarzen Augen?

„Adieu, Mama!“ sagte sie.

„Adieu, Kind, grüß auch die Frau Pastorin!“ –

Käthe traf bei Schönbergs Mutter und Sohn ebenfalls im Freien. Sie wanderten miteinander durch die buchseingefaßten Gänge des ziemlich langen Gartens und athmeten die warme Luft des sommerlichen Märzabends.

„Da kommt Käthe doch noch,“ bemerkte die Frau Pastorin und bückte sich nach einem Leberblümchen, das unter der Last eines welken Blattes litt. „Guten Abend, Kind,“ rief sie ihr entgegen, „was sagen Sie zu dem Wetter? ’s ist just, als wär’s Mai.“

„Ja!“ erwiderte Käthe und blickte den Doktor an.

„Es ist, als ob einen die Luft trunken machte,“ bemerkte dieser, nachdem er das junge Mädchen begrüßt hatte. „Mutter, ganz gewiß, die Veilchen blühen schon irgendwo, riech doch nur!“

„Gott bewahre,“ sagte die alte Frau, „das sind die schwellenden Knospen an den Bäumen, das ist die Erde, das junge Gras, das Wasser ist’s und die milde Luft. Es will Frühling werden! Weißt Du noch, Ernst,“ fuhr sie fort, „wenn der Vater uns vorsang: ‚Die linden Lüfte sind erwacht, sie säuseln und wehen Tag und Nacht‘ – und weißt Du noch, wenn der Frühlingssturm über die Wiese fegte hinter unserem Hause und Du mir die ersten Anemonen mit aus dem Wald brachtest?“

„Ja freilich,“ antwortete er und wollte noch etwas hinzusetzen, aber die Mutter eilte plötzlich dem Hause zu. Dort in der Nähe grub das Dienstmädchen in den Gemüsebeeten.

„Aber, Deern!“ schrie sie, „willst Du wohl einhalten, da hab ich ja schon Spinat gesäet!“

Die alte Frau verschwand nach einer kräftigen Strafpredigt im Hause. Käthe und der Doktor schritten langsam dem unteren Theil des Gartens zu. Sie sprachen beide nicht. Am Flüßchen, das Wall und Stadtmauer von dem Garten trennte, stand unter hohen Rüstern eine einfache Holzbank, Käthe setzte sich darauf. Es war ein einsames Plätzchen, weder vom Hause noch vom Wall aus sichtbar. Ein Weilchen blieb er stehen vor ihr, die zu ihm emporsah mit ihren wunderbaren Augen. Dann setzte er sich neben sie – die Blicke des Mädchens hatten etwas Verwirrendes, Sehnsüchtiges und Trauriges.

„Käthe,“ fragte er unsicher, „bekümmert Sie etwas?“

Sie hielt die Hände im Schoß gefaltet und wandte den Kopf zu ihm. „Ja!“ sagte sie.

„Was denn? Wir sind ja gute Kameraden, Käthe, haben Sie Vertrauen zu mir!“

„Ich fürchte mich,“ flüsterte sie.

„Wovor denn? Vor dem Examen?“

„Nein – vor dem Leben.“

Ein Lächeln flog über sein Gesicht, aber es erstarb vor ihren wie in Angst erstarrten Blicken.

„Kind,“ fragte er weich, „weshalb denn?“

Sie begann plötzlich zu schluchzen, leidenschaftlich, bitterlich.

Er nahm ihre Hände, rathlos, was er beginnen sollte, ihr ganzer schlanker Körper bebte wie im Krampf. Er wußte selbst nicht wie es kam, daß er den Arm um ihre Taille legte und sie an sich zog. „Käthe, aber Käthe, fassen Sie sich doch!“ bat er. Ihr Kopf lag an seiner Brust, der Hut war zurückgefallen, und in der Frühlingsdämmerung sah er die tausend Fäden des duftigen braunen Haares und die rosige, von Thränen überströmte Wange des jungen Mädchens, das sich vor dem Leben fürchtete.

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