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Verschiedene: Die Gartenlaube (1889)

verloren. Alfred war der einzige gewesen, mit dem er in Verbindung geblieben; das heißt, er hatte zuweilen geschrieben und Alfred hatte ihm, als einziges Zeichen, daß seine Briefe willkommen und erwünscht wären, die wechselnden Adressen angegeben.

Marbod vertiefte sich mit dem über alle und alles genau unterrichteten Ravenswann in ein Gespräch über Peter und Paul und Fritz und Heinrich. Frau Mietze saß schweigend dabei. Alfred begann nach fünf Minuten unruhig auf seinem Stuhl zu werden, sah nach der Uhr, las das Programm, knöpfte sein leichtes Sommerjackett zu und nach weiteren zwei Minuten wieder auf und seufzte laut.

„Und Weber?“ fragte Marbod, als sie schon fast das ganze Corps durchgegangen waren.

„Der ist von der Leiter gefallen,“ sagte Alfred.

„Was?“ fragten die beiben andern Männer wie aus einem Munde.

„Nun ja, er war schon recht hübsch hoch geklettert, da wollte er mit einem Mal einige Sprossen zugleich nehmen und stürzte herab.“

„Wie meinst Du das?“ fragte Marbod.

„Für mich,“ begann Alfred, während er abermals nach der Uhr sah, „klettert die ganze Menschheit auf einer Leiter. Ich sehe sie aufklimmen und mit zitternden Fingern und gierigen Augen emporstreben. Droben hängen, wie die Siegespreise auf einer Kletterstange, die Ziele. Glück, Ruhm, Liebe, Geld und Macht. Und im Gedränge nach oben giebt einer dem andern kräftige Fußtritte. Es kommt auch vor, daß einer den andern hinunterwirft, noch öfter aber, daß einer, der zu schnell hinaufwollte, fehl tritt und purzelt. Der arme Weber wollte Geld haben und als er zweihunderttausend beisammen hatte, sollte es auf einmal eine Million werden. Seine Spekulation mit österreichischen Kreditaktien mißrieth ihm, ein Termingeschäft mit Kaffee ebenso, er hatte einige hunderttausend Differenzen zu zahlen, anstatt sie einzuheimsen, und da erschoß er sich, der arme Kerl. – Mir ist die Kletterei in der Seele zuwider. Ich halte nicht mit.“

„Na, na,“ sagte Ravenswann, indem er glaubte witzig zu sein und komisch war, „was die Liebe anlangt, so bist Du immer voran. Das ist schon kein Klettern mehr, das ist die reine Steeplechase.“

Alfred lächelte mitleidig.

„Wann darf man denn gratuliren?“ fragte Frau Mietze mit einer gewissen spitzfindigen Betonung.

„Wozu?“ fragte er seelenruhig entgegen.

„Nun, zu Ihrer Verlobung mit der Baronin Offingen. Frau Doktor Schneider war noch heute bei mir und sagte, alle Leute s-prächen davon, es ginge gar nicht mehr anders, man sähe Sie jeden Tag bei ihr, und wenn diesem Verkehr keine Verlobung folge, sei die Dame sehr kompromittirt. Ich sagte aber, so weit ich Herrn von Haumond kenne, würde er die Welt gewiß einmal mit einer Heirathsanzeige überraschen, und so eine gewöhnliche Verlobungszeit vorher sei ihm nicht apart genug,“ erzählte sie mit vielem Behagen.

„Wie nett von Frau Doktor Schneider und ‚allen Leuten‘, sich so für mich zu interessiren!“ antwortete Alfred verbindlich, fast mit einem dankbaren Ton.

Frau Ravenswann ärgerte sich, sie hatte gedacht, er werde etwas Aufklärendes sagen, denn sie hatte sich ihrer Freundin gegenüber gerühmt, ihm ins Gewissen reden zu wollen und etwas Sicheres über diesen fragwürdigen Fall zu erfahren. Ja, sie hatte auch ihrem Manne davon gesprochen, daß es seine Aufgabe als Freund sei, Alfred auf die Pflicht, sich zu verloben, hinzuweisen, und sie glaubte fest, daß dieser dem Rathe eines so bedeutenden, gediegenen und soliden Mannes folgen müsse.

„Sie weichen mir aus,“ sagte sie, „und es wäre doch Pflicht, gegen uns, die wir Ihre nächsten Freunde sind, offen zu s-prechen.“ Immer, wenn Neugier oder Bevormundungssucht sich in die Angelegenheiten anderer drängen, nehmen sie die Maske der Freundschaft vor.

„Darin muß ich Ihnen recht geben, meine gnädigste Frau. Und wenn ich erst ‚allen Leuten‘ etwas mitzutheilen haben werde, sollen Sie von diesen die erste sein, welche etwas erfährt,“ antwortete Alfred mit einem sehr ernsthaften Gesicht.

Die Frau war befriedigt, der Mann dachte darüber nach, ob nicht eine versteckte Impertinenz in Alfreds Worten gelegen habe, doch ließ ihm Marbod nicht Zeit, sich darüber klar zu werden, sondern fragte ihn nach seiner Berufsthätigkeit. Seine Vorgesetzten, sein Bureaudienst, das Aufrücken seiner Nebenangestellten – Ravenswann war im Finanzministerium – bildeten stets dieses Mannes Lieblingsgespräch, ja, fast sein ausschließliches. Mittags unterhielt er seine Frau, abends seine Freunde mit den kleinen Vorkommnissen seines Arbeitstages und hatte die Gewohnheit, von diesen ausgehend sich soweit zu erregen, daß er eine Art Vortrag hielt, der entweder vom Bimetallismus handelte, oder die Unnützlichkeit und Schädlichkeit der Parlamente und des daraus entspringenden Rechts der Abgeordneten, das Budget zu bemängeln, hervorhob. Angriffe und Beschneidungen des Staatsbudgets nahm er als persönliche Beleidigungen, und seine Frau, obschon sie von diesen Dingen weiter nichts verstand, fühlte sich dann mitbeleidigt und verachtete herzlich Menschen, die eine Sache bemängeln konnten, an der ein so bedeutender Kopf wie ihr Ludolf mitgearbeitet hatte.

Alfred sah noch zweimal nach der Uhr, während Ravenswann mit der ihm eigenen trockenen Stimme, die er in regelmäßigen Zwischenräumen kurz räusperte, in immer demselben Tonfall auf Marbod einsprach. Dabei lärmte ein von Blechinstrumenten wiedergegebenes Wagnersches Musikstück durch die Luft und dicht hinter Alfred hatte sich ein unwahrscheinlich dicker Mensch auf einen der kleinen Stühle gesetzt, so zwar, daß er den breiten Rücken dieses Menschen an seinen Schultern zu fühlen glaubte. Die eisernen Stuhllehnen quetschten sich wenigstens mit einem schneidenden Geräusch aneinander. Und als der dicke Mensch nun noch gar mißtönig ausspuckte, schrak Alfred so zusammen, daß er gleich danach aufstand und mit fast bebender Stimme sagte:

„Ich halte diesen Musiklärm und dieses Menschenaneinander nicht mehr aus. Zudem ist es die Zeit, wo ich noch einer Einladung zur Baronin Offingen zu folgen habe.“

„Wie schade, ich dachte, wir könnten den Abend zusammen beendigen,“ meinte Marbod.

„Du kommst natürlich mit!“

„Geht das?“

„O,“ sagte Frau Mietze ungewöhnlich lebhaft, „die Offingen ist nicht so schwierig.“

Alfred, der ohnehin schon sehr bleich aussah, biß sich auf die Lippen. Aber es war ihm nicht mehr der Mühe werth, ein scharf verweisendes Wort zu sagen.

„Sie kennen die Dame auch? Sie verkehren auch mit ihr?“ war die natürliche Frage Marbods.

Frau Marie Ravenswann kniff ihre Lippen erst zusammen, ehe sie sie öffnete, um zu antworten:

„Kennen – o ja! Aber wir verkehren nicht.“

Darin lag eine solche Abwehr, ein solcher Richterspruch, daß Marbod erstaunt zu dem Freund aufblickte, den Frau Marie mit eben dieser Dame vorhin verlobt gesagt. Er las in Alfreds Augen aber einen so ruhigen Spott, daß er nicht mehr besorgt um die Erklärung dieser hervortretenden Feindschaft war.

„Du mußt wissen“ sagte Alfred, „die beiden Damen passen nicht besser zusammen als Wasser und Feuer. Und außerdem hat unsere verehrte Frau Assessor noch von ihrer Heimatstadt her die Gewohnheit, nur mit Leuten zu verkehren, denen sie auf irgend eine Weise verwandt ist, oder die ihr wenigstens von irgend einem Verwandten günstig geschildert worden sind.“

„Eine Vorsicht,“ meinte Ravenswann gereizt, „die nicht genug zu loben ist, besonders in unserer modernen, von fragwürdigen Elementen durchsetzten Gesellschaft.“

„Aber wir wollten ja gehen,“ mahnte Alfred ungeduldig, als hätte er gar nicht gehört, was der Assessor gesprochen.

„Sie werden uns bald besuchen?“ fragte Frau Ravenswann sehr liebenswürdig den sich erhebenden Marbod. Dieser sagte zu, und man schied von einander, wobei Alfred sich so heiter und freundlich zeigte, als wären gar keine scharfen Worte hin und her geflogen.

„Es ist doch seltsam,“ sagte er dann, als er mit dem Freunde dem Ausgang zuschritt, „im Augenblick, wo ich den Leuten Adieu biete, fühle ich immer ein Wohlwollen für sie und ich denke, daß man doch einst manche gute Stunde mit Ravenswann hatte. Freilich, doch eigentlich nicht mit ihm, sondern bloß in seiner zufälligen Gegenwart, aber auch das verbindet.“

„Haben sie Kinder?“

„Noch nicht. Und die Natur verhüte, daß sich diese steifleinene Rasse weiter fortpflanze!“

Sie schwiegen eine lange Zeit. Alfred führte den Freund durch die eleganten Villenstraßen des Thiergartenviertels. Der

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1889). Leipzig: Ernst Keil, 1889, Seite 223. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1889)_223.jpg&oldid=- (Version vom 3.5.2021)