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Verschiedene: Die Gartenlaube (1889)

„Es wird viele treffen; keiner denkt jetzt dran, und Wind und Wetter sind schneller als sie alle. O der Mond, der Mond!“

Fast mit beschwörender Gebärde hob die alte Frau den rechten Arm gegen den Himmel auf. Als sie ihn wieder sinken ließ, bemerkte sie, wie die feuchte Strandlinie wieder schmäler geworden war. Das Meer war nicht zu dem angemessenen Tiefpunkte der Ebbe zurückgetreten, sondern stieg nach geringem Weichen und nach kurzer Frist aufs neue.

Diese Wahrnehmung jagte Nanninga zurück. Ihr altes muthiges Herz hämmerte gegen die Brust. Die kranke Tochter, die Zwillingsenkelchen, das ganze dürftige kleine Heim auf der Sandscholle, Arnt, alles sah sie dem Untergange preisgegeben. Der Wind riß ihr dunkles Kopftuch ab, daß ihr graues Haar in langen Strähnen flatterte – sie ließ es flattern! Ihre Tochter, ihr Kind! Das war ihr einziges Fühlen. Sie sah weit draußen ein Schiff mit den anstürmenden Naturkräften kämpfen. – „Das ist verloren, aber Beta nicht, nein, nein, keines hier, so lange in diesen alten, zähen Armen noch ein Lebensfunken sich regt!“ das war ihr einziger Gedanke. Und das Pochen und Hämmern in Kopf und Brust überwindend, tappte sie zum Fehding zurück, füllte den Eimer und trug ihn keuchend ins Haus. Wieder ging sie hinaus zur Wassergrube, aufs neue Wasser holend, als müsse die Haushaltung auf Wochen versorgt werden. Als die alte Frau zum drittenmale zurückkehrte, fand sie vor der Thür der Hütte einen Menschen zusammengekauert sitzen.

„Arnt“ wollte sie im ersten Augenblick freudig rufen, doch der Ton stockte, denn Arnt trug nicht so feine städtische Kleider mit so hohem, steifem Kragen; er trug eine grobe Jacke und den Hals frei, auch waren seine Hosen nicht so eng, und die Hände – o die Hände – der fremde Mensch hatte ja weiße, kleine Mädchenhände und dazu lange braune, zurückgestrichene Haare; Arnts gelbe Haare waren über der Stirn kurz geschnitten und hingen über die Ohren herab.

„Häh?“ rief die Friesin den Menschen an, welcher, die Hände vors Gesicht geschlagen, auf den Stufen niedergesunken schien. Erschreckt fuhr er in die Höhe und starrte die Alte an. Vielleicht glaubte er ein Wesen aus altersgrauer Zeit zu erblicken oder eine sturmerzeugende Wetterhexe; aber da er in ein Paar lebendiger Augen sah, so stand er auf und wollte, gegen das Windgeheul anschreiend, seine Anwesenheit erklären.

Die Alte machte eine abwehrende Handbewegung und deutete auf die Hütte, deren Thür sie aufstieß und, nachdem auch der Fremde eingetreten, sorgfältig mit einem schweren hölzernen Riegel schloß. Von dem Getöse draußen betäubt, mußte der Mann eine Weile die Augen schließen, ehe er in dem dunklen Vorraum der Hütte etwas zu erkennen vermochte. Was er sah, mußte ihm ebenfalls wie eine Hexenküche vorkommen, die braunen, plumpen Geräthe, der cyklopische Herd mit dem weit ausladenden Schornstein darüber, vor allem aber das alte Weib, welches sich um den Gast durchaus nicht bekümmerte, sondern eben aus dem Hintergrunde ein Thier hervorzerrte, ein Schaf, welches sie ohne weiteres bei den Füßen ergriff und auf ihre Schultern zu laden suchte. Doch die zitternden Kräfte reichten nicht hin, die Last zu heben; ächzend ließ sie das Thier sinken und ihre Augen richteten sich funkelnd auf den Fremdling, indem sie sagte:

„Zu schwer! Seht Ihr’s nicht?“

Sofort faßte er an, obwohl ihm vor dem Weibe graute. Mit vereinten Kräften gehoben, lag das Schaf auf Nanningas Nacken, welche nun damit die Sprossen der steilen Leiter hinaufstieg, die neben dem Schornsteine nach oben führte und hier in einer dunklen Oeffnung endigte. Der Mann hörte die Friesin oben umhertappen und -räumen. Nein, in diesem unheimlichen Hause bliebt er nicht; lieber wollte er draußen die Gewalt von Sturm und Wetter ertragen. – Endlich kam die Alte zurück.

„Wollt Ihr mir sagen, Frau, auf welcher Insel ich bin?“

„Keine Insel! Hallig Olderog,“ lautete die kurze Antwort.

„Ich bin bei gutem Wetter mit einem Boot abgefahren, um zur Winterszeit das Meer in seiner Pracht zu sehen; ich bin nämlich einer, der Bilder malt, da kam der Sturm und –“

Nanninga unterbrach ihn scharf: „Es ist jetzt nicht Zeit zum Schwatzen! Handeln, Herr! schaffen!“ Und schon kam sie mit dem zweiten Schafe angekeucht, dicke helle Tropfen standen auf der Stirn der alten Frau. Das konnte der Fremde nun nicht mit ansehen, er sprang hinzu und bot seine Schultern dar. Aber das zappelige Thier wollte nicht darauf liegen bleiben, weil er es wohl zu ungeschickt anfaßte. So blieb nichts anderes übrig, die Alte trug auch das zweite Thier auf den Boden. Sie bedeutete aber dem Fremdling, mit einem gefüllten Eimer Wasser ihr zu folgen. „Ist das Weib verrückt?“ dachte der Mann, that jedoch nach ihrem Geheiß. Oben stieß Nanninga eine Dachluke auf, daß der letzte Strahl des trüben Februartages in den Raum fiel und sie Ausblick gewannen über die kochende See. Nur die Friesin überschaute die wachsende Gefahr, der Fremde hatte keine Ahnung von derselben. Weit über den Stand des gewöhnlichen Hochwassers brandeten die Fluthen an dem Eiland empor; im fahlen Dämmerlicht stürzten aus Westen immer neue Wellenberge heran; ihre schneeigen Häupter reckten sich höher und höher auf, eines das andere überstürzend, als müßten sie das Inselchen rasch aus dem Wege räumen, um desto schneller das Festland zu erreichen. Schon war der blinkende Eisgürtel des Festlandes in Millionen Schollen zersprengt, welche stoßend und treibend sich in und über einander thürmten, gewaltige Spielbälle einer gewaltigen Macht. Ueber dem allem die sinkende Nacht und kein Hauch einer menschlichen Seele, nur das Donnern und Brausen der Sturmfluth.

„So muß Salvator Rosa das Meer geschaut haben, wunderbarer, großer Anblick!“ sagte der Fremde.

Doch die Alte rief plötzlich: „Ruhig, Herr!“ Durch das furchtbare Getöse in Luft und Wasser hatte ihr Ohr einen Ton vernommen, welcher auch im Brausen der Hölle nicht untergehen kann für ein Mutterohr – das Wimmern einer Kinderstimme. So rasch, daß der Fremdling ihr kaum folgen konnte, kletterte Nanninga die steile Stiege hinab und eilte zu Beta.

Im Stübchen herrschte fast völlige Dunkelheit; die Kindlein in der Wiege schrieen, da es sie hungerte, die Kranke aber hatte im Fieberwahn ihr Bett verlassen; sie riß das Fenster auf, welches der Wind sogleich in tausend Scherben zerschmetterte, und in die Nacht hinaus rief sie nach Arnt, nach der Mutter, nach ihren Kindern. „Ich will sie behalten, ich geb’ sie nicht her. Kommt die See? Laß sie kommen, ich halte meine Kinder fest. Brülle nicht so, o das thut weh! o mein Kopf! Sie kommt, sie kommt! Arnt ist noch nicht da.“

Bei diesen furchtbaren Klagetönen einer gequälten Seele überkam den Fremden mit einen Male die Gewißheit der grausigen Gefahr, in welcher die Hallig und mit ihr das Haus und die Menschen schwebten. Entsetzen durchrann seine Glieder und nur mit Mühe zwang er die Zähne, daß sie nicht bebend an einander schlugen. In dieser Weltauflösung zwei Frauen, von denen eine alt, die andere todkrank, mit zwei Kindern allein – furchtbares Schicksal!

„Fürchtet Ihr Schlimmes?“ fragte er Nanninga.

„Fürchten? Laßt das Wort nicht hören, sondern packt an und helft!“

„Wie und wo soll ich helfen? Befehlt nur, Frau!“ sagte er mit bebender Stimme.

Inzwischen hatte Nanninga an dem letzten Funken im Ofen einen Kienspan entzündet; sein rothes, qualmendes Licht beleuchtete die unheimliche Scene nur mangelhaft. Dann herrschte sie den Fremden wieder kurz an: „Das Fenster muß zugeschlagen werden!“ und wandte sich dann zu Beta, welche noch immer wilde Zwiesprach hielt.

„Wo finde ich Material und Handwerkszeug?“ fragte der Mann.

„Ist nicht Holz genug in der Stube? Da in der Ecke liegen Hammer und Nägel; braucht Eure Augen und Hände! Beta, mein Kind, nun komm, ’s ist Zeit zum Schlafengehen; Du mußt Dich legen, weil Du noch schwach bist. Der Arnt kommt schon, hör’ nur, ich glaube, das ist seine Stimme. Du brauchst nicht zu sorgen! Ich bin ja bei Dir, und heute nacht wollen wir auf dem Boden schlafen, da ist’s besser, viel besser.“

Welcher herzlichen, weichen Laute war diese strenge Frau fähig! Um zu lauschen, hielt der Mann inne mit seinen Hammerschlägen, durch welche er eine alte Bank vor die klaffende Fensteröffnung nageln wollte. Der Einfluß der weichen, ruhigen Worte auf die Kranke machte sich sogleich geltend; wie ein glückliches Kind ließ sie sich von der Mutter ankleiden. Doch mitten in der dabei unerläßlichen Bewegung brach die Kranke plötzlich ohnmächtig zusammen, so daß die alte Nanninga fast mit umgerissen wurde.

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1889). Leipzig: Ernst Keil, 1889, Seite 211. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1889)_211.jpg&oldid=- (Version vom 15.9.2022)