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Verschiedene: Die Gartenlaube (1889)

unter dem schwarzen Tüchlein noch mal auf die junge Tochter, welche, unter schweren Kissen fast begraben, mit hochrothem Antlitz in der festgefügten Bettstatt ruhte, auf die rohgezimmerte Wiege neben dem Bette, wo zwei süße Kindergesichter schlummerten, die kaum länger als zwei Mal vierundzwanzig Stunden im Lichte athmen mochten – dann schlich die Alte wieder hinaus, so vorsichtig und lautlos, wie es die beginnende Zittrigkeit und die plumpen Holzschuhe zuließen.

Da draußen vor der Hütte setzte sich die alte Frau auf einen rundgewaschenen Steinblock nieder, stützte den Kopf in die hohle Hand und schaute über die endlose graue Wasserfläche, welche sich ringsum ausdehnte. Wie ein winziges festes Pünktlein lag das kahle Sandinselchen in der schwankenden Unendlichkeit; hier und da am farblosen Horizont streckte sich ein etwas dunkleres Grau, von dem die Halligbewohnerin wußte, es sei der Sandrücken einer Nachbarhallig. Im übrigen bildete das niedrige Haus auf dem Erdhügel das einzige Zeichen menschlichen Lebens weit und breit.

Nicht geschützt durch Deiche und künstliche Wehr wie die größeren Inseln sind die Halligen, sondern sie ragen frei aus dem Meere auf, dessen Fluthen an ihrem Dasein nagen, und es giebt keine andere Schutzwehr als die unbezwingliche Heimathsliebe und das felsenfeste Vertrauen der armen Halligmenschen zu der Scholle ihrer Väter und der ewig wogenden See.

Die beiden Frauen, Mutter und Tochter, waren die einzigen Menschen in dieser Meereseinöde. Nicht doch, in der Wiege lagen noch zwei neugeborne Menschlein, auf denen das ernste Auge der friesischen Mutter mit dem Ausdrucke unsäglichen Entzückens ruhte.

„Die Augen von Arnt, wenn er den Segen sieht, freuen mich im voraus,“ murmelte die Alte vor sich hin. „Daß er auch grad’ in dieser Zeit fort sein muß! Na, ’s macht nichts; die Beta kam auch auf die Welt, als ich hier allein saß und keinen weiter um mich hatte als den halbwüchsigen Andresen – was so ein Bengel wohl helfen kann? – ’s ging aber doch und die Beta ist groß und stark geworden. Freilich, mein Hansen, der kam nicht zurück; das Kind mußte ohne den Vater aufwachsen und Bruder Andresen mußt’ auch dran glauben, Anno acht, wo unsere Leut’ wider Recht und Neigung dem Franzosenkaiser zugeschickt wurden. Und Bruder Peter blieb bei der Hochfluth vor drei Jahren; weil das Lamm nicht verloren gehen sollte, mußt’ er selbst ’s Leben lassen. Ja, unsere Mannsleut’, ’s ist ’ne tüchtige Sorte!“

„Wahrhaftig, Beta hat recht, die See brummt, aber ’s ist doch still ringsum, wird wohl nichts zu sagen haben. Drüben nach der Küste zu steht ’s Eis ganz ruhig.“

Nicht in lauten Worten äußerte sich der Gedankengang der alten Friesin. Wer sie hätte vor der Thür ihres meerumtosten Hauses sitzen sehen, vor sich hinstarrend, die strengen Züge unbeweglich, der konnte wohl meinen, es sei eine der sagenhaften Frauengestalten aus längst verschollener, nordischer Götterzeit übrig geblieben und auf diese Sandscholle verbannt.

„Hm, ob Arnt dran denkt, daß unsere Wintergrütze beinah alle ist? Er wird schon, ist er doch ein verständig Mannsbild. Ja so, die Tüffeln wollte ich heut umschaufeln, ’s ist Petritag nahe, dann keimen sie.“

Die Alte stand auf und ging nach alter Gewohnheit erst rund um die Hütte, als wolle sie sich des Friedens von allen Seiten überzeugen.

An der Rückwand der Hütte befand sich ein ganz niedriger Schuppen, gleichsam ein Nestchen, angebaut, dessen Thür offen stand. Hier ließ die alte Frau einen langgedehnten hellen Ton über die Dünen erschallen, und alsbald kamen von den Sandbergen herbei zwei Schafe getrottet, die sich um die Alte drängten und von dieser in den Stall geschoben wurden, wo ein Kübel frischen Wassers für die Thiere bereit stand.

Noch immer zögerte die alte Frau, unter Dach zu gehen, obgleich die Mittagsstunde nahte, wo nicht nur die Mehlsuppe für Beta, sondern auch die Kartoffeln für sie selbst gekocht werden mußten.

„Arnt hätte doch nicht gehen sollen,“ murmelte sie, indem sie unter der zweitheiligen Thür stehen blieb und, die Hand über die Augen erhebend, das langsam steigende Hochwasser beobachtete. Von unsichtbarer Kraft getrieben, wuchsen die Fluthen rings um das Inselchen. „Nicht gerade sehr hoch, November letzten Jahres wuchs das Wasser schneller, aber ’s ist Vollmond heut, und der Südwest, o der Südwest!“

In der That wehte der am frühen Morgen mäßige Wind jetzt mit einiger Stärke, indeß nicht stark genug, daß ein unbefangener Mensch hätte etwas Besonderes darin finden können. Aber die Friesen sind ein Menschenschlag, welcher durch die tausendjährige Liebe zu und den tausendjährigen Kampf mit dem ewigen Meere gleichsam dessen Urgeist nahe rückt und seine leisesten Aeußerungen versteht, freilich ohne sich dessen bewußt zu werden.

Dieses unter der Herrschaft des nivellirenden Zeitgeistes immer mehr schwindende, rein instinktive, wahrheitstreue Naturverständniß fand sich von jeher bei ihnen stark ausgebildet, doch die höchste Stufe erreichte es bei den Inselfriesen, und unter diesen wieder bei den jedes menschlichen Schutzes entbehrenden Halligbewohnern. Insbesondere bei den Frauen war das Ahnungsvermögen in Bezug auf gewaltige Naturereignisse stark ausgeprägt, und die alte Nanninga, welche von Geburt an auf ihrer meerumtosten, dürftigen Scholle gesessen, galt weit und breit für eine Art Wetterprophetin, welche im geheimen von manchem aussegelnden Küsten- und Seefahrer um eine Voraussagung gebeten wurde.

Die Krankensuppe war fertig, aber das Mittagsmahl der alten Nanninga blieb ungekocht. Sie saß vor dem Bette der Tochter, nöthigte ihr einen Löffel voll nach dem andern ein und schaukelte die Wiege, dabei eintönig summend.

„Mutter, es weht! Wo ist Arnt? Ist nicht Vollmond heute, wo das Wasser steigt?“ sprach die Kranke, indem sie den Löffel zurückschob und, sich aufrichtend, einen Blick durch das kleine, vom Sandflug getrübte Fenster zu gewinnen suchte. Nanningas harte, runzlige Hand drückte sanft die Aufgeregte in die Kissen zurück.

„Alles ist gut, Arnt kommt heute abend heim mit ’ner Hand voll Geld und ’nem freudigen Sinn.“

„Wasser, Wasser!“ schrie Beta.

„Sollst haben, meine Tochter, ganz frisches hole ich.“ Sie nickte Beta zu und schlürfte hinaus. Der schmale enge Raum zunächst dem Eingange bildete Flur und Küche zugleich; ein mächtig ausgebauchter Schornstein, unter welchem ein aus Steinen zusammengethürmter Herd stand, nahm die größere Hälfte ein. Auf dem Herde glimmte ein stilles Torffeuer, dessen Gluth in heller Röthe aufflammte, so oft ein Windstoß durch den Schornstein einen Weg in die Hütte sich bahnte.

„Es weht aus West,“ murmelte die Alte, „nur bei West laufen die Funken; Herrgott, wollest in Gnaden uns behüten!“ Und sie nahm mit sicherer Hand die glimmenden Torfstücke, legte sie neben einander auf den Steinboden und goß Wasser darüber. Aber ja kein „frisches“, das ist viel zu kostbar für solche Verschwendung, sondern Salzwasser, das die See liefert. Einen Eimer, oder wie die Inselfriesen sagen, eine Back nehmend, die wie alle Holzgeräthe der dürftigen Wirthschaft und wie das Balkenwerk der Hütte selbst tiefbraun gebeizt ist von Salzwasser und langem Gebrauch, zum größten Theil auch aus solchem Holz besteht, welches der Sturm in Gestalt von Balken und Planken dem Strande zuwarf – ging Nanninga zu ihrem Fehding. Das ist das kostbarste Gut der Halligbewohner, die tiefe und ängstlich behütete Sandgrube, welche in einer Senkung möglichst geschützt liegt und in welcher das Regenwasser zusammenläuft, der einzige Brunnen, welcher die Bewohner dieser Eilande vor Durst schützt.

Hier bei der Wassergrube stellte die alte Friesin ihren Eimer aus der Hand, ging ein wenig strandab der See zu und starrte mit unbeweglichen Augen den feuchten Saum entlang, welchen das zurücktretende Meer an dem sandigen Eilande gebildet hatte.

Nur ganz schmal, kaum einen Fuß breit, dehnte sich die dunkle Linie.

Aus Westen drängten die Wogen aufs neue heran und aus gleicher Richtung stürmte der Wind daher, gegen welchen die alte Frau sich nur mühsam auf den Beinen halten konnte.

Tief am Horizonte schwankten einige Segel, bald in grelles Licht, bald in tiefes Dunkel getaucht, je nachdem aus dem jagenden Gewölk ein Sonnenstrahl sie traf oder die nächste schwarze Wolke sich herabzusenken schien.

Obwohl über Nanningas graues Haupt unzählige Stürme hinweg gebraust waren, flog doch ein Ausdruck tiefsten Schreckens über ihr gefurchtes Antlitz.

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1889). Leipzig: Ernst Keil, 1889, Seite 210. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1889)_210.jpg&oldid=- (Version vom 14.9.2022)