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Verschiedene: Die Gartenlaube (1889)

Seit den ältesten Zeiten gab dieser eigenthümliche Berg der Phantasie seiner Umwohner und den Leuten im Hügellande draußen gar viel zu schaffen. Längs seiner Flanken brechen oft verheerende Gewitter ins Land hervor; wenn abends die andern Berge sanft sich röthen, so schaut er düster zu Thale und wirft seinen Schatten auf den blauen See der Vierwaldstätten. Oft verhüllt er sein Haupt mit Gewölk, oft wieder überragt er stolz die Nebel, die seinen Fuß umwallen. Er kam der Welt von jeher gar absonderlich vor, und es spann sich mit der Zeit ein Gewebe von Sagen und Legenden um ihn so dicht wie um keinen andern Berg des Alpengebietes. Drachen, kriechende und fliegende, gespenstische Vögel, Erdmännchen und versteinerte Heilige sollen auf ihm gewohnt haben; der jüdische Landpfleger, dessen Namen er trägt, sollte in einem kleinen See des Berges hausen und, von Steinwürfen aufgeregt, sich aus demselben erheben, um durch schlimme Wetter Tod und Verderben auf das Land herniederzusenden. So fest glaubte das Mittelalter an die unheimliche Macht des Pilatusgespenstes, daß der Rath von Luzern die Besteigung des Berges bei schwerer Strafe verbot und die Hirten und Sennen in Eid und Pflicht nahm, niemand hinauf zu lassen. Erst die neuere Zeit hat den düstern Schleier von dem verfehmten Berge hinweggezogen. Seit der Genfer Naturforscher Saussure die Welt auf die wunderbare Schönheit der Bergwelt aufmerksam gemacht und Albrecht von Haller den Alpen sein erhabenes Loblied gesungen hat, ist der Pilatus von Tausenden bestiegen worden, die nicht genug erzählen können von der Großartigkeit seines Aufbaues, von seinen Schluchten und Felswänden, von der einzig schönen Aussicht, die sich dem Auge auf seinem Gipfel erschließt.

Der Zudrang zu dem Berge wurde seit Anfang unseres Jahrhunderts nach und nach so bedeutend, daß für Unterkunft auf seiner Höhe gesorgt werden mußte; vor ungefähr dreißig Jahren entstanden die Gasthäuser am „Klimsenhorn“ und in der Lücke zwischen dem „Oberhaupt“ und dem „Esel“, den zwei mächtigen Felsköpfen, die den Berg krönen. Allein für viele war die Besteigung unmöglich, weil sie eine erhebliche Anstrengung erforderte. Da reifte allmählich der Gedanke, den Freunden des Gebirges den Pilatus ebenso zugänglich zu machen, wie es sein glücklicher Nebenbuhler drüben überm See, der liebliche Rigi, geworden war. Zwei entschlossene Männer aus Zürich, die Herren Oberst Locher und Guyer-Freuler, traten im Dezember 1885 mit einem kühn gedachten und sorgfältig ausgearbeiteten Entwurfe einer Pilatusbahn vor die Oeffentlichkeit. Die Mittel fanden sich, und bald war die Gesellschaft zum Bau der Bahn gebildet. Die beiden Namen Locher und Guyer hatten in weiten Kreisen einen guten Klang, denn ihre Träger hatten sich, der eine als Ingenieur und Mechaniker, der andere als Organisator und Finanzmann, beim Bau einer der schwierigsten Strecken der Gotthardbahn, Flüelen-Göschenen, durch einsichtige und unermüdliche Thätigkeit ausgezeichnet. Es ist billig, neben diesen beiden Männern auch einen dritten zu nennen, einen der besten Kenner des Pilatus, Major Britschgi in Alpnach-Staad, der sich als Vermittler zwischen der Baugesellschaft und der Gemeinde Alpnach, deren bis zur Wasserscheide auf dem Pilatus reichendes Gebiet die Bahn durchzieht, ein entschiedenes Verdienst um das Werk erworben hat.

Im Sommer 1886 wurde mit dem Bau begonnen und schon zu Ende des Sommers 1888, nach einer Bauzeit von zwei Jahren, die der Unbill der Gebirgswitterung wegen nicht einmal zur Hälfte ausgenutzt werden konnte, war er im wesentlichen vollendet.

Vom Endpunkte des südwestlichen Kreuzarmes des Vierwaldstättersees, von Alpnach-Staad aus, erhebt sich die Bahn in kühnem Aufstieg von 441 Metern auf 2070 Meter Meereshöhe zum schmalen Joche zwischen den Felskuppen des „Oberhauptes“ und des „Esels“. Einem Höhenunterschied von 1629 Metern steht eine Bahnlänge von nur 4618 Metern gegenüber. Die mittlere Steigung beträgt 42% = 22° 47′, die Maximalsteigung 48% = 25° 39′. Größere Steigungen wurden bis jetzt nur durch Drahtseilbahnen überwunden; als Zahnradbahn steht diejenige des Pilatus mit einer Steigung von 48% einzig da.

Vom Thalgrunde zieht sich die Bahn über die obstbaumbesetzten Matten von „Obsee“ empor, tritt in jäh ansteigende Laubwaldung ein, welche bei einer grausigen Schlucht, „Wolfort“ genannt, in Tannenwald übergeht. Auf einer merkwürdigen, an einer Kurve liegenden steinernen Brücke überschreitet die Bahn die genannte Schlucht, um durch zwei steil sich hebende Tunnels zur „Risleten“ zu gelangen, wo das seit Jahrtausenden nieder-„rieselnde“ Gestein und Geschiebe eine mächtige Schutthalde an die Bergflanke gelegt hat. Bald ist die Region der Alpweiden in der „Aemsigenalp“ erreicht. Hier befindet sich unweit einiger ehrwürdigen, riesigen Wettertannen die Ausweichstelle für die sich begegnenden Züge. Großartig ist schon hier die Aussicht. Unter einer anhaltenden Steigung von 48% gewinnt die Bahn einen obern Staffel, wie die übereinander liegenden Bergstufen in den Alpen genannt werden, die trümmerreiche, von einem großartigen Kranz von Felskuppen umstandene „Mattalp“. Hier stellen sich jäh ansteigende, unwegsame Felsen der Bahn entgegen. Wie soll sie weiter kommen? Sie findet den Weg; sie wendet sich etwas ostwärts gegen die „Rosegg“ und klettert von dort aus in schwindelnder Höhe an der senkrecht abfallenden Eselswand empor, welche sie in vier Tunnels durchbricht.

Staunend über die Großartigkeit der Anlage in dieser wilden Bergwelt, blicken wir hinab auf die tief unter uns liegende Mattalp. Wie eine an den Berg gelehnte Leiter kommt uns die zurückgelegte Strecke der Bahn vor, und wir können kaum glauben, daß wir da heraufgekommen sind. Die Bahn umfährt die westliche Ecke der gewaltigen Kuppe des „Esels“, nimmt einen letzten, kühnen Anlauf und zieht endlich durch ein hohes Portal in das Stationsgebäude von „Pilatuskulm“ ein, das sich neben dem Berghotel an die Felswand schmiegt.

Der Bahnkörper bildet vom Seegestade bis auf die Berghöhe eine ununterbrochene, fest auf dem Felsgrund des Berges aufliegende und mit mächtigen Granitplatten bedeckte Mauer. Die Platten kommen aus den Steinbrüchen von Osogna im Thale des Tessin am jenseitigen Fuße des Gotthard.

Der Oberbau der Bahn ist von Meter zu Meter durch sehr starke schmiedeeiserne Klammern mit dem Mauerwerk verankert. Er besteht aus zwei Laufschienen und einer Zahnstange mit doppelter, zweiseitiger Zahnreihe. Die Zähne sind durch eigens erfundene Maschinen aus dem Stahl herausgefräst. Das Fahrzeug besteht aus der kleinen, gedrungenen Maschine mit einem Arbeitsdampfdruck von 12 Atmosphären und einem Wagen mit vier stufenweise ansteigenden Abtheilungen; der ganze Zug faßt außer dem Bahnpersonal 32 Personen. Jedes Fahrzeug hat zwei Paar Zahnräder mit senkrecht stehenden Achsen. Diese Räder bewegen sich demnach wagrecht und greifen von beiden Seiten in die Zahnstange ein. Die Konstruktion des Oberbaues sowohl als die der Maschinen bürgt in Verbindung mit automatischen und regulirbaren Bremsen für vollständige Betriebssicherheit. Die Fahrgeschwindigkeit beträgt bei der Bergfahrt sowohl als bei der Thalfahrt 1 Meter in der Sekunde, so daß die Bahn nach jeder Richtung in etwa 80 Minuten durchfahren wird.

Unter eigenartigeren Verhältnissen als hier ist wohl noch selten eine Bahn gebaut worden. Die Unwegsamkeit und Steilheit der Abhänge, die in den oberen Partien bisher vollständig unzugänglich waren, machten schon die Vorarbeiten außerordentlich schwierig. Wildheuer und Gemsjäger sind keinen größeren Gefahren ausgesetzt und haben nicht mehr Muth und Kaltblütigkeit aufzuwenden, als dies für die Ingenieure der Pilatusbahn und ihre Gehilfen nöthig war. Sie haben aber unter der Führung von Oberst Locher und Oberingenieur Häußler ihre schwierige Aufgabe mit wahrem Heldenmuth gelöst.

Unser Bild, das uns in die oberste Region des Berges, auf die Mattalp und an die Eselswand hinaufführt, vergegenwärtigt in Nr. 7 die Schwierigkeit des Bauangriffes hoch an den Felsen droben. Dort hinauf zu gelangen oder sich an Seilen und Ketten von oben herunter zu lassen, das waren Wagstücke ohnegleichen, und unendlich schwierig waren die Arbeiten da, wo man oft kaum den halben Fuß fest aufsetzen konnte und nirgends sich ein Halt darbot. Die Erfahrungen, die beim Eisenbahnbau an Thale gemacht worden sind, ließen hier oben die Ingenieure und Arbeiter sehr oft im Stiche, so daß der leitende Unternehmer für jedes einzelne Werk auf neue, den außerordentlichen Schwierigkeiten angepaßte Mittel und Wege sinnen mußte.

Hohe Anforderungen stellte die Natur des Berges auch an die Organisation der Arbeit und der Verpflegung. War am Morgen eine Anordnung getroffen, so mußte sie eingetretenen Unwetters wegen oft schon vor der Mittagszeit abgeändert werden. Es war fortwährend ein die höchste Intelligenz und Geduld erfordernder Kampf mit tausend unvorhergesehenen Vorkommnissen nöthig, wie er selten bei andern Eisenbahnbauten zu führen ist.

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1889). Leipzig: Ernst Keil, 1889, Seite 207. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1889)_207.jpg&oldid=- (Version vom 23.3.2024)