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Verschiedene: Die Gartenlaube (1889)

Es war aber auch etwas Unerhörtes. Der ferne Gipfel des Mittagkogels, zu welchem man stundenweit zu gehen hatte, lag da vor ihr, als ob sie ihn mit den Händen zu greifen vermöchte. Und gerade unter ihm eine Menge schwarzer Gestalten, so deutlich, daß sie die Gesichtszüge eines jeden erkennen konnte.

Es waren die Treiber. Ihre Umrisse mit den Gegenständen, welche sie in der Hand trugen, wie Gabeln, alte Gewehre oder Stöcke, hoben sich scharf vom Schnee ab.

Wunderlich nahm es sich aus, daß Regina keinen Ton von all diesen Menschen zu hören bekam, welche, wie es schien, sich in ihrer nächsten Nähe bewegten. Doch war es ihren Bewegungen und Gebärden deutlich anzusehen, daß sie nicht nur sprechen, sondern auch schreien mußten.

Was konnte das alles zu bedeuten haben?

Regina erinnerte sich an manche Erzählung ihres Vaters, in welcher er ihr das wundersame Spiel geschildert hatte, welches mitunter an diesen Gebirgen der Küste die Zauberin des Mittags, die Fata Morgana, aufführt. Ferne Gegenden, Stücke der Meeresfläche mit ihren Segeln, entlegene Waldlandschaften tauchen mit einem Male empor und rücken in die nächste Nachbarschaft des Beschauers heran.

Heute war sie dieses Wunders gewürdigt worden. Die zwei Strömungen, von denen die eine kalt und trocken, die andere feucht und warm war, hatten die Spiegelung geschaffen. Mit verhaltenem Athem, als ob sie imstande wäre, durch ihren Hauch das zarte Gebilde zu verwehen, folgte sie den Bewegungen der Gestalten.

Plötzlich nahm sie wahr, daß alle Männer auf einen weißen Hügel zustürzten, um welchen an einer Stelle die Zweige der Tannen versengt waren; dort blieben sie stehen und es schien, als ob alle angestrengt lauschten.

Dies dauerte aber nicht lange. Dann sah Regina, wie sie mit ihren Gabeln, Schaufeln, Stangen und Stöcken im Schnee herumbohrten. Wie wüthend arbeiteten die Männer, der emporgehobene Schnee flog um sie herum wie Schaumflocken.

Mit einem Male stieg einer in die Grube, welche gegraben worden war, hinab. Dann sah Regina zwei, drei Bretter herauffliegen. Gleich darauf kam der Mann wieder zum Vorschein, hinter ihm aber stieg langsam eine Gestalt herauf, bei deren Anblick sämmtliche Männer die Arme in die Höhe hoben.

Diese Gestalt war Luka und kein anderer.

Plötzlich aber erhoben sich alle diese Männer mitsammt dem Luka in die Luft. Die einen derselben blieben aufrecht stehen, die anderen streckten die Füße gegen den Himmel. Dann zuckten sie noch ein paarmal hin und her und mit einem Mal war alles zerronnen.

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Es war noch nicht abend, als Regina den erklärenden Text zu diesem Bilde bekam.

In der Försterstube schwirrte es von Stimmen, von Fragen, Rufen und Gelächter. Die Luchsjagd war heute erfolglos geblieben. Das störte aber nicht, wie sonst, die gute Laune der Jäger. War doch der Mensch wieder zum Vorschein gekommen, der nicht bloß dem Förster so böse Stunden bereitet hatte.

Es war einfach zugegangen. In jener Nacht hatte es sich der Fallensteller in der verlassenen Hütte bequem machen wollen, weil ihm die Bora draußen zu arg mitspielte. Dann hatte diese so viel Schnee über der Hütte in der Lichtung zusammengetragen, daß er nicht mehr heraus konnte, selbst wenn er in der Finsterniß die Thür gefunden hätte. Er hatte Branntwein und Speck bei sich, womit er sich die paar Tage und Nächte am Leben erhielt. Uebrigens hatte er die Stärkung auch nothwendig, denn er brüllte in einem fort, um die Aufmerksamkeit von irgend jemand zu erregen, der vorüber gehen konnte.

Am meisten hatte er gestern gebrüllt, als er undeutlich Menschenstimmen vernahm. Es war die Gesellschaft gewesen, die sich an einer Stelle, an welcher der Wind den Schnee von den Kohlen weggeweht hatte, das Feuer anzündete, um den vermeintlichen Wolf zu verscheuchen.

Und sein Brüllen hatte denn auch heute seine Rettung herbeigeführt, welche Regina in der Fata Morgana sich abspielen gesehen hatte.

Nur der geistliche Herr dachte daran, dem Luka, den sie mehr todt als lebendig heim schleppten, eine Strafpredigt zu halten. Die anderen alle meinten, er habe seine paar Schlingen genug abgebüßt.

Was den Luchs anbelangt, so mußte er irgendwo durch die Kette der Treiber hindurchgesprungen sein. Wahrscheinlich war er ihnen entwischt, während sie sich um den weißen Hügel, unter dem die Hütte lag und wo man den Nothschrei des Meßners dumpf herauftönen hörte, zu schaffen gemacht hatten.

Am vergnügtesten war ohne Zweifel Regina. Wer anders hatte die Unschuld ihres Vaters aufgehellt, als Sebaldus?

Der Abend verfloß unter heiteren Gesprächen und auch dem Forstmeister fiel es nicht ein, in die Stadt zurückzukehren.

Am nächsten Tage aber litt es den Sebaldus nicht länger, er erzählte dem Eisenhans und dem Forstmeister, was er seinerzeit beim Weißen Thore gesehen hatte.

Die beiden Männer trauten ihren Ohren nicht, als sie vernahmen, daß sich Sebaldus in diesen lothrechten Abgrund hinabgewagt habe. Sie konnten es nicht verstehen, was ihn veranlaßt haben mochte, in solcher Weise sein Leben einzusetzen. Sebaldus aber hütete sich wohl, ein Wörtlein verlauten zu lassen über die Beweggründe und Muthmaßungen, von welchen er geleitet worden war.

Der Forstmeister ließ sich wiederholt beschreiben, was Sebaldus am Rande des Abgrundes und auf dem Balken wahrgenommen hatte, dann forderte er ihn auf, mit ihm und dem Eisenhans in den Wald hinaus zu gehen.

Nach einer Stunde standen sie beim Weißen Thor. Der Forstmeister beugte sich so weit wie möglich vor, dann wendete er sich gegen seinen Begleiter und sagte mit einem eigenthümlichen Ausdruck: „Nun, weißt Du, Sebaldus, ein Mensch ist’s nicht, aber ein Hund. Es ist mir gerade, als ob ich dabei gewesen wäre. Da liegt der Hund begraben!“

„Flott?“ erwiderte Sebaldus.

„Es ist nicht anders,“ sagte der Eisenhans zum Forstmeister. „Läge er nicht da drunten, kein anderes Hinderniß hätte ihn aufgehalten, nach Hause zu kommen. Den armen Kerl hat der Luchs gejagt. Er ist in seinem Schrecken vor einer solchen Bestie, die er niemals gesehen hatte, weit hineingesprungen.“

Sebaldus erwiderte kein Wort. Das Unrecht, welches er in Gedanken dem Förster angethan hatte und das nach der vorliegenden, augenscheinlichen Wahrheit nunmehr fast lächerlich erschien, schnitt ihm die Rede ab.

Schweigend traten die Männer den Rückweg an. Sebaldus verabschiedete sich von ihnen beim Kreuzweg. Der Eisenhans aber trat aufgeräumter als je mit dem Forstmeister in die Stube.

Franz und Regina saßen im Gespräche bei einander. Der Eisenhans steckte sich seine Pfeife an, setzte sich im Lehnstuhl zurecht und begann zu erzählen, was ihm Sebaldus gezeigt hatte.

Regina unterdrückte die Bewegung, die sich ihrer bemächtigte, als sie von dem Vorgange hörte, welcher sie damals so sehr erschreckt hatte. Dagegen konnte sie einer Blutwelle nicht Einhalt gebieten, welche ihr frisches Gesicht tief röthete, als ihr Vater sagte:

„Der Sebaldus ist doch ein verflucht schneidiger Kerl – wenn ich einen Sohn hätte, so einen hätte ich mir gewünscht, – das echte Jägerblut!“

Ihre Bewegung entging weder Franz und dem Eisenhans, noch dem Forstmeister. Franz sagte lächelnd:

„Mir scheint, das Katzenthier hat doch auch sein Gutes gehabt. Erstlich wäre der arme Teufel da drüben verkommen, wenn es sich nicht im Wald gezeigt hätte, und dann –“

Er warf Regina einen Blick zu und stockte, offenbar in Verlegenheit über das, was er weiter sagen wollte.

Der Forstmeister aber kam ihm zu Hilfe, indem er sich zum Eisenhans wendete:

„Unsere alten Deutschen waren auch nicht auf den Kopf gefallen. Sie hatten eine Hochzeitsgöttin, die hieß Freya. Ihren Wagen, in dem sie oft in voller Schönheit durch das Land fuhr, zogen Luchse. Mir scheint, sie muß sich irgendwo daher in unsere Nähe verirrt haben.“

Der Eisenhans ging auf den scherzhaften Ton ein und erwiderte: „Nun ja, es ist noch nicht aller Tage Abend.“

Regina stand rasch auf und verließ das Zimmer, indem sie ihr Gesicht von den Männern abwendete. Franz aber rief ihr nach: „Und der Frühling und die Sonne bringen es an den Tag!“




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