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Verschiedene: Die Gartenlaube (1889)

Während dieser durch die finsteren Bogengänge vor den Kaufläden schritt, blieb er plötzlich wie versteinert stehen. Er hatte hinter sich flüstern gehört:

„Der ist es, der ihn umgebracht hat!“

Als er sich umdrehte, sah er einige Weiber, sie stutzten, als sie seinen Blick auf sich gerichtet sahen, und gingen in weitem Bogen an ihm vorüber.

So weit also war es schon gediehen! Er war Mörder in den Augen des Volks. Wer weiß, was er, nachdem er sich von der Ueberraschung erholt, gethan hätte, wenn es Männer gewesen wären!

Als er in das Gewölbe trat und ein kleines Korallenhalsband kaufte, frug ihn der Herr, welcher ihn als ständigen Kunden kannte, ob es wahr sei, daß oben im Walde ein armer Mensch von einem Bösewicht auf die grausamste Weise ermordet worden sei.

Nun riß ihm die Geduld, er brach in eine solche Fluth von Verwünschungen aus, daß der Besitzer des Ladens eiligst in das Hinterstübchen flüchtete und seiner Gattin zurief, sie solle Leute herbeiholen, der Herr Förster sei wahnsinnig geworden. Als aber auf das Geschrei der Frau einige Männer herbeieilten, war der Eisenhans schon zum Laden hinausgestürzt. Er rannte durch die Gassen gleich einem scheu gewordenen Pferde, so daß ihm alt und jung nachschaute.

Was ihm in diesem Augenblicke alles durch den Kopf ging! Ein Mensch thut sein ganzes Leben hindurch seine Schuldigkeit, weicht nicht einen Augenblick von seiner Pflicht ab, ist ein Ehrenmann, den seine Vorgesetzten schätzen und auszeichnen – auf einmal kommt ein dummes Gerede, und er ist ein Scheusal, dem die Menschen ausweichen, ein Geächteter. Was bedeutet die Ehre? Mußten die Menschen nicht, wenn sie einen Verdacht gegen ihn aussprechen hörten, demselben eher Unglauben als Glauben entgegenstellen? War die Unbescholtenheit seines vergangenen Lebens gar nichts? Ein Wort genügt – und alles geht in Rauch auf!

Unter solchen Gedanken stürmte er dahin. Da sah er Franz stehen, der seiner harrte. Bei diesem Anblick wich seine Entrüstung einem anderen Gefühle. War nicht diese treue Seele da, hatte er daheim nicht sein Kind?

Franz merkte wohl, daß wieder etwas vorgekommen sein müsse. Indessen sprach er nicht darüber, als er mit dem Eisenhans den dunkeln Cypressen zuschritt, welche den Beginn des Aufstieges zum Berge bezeichnen.

Während des Aufstieges redeten die beiden Männer nicht viel. Es war ein schwüler Südwind über das Land gekommen, welcher schier betäubend auf sie einwirkte und ihnen, von den Strahlen der Sonne unterstützt, vielen Schweiß auspreßte.

Seltsam – war es die Einwirkung des bleiernen Windes, die seit langer Zeit nicht mehr gewohnte Anstrengung, oder der Eindruck, den die Wortkargheit seines Gefährten hervorrief, auch in Franz begannen sich Zweifel an der Unschuld des Eisenhans zu regen. Er betrachtete ihn manchmal von der Seite und dachte sich: „Wer weiß, wer weiß, am Ende hat er ihn doch irgendwo niedergeknallt. Schön wär’s freilich nicht, einen solchen Schlingenleger, der nicht einmal ein Gewehr hat und der’s nur aus Noth thut.“

Als sie zur halben Höhe des Berges gekommen waren, rann das Wasser vom Schnee, welchen der Wind aufgeweicht hatte, in breiten Bächen über den Weg.

Noch niemals, so lange der Eisenhans auf dem Berge war, hatte er ein derartiges Schauspiel gesehen. Es rüttelte ihn aus seinen Gedanken empor. Es geschah dies um so schneller, als es sich darum handelte, über dieses und jenes Rinnsal hinüberzukommen. Es war wirklich gut, daß der Franz mitgegangen war, denn hier konnte einer, der nicht von einem Zweiten unterstützt wurde, kaum durchkommen. Sie brauchten die doppelte Zeit, als sie vorgesehen hatten, und es war fast abend, als sie das Forsthaus erblickten.

Wäre der Weg nicht durch den zerfließenden Schnee in einen Sumpf verwandelt gewesen, so hätten die Männer wohl schon eine geraume Strecke vor dem Hause Regina angetroffen, welche stets ihrem Vater, wenn er aus dem Land unten heraufkam, entgegen zu gehen pflegte. That sie es doch schon aus kindlicher Freude an den Kleinigkeiten, welche der Eisenhans niemals mitzubringen vergaß.

Heute aber war alles anders. Der Eisenhans schob seinen Gast in die Stube und ging selbst in einen andern Raum, um trockenes Schuhwerk zu holen für sich und den Franz.

Als der letztere in die Stube eintrat, schnellte Regina vom Boden in die Höhe; sie hatte offenbar vor dem Kruzifix in der Ecke gekniet. Als sie ein Kind war, hatte sie den Franz zum letztenmal gesehen, daher kannte sie ihn nicht.

Ihr erster Gedanke war, der Mann komme, ihren Vater abzuholen und fortzuführen.

Franz war nicht viel weniger überrascht über den Anblick, den ihm das aufgescheuchte Mädchen bot. Noch war er im Begriff, in etwas verworrener Rede auseinanderzusetzen, auf welche Weise er hierher gekommen wäre, als der Förster eintrat.

Regina begrüßte ihren Vater, wie wenn er von einer jahrelangen Reise zurückgekommen wäre. Auf einen Wink verließ sie jedoch für eine Weile die Stube, während Franz sich theilweise umkleidete, um die durchweichten Stücke vom Leibe loszuwerden.

„Mir scheint, ich habe das arme Kind in Angst versetzt,“ sagte Franz zum Förster.

„In Angst?“ frug dieser betroffen.

„Gewiß, sie hat mich angestarrt, wie wenn sie fürchtete, ich würde ihr etwas anthun.“

„Immer die nämliche verfluchte Geschichte!“ rief der Eisenhans, indem er mit der Faust auf den Tisch schlug. „Ich wollte doch schon gleich –“

Franz begriff, was sein Freund damit sagen wollte. Sein Verdacht, der sich ihm während des Weges in einigen Augenblicken aufgedrängt hatte, war wieder entschwunden.

„Höre, Eisenhans,“ sagte er, indem er ihm die Hand vertraulich auf die Schulter legte, „die Geschichte müssen wir herausbringen. Ich bin ein alter Fuchs – und es müßte doch der Teufel seine Hand im Spiele haben, wenn wir diese Fährte nicht aufspürten.“

„Ja ja, ich weiß,“ erwiderte der Eisenhans halb lächelnd und gerührt durch die Anhänglichkeit des alten Weidgenossen, „Dich haben sie ja immer für einen Zauberer gehalten. Wenn einer diese Geschichte aufspürt, so bist Du es. Ich sage nur so viel, daß ich nicht eher wieder schlafen kann, als bis der Luka zum Vorschein gekommen ist.“

Regina trug das Abendessen auf. Während desselben sprachen die Männer vom Wetter und von der absonderlichen Wärme. Das Mädchen verhielt sich schweigend. Es sah wohl, daß der Sinn keines der beiden bei dem Gegenstand ihres Gespräches war.

Es dauerte denn auch nicht lange, so wich diese künstliche Zurückhaltung. Franz, der lange Zeit wie geistesabwesend seinen Blick auf eine Ecke des Zimmers geheftet hatte, brach plötzlich in die Worte aus:

„Auf den Sebaldus hätte ich am meisten Zutrauen. Den kenne ich noch von der Stadt her als einen durchtriebenen Burschen. Wenn der es nicht ’rauskriegt, was mit dem Luka vorgegangen ist, so verschießen wir alle miteinander unser Pulver umsonst.“

„Wirklich ein findiger Kerl,“ entgegnete der Eisenhans. „Aber er ist neulich hinausgegangen und hat auch nicht mehr herausgebracht als die andern.“

„Ich meine es nicht gerade so,“ fuhr Franz nachdenklich fort. „Ich denke vielmehr, daß er sich besser auskennt, weil, so viel ich weiß, seine Leute verwandt sind mit der Familie des Luka.“

Es war ein Glück, daß keiner der beiden Männer, während dies gesprochen wurde, einen Blick aus Regina warf. Alle Lebensfarbe war aus ihrem Gesichte gewichen, sie saß da, als ob sie einen Schlag mit einer Keule erhalten hätte.

Würden die beiden Männer dies wahrgenommen haben, so hätte es ihnen unmöglich entgehen können, daß Regina ein Geheimniß verbarg, welches mit der räthselhaften Geschichte zusammenhing. Es wäre alsdann zu peinlichen Fragen gekommen und die drei hätten sich nicht in der scheinbar ruhigen Stimmung getrennt, in welcher sie einander „gute Nacht“ sagten, um ihr Lager aufzusuchen.

Dennoch war der Tag der Ueberraschungen noch lange nicht zu Ende.

7.

Regina leuchtete dem Jäger Franz in seine Schlafstube.

Das sonst so aufgeweckte und muntere Mädchen schritt lautlos vor ihm her, die Augen auf die Treppe und auf den Boden geheftet. Die unheimliche Gestalt des Vermißten ging durch das Haus und ließ niemand zur Ruhe kommen.

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1889). Leipzig: Ernst Keil, 1889, Seite 196. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1889)_196.jpg&oldid=- (Version vom 15.9.2022)