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Verschiedene: Die Gartenlaube (1889)

sich entfernten. Durch das Fenster, welches auf den Wald hinaus ging, erblickte sie die beiden Gestalten, die sich von einer kleinen Schneefläche abhoben.

Einer der Forstwarte machte mit dem rechten Arm eine Bewegung, wie wenn er vom Försterhaus weg eine Linie zöge in der Richtung gegen die Sehnsuchtstanne und noch weiter in den Wald hinein. Sein Genosse folgte der Bewegung mit den Augen. Dann wurden laute, heftige, leidenschaftliche Worte gewechselt.

Endlich wandten sich die Männer dem Walde zu. Regina sah noch, wie sie sich am Kreuzwege trennten, und noch immer scholl der Klang ihrer Stimmen, vom Wiederhall aus den geschlossenen Baumreihen verstärkt, zu ihr herauf.

In diesem Vorkommniß fand Regina etwas Räthselhaftes. Als solches erschien es ihr um so mehr, als jetzt mit einem Mal, wie aus einer Versenkung herauf, das Bild vor ihr stand, wie während des Abends der eine der beiden Männer, während ihr Vater sich mit der Wanduhr beschäftigte und der geistliche Herr ihnen eben den Rücken drehte, mit dem Daumen gegen den Eisenhans gewiesen und dabei eine ihr unverständliche Miene gemacht hatte. Es überkam sie ein beängstigendes Gefühl. Sie wußte sich keine klare Rechenschaft zu geben, aber es war ihr, als ob aus dem Walde die Finsterniß herandringe, von Unglücksrufen begleitet.

Die Nacht verging, ohne daß das Mädchen ein Auge geschlossen hätte. Glänzend kam der Tag herauf und Regina ging in das untere Stockwerk, um das Frühstück zu bereiten. Zu ihrem Erstaunen fand sie ihren Vater bereits wach.

„Ich bin heute früher aufgestanden, liebes Kind,“ sagte er. „Ich muß einen schweren Gang thun. Es hat mir heute die ganze Nacht über keine Ruhe gelassen. Jetzt gehe ich in die Stadt hinab und zeige bei meinen Vorgesetzten und beim Gerichte alles an, was ich vom Luka weiß.“

Regina war es eine Beruhigung, dies zu hören. Sie suchte dem Vater die Kleider hervor, die er bei einem solchen wichtigen Gange anzulegen pflegte, ermahnte ihn, wohl auf sich achtzugeben, begleitete ihn eine Strecke weit bis dahin, wo die Straße steiler gegen das Thal abzufallen beginnt, und schaute ihm noch lange nach, bis er hinter der nächsten Windung verschwand. Sie ahnte nicht, daß bei seiner Rückkehr sie ihn nicht wieder mit den nämlichen Augen anblicken würde wie in dieser Stunde des Abschiedes.

Der Tag war sonnig und nach den heftigen Stürmen, welche das Ausgehen verwehrt hatten, regte sich in dem Mädchen die Lust, nach langer Zeit wieder einmal weiter in den Wald hinein zu gehen. Das gleichmäßige Ticken der Wanduhr, die Stille im Hause und draußen auf dem Wege, dann die Gedanken, mit welchen sie den Vater auf seinem Gange begleitete, hatten in ihr eine Stimmung erzeugt, unter deren Zwang sie die enge Stube verließ, in der Hoffnung, daß draußen im Wald, in welchem sich schon die ersten Regungen des Frühlings bemerkbar machen mußten, vielleicht eine bessere Laune über sie kommen würde.

Sie ging auf dem gewohnten Pfade in der Richtung gegen die Sehnsuchtstanne. Manchmal, wenn sie ihren Blick zur Seite wandte und in die große Bläue hinabsah, in das Flachland tief unten und auf das Meer, dann dachte sie sich: so muß es im Himmel sein, wenn man herabschaut. Auch neben ihr auf dem Pfade war es so still und sonnig, als ob der ganze Bereich einer anderen Welt angehörte. Die Tannen standen im ruhigen Glanze da, als wären es Weihnachtsbäume.

Während sie dahinschritt, ganz allein mitten durch den Wald, hatte sie keine Anwandlung von Furcht, war sie doch ein Försterskind. Aber seltsam, – in ihr Sinnen schlich sich ein Gedanke ein, der ihr völlig ungerufen und wie aus weiter Ferne zukam.

Sebaldus, der jüngere von den beiden Förstern, welche gestern im Hause gewesen waren, hatte ihr einmal vor Zeiten gesagt, sie sei eine „Rose unter Dornen“. Als sie ihm abwehrend erwidert hatte, gab er vor, auf die Unwirthlichkeit der Umgebung angespielt zu haben; sie wußte aber wohl, daß der freundliche junge Mensch es anders gemeint hatte. Jetzt kam ihr das, wie von der sonnigen Luft hergeweht, wieder in den Sinn. War sie nicht wie ein wanderndes Dornröschen da in dem unabsehbaren Walde?

Als sie aus ihren Träumereien wieder zu sich kam, erschrak sie fast. Sie war tiefer in den Wald hineingerathen, als sie es beabsichtigt hatte. Da sie Wege und Stege genau kannte, so war es ihr deutlich, daß sie sich in der unmittelbaren Nähe des sogenannten „Weißen Thores“ befinden müsse. Nach wenigen Schritten hatte sie dasselbe erreicht. Das Thor war aber nicht ein solches, welches vom Boden in die Höhe ragte, sondern eines unter der Erde. Man befand sich am Rande eines Schachtes, welcher in eine unabsehbare Tiefe hinabführte. Warf man einen Stein hinunter, so drang nur ein schwacher Hall aus der Tiefe, ein hinlänglicher Beweis für die mächtige Ausdehnung des Hohlraumes.

Der Rand war mit Gras bewachsen und hier und dort streckte eine Tanne ihre Wurzeln über den kreisrunden Abgrund vor. Auch dort noch, wo der sanftere Hang des Randes anfing, lothrecht abzustürzen, hatte an einzelnen Stellen irgend ein junger Baum oder Strauch an der Wand Wurzel gefaßt. Weiter hinab aber war nichts zu sehen als die glatte Felsenröhre, welche in Nacht endigte. Wenn man sich an gewissen Stellen des Randes aufstellte und in den Schacht hinabschaute, so gewahrte man einen gewaltigen Schwibbbogen, welcher dem ganzen Abgrund den Namen des „Weißen Thores“ verschafft hatte.

Niemals hatte es ein Mensch versucht, in diesen Abgrund hinabzusteigen. Niemand wußte auch, wie tief er war. Der Aberglaube versetzte hierher Bergmännlein mit rothen Kappen, welche dort unten ein wunderbares Leben führten und in Pracht und Herrlichkeit hausten, jeden Versuch aber, in ihr Reich einzudringen, mit dem Tode bestraften. Das Volk ging deshalb nicht gerne vorbei, und nur Knaben pflegten gelegentlich aus Neugierde heranzukommen, um Steine hinabzuwerfen. Deshalb war auch weit und breit um den Rand herum kein Stein zu finden. Solche Würfe hatten übrigens nicht die Rache der Bergmännlein zur Folge, sondern nur den Aufflug von Tauben und Krähen, welche dort in ihren Schlupfwinkeln gestört wurden.

Regina war seit langen Jahren nicht mehr an dem geheimnißvollen Schlunde gewesen und betrachtete jetzt neugierig die in die Tiefe abfallenden Felsen. Sie ging so weit vor, als es die Vorsicht gestattete. Zuletzt ergriff sie mit der rechten Hand noch den Zweig einer jungen Tanne und beugte sich weit hinaus.

Doch, wie von einer unsichtbaren Macht zurückgeworfen, entfernte sie sich alsbald um einige Schritte. Sie legte die Hände auf die Brust und seufzte tief auf. Es war gewiß keine Täuschung. Sie hatte einen Menschen gesehen, welcher sich dort unten in der Halbdämmerung an der Wand regte. Das mußte Luka sein. Der vermißte Unglücksmensch war gefunden! Aber – wie ums Himmels willen war er dort hinab gerathen und, noch seltsamer, wie vermochte er sich an der lothrechten Wand zu halten?

Doch alle diese Gedanken beschäftigten sie nur einen Augenblick. Im nächsten schrie sie hinab: „Luka! Luka!“

Ihr antwortete ein Ruf, der eigenthümlich klang, so etwa wie Ueberraschung oder Schrecken. Jetzt erst bemächtigte sich des Mädchens wirkliche Bangigkeit.

Alsbald begann es dort unten zu klirren und zu rasseln. Offenbar lösten sich Steine los und sprangen in Sätzen in die Theile des Abgrundes hinab, welche Nacht bedeckte.

Das Geräusch stieg immer höher und höher empor. Die Steine prasselten fort. Regina hatte nicht den Muth, wieder so nahe an den Rand vorzutreten, wie sie es vorhin gethan hatte.

Es verflossen peinvolle Augenblicke, endlich aber tauchte ihr gegenüber an dem jenseitigen Rand ein Kopf auf.

Jetzt löste sich für Reginas Augen das Räthsel. Der Mann hatte sich nicht auf übernatürliche Weise aus der Nacht emporgehoben, sondern war an einer Strickleiter heraufgeklettert. Das oberste Ende der Strickleiter aber war um den Tannenbaum drüben geschlungen und das Gras hatte sie verhindert, es zu sehen.

Auch war der Ankömmling nicht der aus dem Grabe emporsteigende Luka, sondern Sebaldus. Wer ihr wohl gesagt hätte, daß sie ihn auf solche Weise wiedersehen würde!

Nicht minder groß war das Erstaunen des Sebaldus, als er Regina erblickte. Doch fiel es ihr auf, daß er sie nicht begrüßte, sondern sie schweigsam betrachtete. Das war sonst niemals die Art des munteren jungen Mannes gewesen.

Er schaute das Mädchen fast ängstlich an und wollte etwas sagen, aber das Wort blieb ihm in der Kehle stecken.

Mittlerweile hatte sich Regina gefaßt und sprang ihm über die Baumwurzeln und das Moos des Randes rasch entgegen.

„Ums Himmels willen, Herr Sebaldus, wie kann man sein Leben wagen wegen einiger Tauben! Wenn ich das dem Vater erzähle, so glaubt er es nicht.“

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