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Verschiedene: Die Gartenlaube (1889)

hundert. Ich setzte in Gedanken rasch ähnliche Vierecke aneinander und kam in die Tausende. Aber ich hätte viele Tausende solcher Vierecke bilden können und den von Vögeln bedeckten Raum noch nicht erschöpft. Die Millionen, von denen man gesprochen, waren vorhanden. Nur auf Augenblicke bot sich das Bild scheinbarer Ruhe unseren Blicken dar. Bald begannen die Vögel wieder aufwärts zu fliegen, und wie vorher entstiegen Hunderttausende zu gleicher Zeit dem flüssigen Elemente, um zum Berge empor zu klettern; wie vorher bildete sich die Wolke um ihn, wie vorher verwirrten sich unsere Sinne. Unfähig, noch zu sehen, betäubt durch das unbeschreibliche Geräusch um mich her, warf ich mich auf den Boden nieder, und von allen Seiten herbei strömten die Vögel. Um mich her ließen sie sich nieder; mit Staunen betrachteten sie die fremde Gestalt; tänzelnden Ganges näherten sie sich mir bis auf so geringe Entfernung, daß ich nach ihnen zu greifen versuchte. Die Schönheit, der Reiz des Lebens zeigte sich in jeder Bewegung der absonderlichen Vögel. Mit Erstaunen sah ich, wie steif und kalt auch die besten Abbildungen sind; denn ich bemerkte eine Regsamkeit und eine Lebhaftigkeit in den wundersamen Gestalten, welche ich ihnen nicht zugetraut hätte. Nicht einen Augenblick saßen sie ruhig, bewegten mindestens Kopf und Hals fort und fort nach allen Seiten hin, und ihre Umrisse gewannen wahrhaft künstlerische Linien.

Achtzehn Stunden verweilte ich auf diesem Vogelberge, um das Leben der Alken kennen zu lernen. Als die Mitternachtssonne groß und blutig roth am Himmel stand und ihr rosiges Licht auch auf die Wände unseres Berges warf, trat die Ruhe ein, welche die Mitternacht auch im hohen Norden zu bringen pflegt. Das Meer um die Berge herum war leer geworden; alle die Vögel, welche bis dahin in ihm gefischt und getaucht, waren zum Berge aufgeflogen. Hier saßen sie jetzt, wo sie ein Plätzchen zum Sitzen fanden, in langen Reihen, lange, blendendweiße Linien bildend. Ihr „Arr“ und „Err“, welches trotz der Schwäche der einzelnen Stimmen unsere Ohren betäubt hatte, war verklungen, und nur die Brandung, welche sich unten am Felsen brach, rauschte und tönte noch zu uns herauf.

Nicht die Massenhaftigkeit des Auftretens allein ist es, durch welche die Alken fesseln; auch ihr Leben und Treiben bietet des Anziehenden viel. Ihre geselligen Tugenden erreichen während der Brutzeit eine unvergleichliche Höhe.

Um die Osterzeit etwa ziehen alle, mehr schwimmend als fliegend, dem Berge zu. Nun aber giebt es auch unter den Alken mehr Männchen als Weibchen, und nicht jedes der ersteren ist so glücklich, eine Gattin zu erringen. Die beklagenswerthen Wesen, welche wir, ins Menschliche übersetzt, als Hagestolze bezeichnen, wandern ebenso gut wie die glücklichen, unterwegs kosenden und tändelnden Paare dem Berge zu, fliegen mit ihnen zur Höhe hinauf und ziehen mit ihnen zur Jagd auf das benachbarte Meer hinaus. Die Paare beginnen, sobald die Witterung es gestattet, ihre alten Höhlen neu herzurichten, sie auszuräumen, zu vertiefen, ihre Kammer zu vergrößern, erforderlichenfalls auch eine neue Brutstätte auszugraben, und sobald dies geschehen, legt das Weibchen auf den nackten Boden der am hinteren Ende ausgewölbten Brutkammer sein einziges, aber sehr großes, kreiselförmiges, buntgetüpfeltes Ei und beginnt, nun abwechselnd mit dem Männchen zu brüten. Für die armen Junggesellen, bricht damit eine traurige Zeit an. So helfen sie sich denn, indem sie glücklichen Paaren zu Hausfreunden sich aufdrängen. Wenn in den Stunden um Mitternacht im Neste das Weibchen brütet und außen vor demselben das Männchen sitzt, gesellen sie sich letzterem, und wenn das Männchen die im Meere fischende Gattin ablöst, halten sie außen Wache, wie vorhin das rechtmäßige Männchen es that. Wenn aber beide Eltern gleichzeitig ins Meer hinabfliegen, beeilen sie sich, wenigstens einigen Lohn für ihre Treue zu ernten. Ohne Zögern rutschen sie in das Innere der Höhle und Wärmen inzwischen das verlassene Ei. Diese selbstlose Hingebung hat eine Folge, um welche wir Menschen die Alken beneiden könnten: auf den Bergen, welche diese Vögel bewohnen, giebt es kein Waisenkind. Sollte der Gatte eines Paares verunglücken, so bietet sich der Witwe augenblicklich Ersatz, und sollte der seltenere Fall eintreten, daß beide Nestinhaber, beide Eltern eines Jungen zu gleicher Zeit ihr Lehen verlören, so sind die gutmüthigen Ueberzähligen sofort bereit, das Ei vollends auszubrüten, das Junge zu erziehen.

Letzteres unterscheidet sich wesentlich von dem der Enten und Möven. Es ist nicht Nestflüchter, sondern Nesthocker. In dichtem, graulichem Dunenkleide entschlüpft es der Eihülle, in welcher es zum Leben erwachte, muß aber nun noch wochenlang in seiner Höhle verweilen, bevor es im stande ist, den ersten Ausflug zum Meere zu wagen. Dieser Ausflug ist, wie zahllose Leichen auf den Klippen am Fuße der Berge beweisen, stets ein gewagtes und Gefahr bringendes Unternehmen. Geführt von beiden Eltern, ängstlich die noch ungeübten Beine, kaum minder besorgt die eben erst zur Entwickelung gelangten Schwingen gebrauchend, folgt das Junge seinen Erziehern, welche es nach und nach bergabwärts oder doch zu einer Stelle geleiten, von welcher aus der Absprung in das Meer möglichst gefahrlos erfolgen kann. Auf solchem Vorsprunge verharren beide Eltern und das Kind oft längere Zeit, bevor es ersteren gelingt, das letztere zum Sprunge zu vermögen. Der Vater wie die Mutter reden förmlich zu; das sonst wie alle Vogeljungen gehorsame Kind achtet nicht ihrer Zurufe. Der Vater entschließt sich, vor den Augen des zögernden Sprossen hinabzustürzen in das Meer; der unerfahrene Sprößling bleibt sitzen. Neue Versuche, neues Zureden, förmliches Drängen. Da endlich wagt er den gewaltigen Sprung, stürzt wie ein fallender Stein, tief in das Meer hinab, arbeitet sich, unbewußt dem Triebe gehorchend, wieder zur Oberfläche empor, schaut um sich, blickt über das unendliche Meer und ist ein Seevögel geworden, welcher fortan keine Gefahr mehr scheut.

Wiederum verschieden ist das Leben und Treiben auf denjenigen Vogelbergen, welche von der Stummelmöve zu Brutplätzen gewählt werden. Ein solcher Berg ist das Vorgebirge Swärtholm, hoch oben im Norden zwischen dem Laxen- und Porsangerfjord unweit des Nordkaps. Ein liebenswürdiger Normann, der Führer des Postdampfschiffes, welches mich trug, erfüllte gern meine Bitte, an dem Brutorte vorüberzufahren. Schon in einer Entfernung von sechs bis acht Seemeilen überholten uns fortwährend Flüge von dreißig bis hundert, zuweilen auch zweihundert Stummelmöven, welche sämmtlich dem Nistplatze zuflogen. Je näher wir Swärtholm kamen, um so rascher folgten sich diese Flüge, und um so zahlreicher waren sie. Endlich zeigte dem Auge sich das Vorgebirge, eine fast senkrecht in das Meer abfallende, von unzähligen Höhlen durchbrochene Felsenwand von etwa achthundert Metern Länge und anderthalb bis zweihundert Metern Höhe. Aus werter Ferne erschien sie grau; mit Hilfe des Fernrohres konnte man eine unzählige Menge von weißen Pünktchen und Linien unterscheiden. Es sah aus, als ob eine riesige Schiefertafel von einem scherzenden Riesenkinde mit allerlei Zeichnungen bekritzelt worden wäre. Es waren die brütenden oder in den Nestern sitzenden Möven.

Unser Schiff schreckte, hart an dem Felsen dahinfahrend, einen Theil der Möven auf, und nun gestaltete sich vor meinen Augen ein ähnliches Bild, wie ich es auf vielen Eiderholmen und anderen Möveninseln gesehen. Da donnerte der Hall eines von meinem Freunde gelösten Geschützes gegen die Felsenwand. Wie wenn ein tosender Wintersturm durch die Luft zieht und schneeschwangere Wolken aneinander schlägt, bis sie, in Flocken zertheilt, sich herniedersenken, so schneite es jetzt von oben lebendige Vögel herunter. Man sah weder den Berg noch den Himmel, sondern nur ein Wirrsal ohnegleichen. Eine dichte Wolke verhüllte den ganzen Gesichtskreis. Die Wolke senkte sich endlich auf das Meer hernieder, die bisher von ihr umnebelten Umrisse von Swärtholm traten wieder hervor, und ein neues Schauspiel fesselte die Blicke. An den Felsenwänden schienen noch eben so viele Möven zu sitzen wie vorher. Und Tausende flogen noch ab und zu. Und als ein zweiter Donner neue Scharen aufscheuchte, schneite es zum zweiten Male Vögel auf das Meer herab, und immer noch war die Wand bedeckt mit andern Hunderttausenden. Auf dem Meere aber, soweit wir es überschauen konnten, lagen, leichten Schaumballen vergleichbar, die Möven und schaukelten mit den Wogen auf und nieder. Und als wäre es noch nicht genug des Zaubers, goß plötzlich die auf kurze Zeit verhüllte Mitternachtssonne ihr rosiges Licht über Vorgebirge und Meer und Vögel, beleuchtete alle Wellenkämme, als ob ein goldenes, weitmaschiges Netz über das Meer geworfen wäre, und ließ die ebenfalls rosig überstrahlten blendenden Möven nur um so leuchtender erscheinen.

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1889). Leipzig: Ernst Keil, 1889, Seite 172. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1889)_172.jpg&oldid=- (Version vom 23.2.2020)