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Verschiedene: Die Gartenlaube (1889)

und wie komisch diese Schreibmappe! Hatte Dir Adalbert nicht eine aus Juchten geschenkt, darling? – Nicht? So werde ich es thun.“

Lore saß ganz still. Sie hatte keinen andern Wunsch als allein zu sein, aber das ward ihr noch lange nicht zu theil. Auch Tante Melitta erschien. Und als Lore den Wunsch aussprach, frische Luft zu schöpfen, da fuhr der Wagen vor und Frau Becker sank neben ihrer Schwiegertochter in die Atlaspolster und breitete die pelzgefütterte Decke über sich und sie aus.

Und Lore wäre so gern mit den alten derben Lederstiefelchen, die sie zu Hause im Wandschrank wußte, gelaufen und gelaufen, die einsamsten Wege, nur müde werden, allein sein – nur einmal ihn treffen und ihn bitten können, daß er sie nicht verachte, daß er Mitleid haben möge mit einer Geopferten.

Das war der einzige Gedanke, den die junge Frau jetzt noch hatte.

Als sie den Abend im Schnee des elterlichen Gartens umherlief, war in ihrem armen kranken Herzen der verzweifelte Vorsatz aufgetaucht, zu sterben; und dann hatte sie gemeint, sie müsse erst seine Verzeihung haben. Sie hatte ja Zeit, und wenn sie dieses Leben erst verließ am Tage vor der Rückkehr ihres Mannes, so war es früh genug. Erst mußte sie ihn noch sprechen, das gab ihr Kraft, das machte sie erfinderisch und stählte ihre Energie.

Sie ward erst nach und nach inne, daß man sie bewachte, daß jede ihrer Handlungen beobachtet wurde. Es war so merkwürdig, sie konnte keinen Schritt aus dem Hause gehen, ohne daß die Schwiegermama nicht auch zufällig denselben Weg nehmen wollte. Die unvermeidliche Dame begleitete sie zu ihrer Mutter, sie ging sogar in den Anlagen an klaren Wintertagen spazieren, als Lore das Fahren ablehnte, und pustete lächelnd mit lokomotivenartiger Majestät in ihrem mit kostbarem Pelz besetzten Sammetmantel und mit den Diamantohrringen, in welchen die Sonne funkelte, neben der schwarzen schlanken Gestalt her.

Anfänglich hatte Lore es so hingenommen, dann gingen ihr die Augen auf: ihr Mann hatte die Mutter beauftragt, sie zu überwachen!

Sie machte ein paar Probeversuche, in der Dämmerung verstohlen das Haus zu verlassen – vergeblich. Das eine Mal trat ihr die Jungfer auf der Treppe entgegen und erhob ein gewaltiges Lamento, daß die gnädige Frau im Dunkeln allein ausgehen wolle, das zweite Mal fand sie die vordere Gitterpforte verschlossen und als sie sich eben an den Gärtner wenden wollte, der hier am Ausgang sein Haus hatte, und dessen Frau es oblag, die Thür abends nach zehn Uhr zu schließen, kam Frau Elfriede in eilig übergeworfenem Pelz und Kapuze den Gartenweg entlang getründelt und war des Todes verwundert, ihren Liebling hier zu treffen. Sie wolle gewiß zur lieben Mama, und Frau Becker hatte just den nämlichen Gedanken, und warum sie’s nicht gesagt, Pferde und Wagen wären doch da? „Ach, und hier ist wohl zugeschlossen? Richtig – so weißt Du, Herzchen, ich gab den Befehl. – Bei der früh einbrechenden Dunkelheit und so ohne Herrn im Hause – bin ich – so ängstlich.“

Lore wandte sich stillschweigend um und schritt dem Hause zu.

„Willst Du denn nicht mit?“ schrillte es hinter ihr her.

„Nein,“ antwortete sie gelassen, „ich habe mit Mama allein zu reden.“

Sie verstand nicht, was man ihr nachrief. Sie saß oben in ihrem kleinen Zimmer und hatte die Hände geballt und funkelnde Zornesthränen in den Augen. Sie war thatsächlich zu einer Gefangenen gemacht worden. Eine ohnmächtige Wuth ergriff sie; sie hatte das Gefühl nie gekannt, sie erschrak vor sich selber. Und nun kam Frau Elfriede herauf, mit dem zuckersüßen Lächeln und ihrer gellenden Stimme.

„Ich habe den Wagen geschickt, daß er Deine Mutter hole; mein armes Mäuschen soll seinen Willen bekommen. Ich finde es ja so natürlich, daß Du mit Mutterchen so mancherlei zu besprechen hast. Wollt Ihr hier oben allein speisen? Gott behüte mich, daß ich störe. Du wirst doch so etwas von mir nicht denken! Macht es Euch recht behaglich. – Ich lese heute abend noch den Schluß des interessanten Romanes aus, weißt Du, wo der Graf seine Frau vergiften läßt durch poudre de riz; denke, diese Idee! Daß es so etwas giebt! – Aber mein Goldtöchterchen sagt mir doch ‚gute Nacht‘? – Auf Wiedersehen!“

Und sie küßte die junge Frau, ohne bemerken zu wollen, daß diese unartig hastig das Gesicht abwandte, und verließ das Zimmer.

Frau von Tollen kam nach einer Viertelstunde; sie sah blaß und aufgeregt aus. Als sie Lore auf der Chaiselongue erblickte, mit heißen Wangen und brennenden Augen, sagte sie nur: „Ach Gott, ich dachte es schon, Du bist krank, Lore.“

„Ich bin ganz gesund, Mama.“

„So? Dann konntest Du doch zu mir kommen, Lore! Ich habe Kopfweh heute abend, es ist ja auch kein Wunder.“

Lore schwieg und sah die Mutter an, die so matt in dem Stuhle lag und der die Sorge so tiefe dunkelbraune Ränder unter die Augen gemalt hatte.

„Den ganzen Nachmittag bin ich auf Wohnungssuche gewesen,“ fuhr Frau von Tollen fort und wies das Fläschchen mit Kölnischem Wasser zurück, das ihr Lore stumm hinhielt, „und habe nichts gefunden. Das Billige ist zu ordinär, wir können da nicht wohnen, und die besseren Quartiere sind infolge des Gerüchtes, daß Westenberg Garnison erhält, so gestiegen, daß ich ebenso gut wohnen bleiben könnte, wenn der Wirth nicht schon wieder gesteigert hätte. Nun war ich eben zu Hause angelangt und hatte die Schuhe ausgezogen und mich an den Ofen gesetzt, dachte Du müßtest zu mir kommen, da fährt der Wagen vor.“

„Bleib bei mir heute abend, Mama, ja?“ bat die junge Frau.

„Es geht nicht, Lore, Käthe weiß nicht, daß ich fort bin, und findet kein Abendbrot, wenn sie heimkommt.“

„Ich lasse es ihr sagen, wo ist sie denn?“

„Wo sie immer jetzt ist, bei der alten Frau Schönberg.“

Lore, die schon den Klingelgriff erfaßt hatte, wandte sich herum und schaute die Mutter an. „Bei Schönbergs?“ kam es stockend von ihren Lippen.

„Ja!“

„Und so oft?“ Sie befahl dem eben eintretenden Mädchen, den Diener hinüber zu schicken und Fräulein von Tollen zum Abendessen herüber zu bitten.

Wie kam Käthe dazu, täglich in das Schönbergsche Haus zu gehen? Lore schritt, auf Antwort sinnend, im Zimmer hin und her, während die Mutter ihre müden Augen durch den eleganten Raum schweifen ließ. Wenn sich doch Lore in ihr Los finden wollte, dachte sie – aber freilich, wer keinen Kummer hat, schafft sich welchen.

Käthe kam nach einiger Zeit, sie hatte rosige Wangen und leuchtende Augen, schien aber sehr ungnädig. „Was soll ich denn?“ erkundigte sie sich – „ah so, Mama ist auch da!“

„Ich will Dich etwas fragen, Käthe,“ sagte Lore, „komm einmal her!“ Und sie zog die Schwester in den angrenzenden, mit aprikosengelbem Plüsch dekorirten Salon, in welchem nur eine Lampe an dem Lüster brannte und die Temperatur um einige Grade niedriger war als im Boudoir, die junge Frau stand dort wie eine Schuldbewußte vor der Schwester. „Verstehe mich nicht falsch, Käthe, Du hast ihn jedenfalls jetzt oft gesehen – ist er sehr böse auf mich? Ist er sehr traurig?“ – Die Hand, mit der sie sich auf den Flügel stützte, der schräg im Zimmer stand, zitterte heftig, und die Augen hielt sie gesenkt. „Verstehe mich nicht falsch, Käthe,“ wiederholte sie, „Du bist ja meine einzige Vertraute.“

„Ich habe nicht mit ihm über Dich gesprochen,“ antwortete Käthe laut und öffnete das Instrument, um einige Töne anzuschlagen.

„So thue es noch, Käthe; sag ihm, er solle mir verzeihen, weiter wollte ich nichts auf der Welt von ihm – nur das.“

Die schlanke Mädchenhand griff einen falschen Accord. „Aber, Lore, das ist doch höchst merkwürdig, ich –“

„Es ist keine Sünde, Käthe, nein wahrhaftig nicht,“ flehte Lore, „ich begehe keinen Verrath, wenn ich seine Vergebung erbitte. Sieh, ich kann nichts anderes mehr denken, wie immer nur das; ich will ganz ruhig werden, wenn ich weiß, daß er mich nicht für zu schlecht hält. – Erbarme Dich doch, Käthe!“ –

Und als das Mädchen mit einem Ausdruck von Bedenklichkeit und Verwunderung schwieg, trat Lore einen Schritt näher. „Du thust es, Käthe, Du erzählst ihm, wie alles so gekommen ist, nicht wahr? – Ich weiß, das ist ja noch immer keine Entschuldigung für meinen Treubruch, aber ich war so geängstigt und so verwirrt – und der arme Papa und die Mama – ich weiß selbst nicht mehr alles – sag’s ihm und bitte Du für mich bei ihm – sag ihm, ich wolle nie seinen Weg kreuzen – nur nicht schlecht soll er

von mir denken.“ Ihre weiche leise Stimme brach in Schluchzen

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