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Verschiedene: Die Gartenlaube (1889)

No. 10.   1889.
      Die Gartenlaube.

Illustrirtes Familienblatt. — Begründet von Ernst Keil 1853.

Wöchentlich 2 bis 2½ Bogen. – In Wochennummern vierteljährlich 1 Mark 60 Pfennig oder jährlich in 14 Heften à 50 Pf. oder 28 Halbheften à 25 Pf.


 

Lore von Tollen.

Nachdruck verboten.
Alle Rechte vorbehalten.
(Fortsetzung.) Roman von W. Heimburg.


Doktor Schönberg rüstete sich zum Ausgehen, und dann ließ er doch die Hand sinken, die er nach dem Hute ausgestreckt hatte, um an den Stammtisch zu gehen, zum Abendschoppen, um die Gedanken zu bannen. Er dachte an den Wagen der gestern abend an ihm vorüberfuhr im Stadtthor; beim Schein der Laterne hatte er in dem Coupé Lore erkannt; sie kehrte vom Trauerhause heim zu ihrem Gatten.

Siedend schoß ihm das Blut zum Kopfe, er war seiner nicht mächtig vor Zorn und Weh und er hielt die Fäuste an die Schläfen und fragte sich, ob er es ertragen werde, das Leben, wie es jetzt vor ihm lag; ob es nicht besser sei, er mache ein Ende.

Hätte ich die alte Mutter nicht – flüsterte er. – Warum sich so ein Mädel nicht lieber ins Wasser stürzt als in die Arme dieses plumpen Gesellen? Und Lore – seine stolze Lore! – –

Eben wurde vorsichtig die braungebeizte niedrige Thür geöffnet. „Ernst?“ fragte die alte Frau. „die kleine Tollen ist schon wieder unten; sie bringt das Buch zurück, das Du ihr geliehen. Ich wollte es Dir nur sagen, weil Du gestern so böse wurdest, als Du hereinkamst und nicht benachrichtigt warst von ihrer Anwesenheit.“

„Laß sie doch,“ antwortete er, „sie meint es gut,“ und sein Blick flog nach einer kleinen Porzellanvase, in der ein welkes Sträußchen steckte; das hatte auf seinem Katheder gelegen, als er andern Tages, nachdem er von M. zurückgekehrt, in die Selecta der Mädchenschule trat, um die Litteraturstunde zu halten. In der Hausthür war er beim Schluß des Unterrichts mit Käthe von Tollen zusammengetroffen; sie stand da, als habe sie auf ihn gewartet; mechanisch hatte er den Hut gezogen, um an ihr vorüber zu gehen, und erst, als sie eine bittende Bewegung mit den gefalteten Händen machte, war er stehen geblieben. „Was wünschen Sie, Fräulein von Tollen?“

„Seien Sie mir nicht böse – ich kann ja nichts dafür,“ hatte sie gebeten mit thränenerstickter Stimme.

Dann war sie neben ihm hingeschritten, völlig stumm, über den Schulhof bis auf die Straße. Er erinnerte sich wenigstens nicht, daß sie noch irgend etwas gesagt hätte, nur die in Thränen schimmernden Mädchenaugen glaubte er noch zu sehen. Er hatte nie gewußt, daß Käthe von Tollen so sprechende schwarze Augen besitze.

Einige Tage später traf er Käthe im Zimmer seiner Mutter; sie hatte ihre Ausarbeitung gebracht, die sie vergessen in der Klasse abzugeben. Das junge Mädchen saß der Frau Pastorin gegenüber und hielt ihr Garn zum Wickeln. Er hatte sie


„Es schläft nur!“
Marmorgruppe von Alexander Tondeur.

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1889). Leipzig: Ernst Keil, 1889, Seite 149. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1889)_149.jpg&oldid=- (Version vom 1.4.2020)