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Verschiedene: Die Gartenlaube (1889)

In zwei nebeneinander liegenden, das struppige Heidekraut halb verdeckenden Schneeflecken bemerkte der Eisenhans Spuren, bei deren erstem Anblick er wie eingewurzelt stehen blieb. Nichts regte sich an ihm außer den Wimpern des blinzelnden Auges.

Die Krallen, welche hier im Schnee ihren Abdruck hinterlassen hatten, waren die eines katzenartigen Thieres.

Für eine Wildkatze oder irgend einen verwilderten, einer Bauernhütte entlaufenen Kater waren sie viel zu groß. Sie mußten also von einem Luchs herrühren. Nun hatte aber der Eisenhans seit mehr als zehn Jahren von dem Erscheinen eines solchen Thieres in den weiten Revieren des Ternovaner Waldes weder etwas gespürt noch vernommen. Es war also das genaueste Zusehen vonnöthen.

Doch je mehr der Förster die Fährte betrachtete, desto sicherer wurde er in seinem Urtheil, daß hier ein echter Luchs vorübergewechselt haben müsse. Vermuthlich war derselbe auf der Witterung nach den Schafen, die noch vor wenigen Tagen auf der schneefreien Südabdachung des Bühels geweidet hatten, hier herumgeschlichen.

Das wäre ein Jagdglück sondergleichen gewesen, dieses seltenen Räubers habhaft zu werden. Es mußte auf Wochen hinaus den Gesprächsstoff weit und breit unter den Waldteufeln abgeben. Wenn die Spur nicht trog, so war es ein starkes Thier, das wohl seinen halben Centner Gewicht haben konnte. Dann mußte es ein Fell haben, dessen Werth nicht unter dreißig Gulden zu schätzen war, dem Eisenhans also ein schönes Schußgeld eintrug.

Höchst zufrieden mit der von ihm gemachten Wahrnehmung wandte er sich nunmehr dem nahen Forsthause zu. Das Gefühl der Erstarrung, welches ihn während seiner Wanderung überkommen hatte, war ihm über dieser Aufregung völlig entschwunden.

2.

Im Hause empfing Regina, die Tochter des Försters, ihren Vater mit sanften Vorwürfen darüber, daß er bei einem solchen Wetter seine Gesundheit unnöthig aufs Spiel setze.

„Kein Mensch läßt sich sehen draußen bei dem Sturme,“ sagte das Mädchen. „Kein Thier verläßt seine Höhle, kein Raubschütze wagt sich in den Wald, der ärmste Mensch geht nicht hinaus, um Feuerschwämme oder Zunderpilze zu sammeln.“

Der Eisenhans brummte einige unverständliche Worte, welche vielleicht bedeuten sollten, daß die Weiber derlei nichts anginge, in den Bart, dann hängte er seine Büchse an die Wand, zog die schneebedeckten Schuhe und Jägerstrümpfe aus und machte es sich bequem hinter dem grünen Kachelofen, der fast den dritten Theil der Stube einnahm.

Die Stimme des zunehmenden Sturmes schien dem Mädchen Recht zu geben. Es war eine Bora, wie man sie kaum jemals erlebt hatte. Die alte Linde vor dem Fenster, deren Zweige, eben der Bora, des Nordoststurmes wegen, alle gegen Südwest gewachsen waren, schien zu beben, obwohl sie sich mit hundertjährigem Wurzelwerk weit verästelt an den Felsblöcken des moosüberwachsenen Bodens festhielt. Man hörte bis in die Stube herein aus dem Walde herüber das Krachen abgeknickter Zweige.

Der Eisenhans aber hätte sich nicht viel darum gekümmert, wenn auch das Haus selbst gewackelt hätte wie eine Wiege. Seine Gedanken waren nur auf eines gerichtet: den Luchs, und immer wieder den Luchs!

Wenn es nicht gar so gestürmt hätte, er würde sofort den weiten Weg in die Stadt hinab zum Forstmeister angetreten und ihm die unerhörte Neuigkeit hinterbracht haben.

Seit einer langen Reihe von Jahren hatte man, wie gesagt, nichts mehr von einem solchen Eindringling gehört. Derselbe mußte aus den Wäldern von Kroatien, aus dem Uskokengebirge, herübergekommen sein. Mochte dem sein wie immer, jetzt hieß es, dem Räuber so schnell wie möglich an den Leib zu gehen.

Das Einfachste wäre vielleicht gewesen, Fallen auszulegen. Das kam aber dem alten Jäger nicht weidmännisch genug vor. Eine Treibjagd bot ihre Schwierigkeiten, denn im Kalkboden des Waldgebietes giebt es zahllose Klüfte und Höhlungen, von welchen die eine mit der anderen in Verbindung steht. Den Räuber, welcher sein Handwerk fast nur bei Nacht treibt, aufzuspüren, war zudem dermalen besonders schwierig. Im tiefen Walde, dort, wo eine zusammenhängende Schneedecke lag, war dieselbe entweder gefroren, oder der Sturm wühlte sie fort und fort auf, so daß die Spuren immer wieder überweht werden mußten.

Für heute war nichts zu machen. Doch gedachte er, gegen die ersten Morgenstunden hin, in welchen die Bora oft etwas an Kraft verliert, einen Boten in die Stadt hinabzuschicken, um dem Forstmeister von dem aufgespürten Wundertiere Mittheilung zu machen, denn dieser würde es ihm gewiß niemals verziehen haben, wenn er ihm die Gelegenheit zu einem derartigen Weidgange unterschlagen hätte.

Regina hörte ohne sonderliche Theilnahme die lange Mittheilung ihres Vaters über die gemachte Entdeckung an. War sie auch Jägerskind, so hatte sich doch allmählich in ihr eine Empfindungsweise entwickelt, welche sich von ihrer gewohnten Umgebung mehr und mehr abwendete. Ihr Vater hatte, um ihr über die Einsamkeit hinwegzuhelfen, in welcher sie sich bei seiner langen Abwesenheit von Hause so häufig befand, aus der Stadt einen Büchervorrath kommen lassen, den er so oft als möglich erneuerte. Er wollte damit seinem Augapfel, dem leibhaftigen Abbild seiner verstorbenen Frau, welche so viele Jahre hindurch in dieser Einöde seine treue Gefährtin gewesen war, nicht nur Gelegenheit schaffen, sich selbständig zu unterrichten, sondern auch das Leben des jungen Mädchens bei ihm, dem ergrauenden Manne, erheitern.

Das geschah allerdings, es geschah aber noch etwas mehr. Regina lernte so viele Dinge aus der Welt kennen, von welcher sie selbst in Gebirg, Wald, Ebene, Städten, Flüssen und Meer einen so schönen Theil, freilich gleichsam nur aus den Wolken, tagtäglich überblickte. Was mußten sich dort unten, jenseit des Gewölkes für wunderbare Dinge zutragen! Was mochte es dort für schöne Häuser, für merkwürdige Menschen geben, was mochte dort alles zu sehen sein!

Regina befand sich nicht in der nämlichen Lage wie so manches Mädchen, welches in einem weltabgelegenen Dorfe sich ähnlichen Gedanken hingiebt. Jenes ahnt nur, daß in weiter Entfernung irgendwo die Dinge vorhanden sein müssen, welchen sich seine Einbildungskraft zuwendet. Regina aber sah unten die Thürme und weißen Paläste. Sie erblickte die Schiffe auf dem Meere und die Rauchsäulen der Dampfer, welche am Gesichtskreise verschwanden oder aus fernen Ländern kamen, von deren Wundern sie in ihren Büchern gelesen hatte.

Das alles überschaute sie. Wenn sie aber vor die Thüre traf, gerieth sie alsbald in das Dickicht der Tannen, von welchen die alten Flechten herabhingen, grau wie der Bart ihres Vaters. Tage lang sah sie keine andere lebendige Gesellschaft als die Schafe und Ziegen, die auf den Rodungen weideten. Während aus der Tiefe herauf, nach welcher sie so oft mit dem Fernrohre ihres Vaters hinabsah, Paläste zu ihr emporblickten, hatte sie zu Nachbarn nur die Insassen strohgedeckter Hütten, in welchen arme, halb verhungerte Leute zwischen Schmutzlachen ihr Wesen trieben.

Daher kam es, daß sie häufig an Sommerabenden, wenn die häusliche Arbeit verrichtet war, mit einem ihrer Bücher hinausging zu einem Sitze, der am Stamme einer mächtigen Tanne angebracht war. Der Baum streckte seine dichten Zweige so weit aus, daß sie dort, wenn sie auf der Bank saß, sich stets im Schatten befand. Hier blieb sie, während der Vater in den abendlichen Wald hinein auf den Anstand ging, oft sitzen, bis die Sonne hinter dem Horizonte versank. Dann wandelten ihre Gedanken über das von den letzten Strahlen purpurn übergossene Meer hin und folgten dem Gestirne, welches sich anschickte, anderen Himmelsstrichen zu leuchten.

Der Herr Forstmeister, welcher im Sommer manchmal zur Jagd heraufkam, hatte diesen Brauch Reginas mehrmals beobachtet. Er scherzte in seiner freundlichen Weise darüber und er war es, der es veranlaßte, daß der Försterstochter, als sie an einem Sommerabend wieder ihrem Lieblingssitz zustrebte, eine eigenthümliche Ueberraschung zu theil ward. Als sie ihre Blicke der Tanne zuwendete, fand sie eine künstlerisch ausgestattete Holztafel daran befestigt, auf welcher in großen Buchstaben zu lesen war: „Sehnsuchtstanne.“

Das war nun schon einige Jahre her und gerade jener Theil des Waldes, in welchem sich die Sehnsuchtstanne erhob, war

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1889). Leipzig: Ernst Keil, 1889, Seite 143. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1889)_143.jpg&oldid=- (Version vom 15.9.2022)