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verschiedene: Die Gartenlaube (1889)

Deutschlands Narrenresidenz.

Mit Illustrationen von Franz Gehrts.

Wer von Offenburg aus mittelst der Schwarzwaldbahn die herrliche Fahrt über Triberg und die Sommerau nach Donaueschingen und weiter durch den romantischen Hegau mit seinen unvergleichlich schönen Burgruinen Hohenhöwen, Hohenstoffeln, Mägdeberg, Hohenkrähen und Hohentwiel nach den Bodenseegegenden gemacht hat, der hat eine solche Fülle großartiger Eindrücke in sich aufgenommen, so viel kühngeführte, die Wildheit der Natur bewältigende Bauten gesehen und so herrliche landschaftliche Schönheiten genossen, daß die Meinung, die Weiterfahrt nach Sigmaringen könne kaum mehr etwas gleich Interessantes bieten, ziemlich gerechtfertigt erscheint. In der That ist auch die Gegend, durch welche die Bahn nunmehr führt, viel einförmiger und weit weniger anziehend als seither. Nur an dem reizend gelegenen Stockach erfreut sich vielleicht der Blick des Touristen; daß ihn jedoch das freundliche, durch die sogenannte Kirchhalde in zwei Theile geschiedene und von der stattlichen Ruine Nellenburg überragte Städtchen zu einem Besuche oder gar zu längerem Bleiben reizen werde, steht immerhin zu bezweifeln. Und doch böte Stockach, zumal zur Faschingszeit, so manches, was eines Besuches und kurzen Aufenthaltes wohl werth wäre, denn das kleine, kaum 2000 Einwohner zählende Städtchen ist – was freilich wenige wissen – zu der genannten Zeit besonders merkwürdig durch die Ueberbleibsel einiger alter Gebräuche aus der Zeit, da es noch „Deutschlands Narrenresidenz“ genannt wurde.

Das badische Landstädtchen Stockach hat sich diesen Namen erworben wegen eines eigenthümlichen, verbrieften und seit Jahrhunderten ausgeübten Rechtes, im Fasching ein öffentliches „Narrengericht“ abzuhalten, in welchem alle von den Bewohnern der Stadt und Umgebung etwa begangenen Thorheiten zur Sprache gebracht und gehörig lächerlich gemacht werden durften. Es stammte der Sage nach von Erzherzog Albrecht dem Weisen von Oesterreich her, welcher es der Vaterstadt des lustigen Rathes und Hofnarren seines Bruders Leopold, des Hans Kuoni, nach der Schlacht bei Morgarten (1315) verlieh, „weil der Narr klüger gewesen als Leopolds gesammter Kriegsrath.“ Spaßes halber bei Besprechung des Kriegsplanes um seine Meinung befragt, soll nämlich der lustige Rath warnend den mit der Schellenkappe gezierten Kopf geschüttelt und gesagt haben: „Euer Gerede gefällt mir fast übel, Ihr Herren, denn Ihr sorget und denket nur daran, wie Ihr hineinkommen möget ins Land, nicht aber, wie Ihr wieder herauskommen wollt.“ Eingedenk dieses klugen Ausspruches ertheilte Albrecht, nachdem Leopold vollständig geschlagen und dem Tode nur wie durch ein Wunder entronnen war, dem Narren das Recht, in seiner Vaterstadt alljährlich am Fasching „über kluge Leute zu Gericht zu sitzen“, und stattete dieses „Narrengericht“ mit vielen Gerechtsamen aus.

Dies seltsame Gericht, das sogar noch im Laufe unseres Jahrhunderts zusammentrat, war zusammengesetzt aus dem „Narrenvater“ als Vorsitzendem und einer unbeschränkten Zahl von „Narrenräthen“ als Beisitzern und Richtern. Stets in den ersten Tagen nach Neujahr kamen diese Mitglieder des Gerichts in einem schon vorher bestimmten und durch ein besonderes, außen angebrachtes Schild als „Narrenherberge“ bezeichneten Gasthause zu regelmäßigen Sitzungen, zur Sichtung der zur Verhandlung eingelaufenen „Gerichtsakten“ und zum Entwurf eines Programms für ein nach Erledigung der Geschäfte abzuhaltendes „Narrenfest“ zusammen. Am Sonntag vor dem Fastnachtsonntag hielt sodann der „Narrenschreiber“, phantastisch aufgeputzt, in einer vierspännigen „Narrenkutsche“ mit Bedienten, Mohren und Heiducken seinen Umzug durch das Städtchen und verkündete der aufmerksam, zum Theil wohl auch ängstlich lauschenden Einwohnerschaft, welche Vorkommnisse bei der am Fastnachtdienstag stattfindenden Gerichtsverhandlung zur Aburtheilung kommen würden. Diese Ankündigung war entweder in launiger Prosa oder häufiger in witzigen Versen abgefaßt, denn unter der Zahl der Narrenräthe fand sich stets einer, der „verslen“ konnte. Unter dem Beifallrufen der Menge wurde diese Ankündigung in beiden Stadttheilen und besonders vor den Häusern der „Verklagten“ verlesen.

Am Donnerstag darauf, dem sogenannten „schmutzigen Donnerstag“, wurde alsdann in feierlicher Weise, stets an derselben Stelle, in der Nähe des ungefähr in der Mitte des Städtchens gelegenen „Narrenbrunnens“,[1] eine starke Tanne aufgerichtet, welche an dem von Zweigen entblößten Stamme eine Tafel trug mit der Inschrift: „Stammbaum aller Narren“. Dieser „Narrenbaum“, an welchem außerdem noch das Verzeichniß der zur Verhandlung kommenden „Narrenprozesse“ und das Festprogramm befestigt wurden, blieb dann in der Regel mindestens noch vier Wochen vom Gerichtstage an gerechnet stehen.

Der Faschingsonntag und -montag gehörte in Stockach ausschließlich der „Narrenjugend“, den Kindern nämlich, welche, wie dies an andern Orten ebenfalls üblich war und noch ist, in allerlei Verkleidungen sich auf den Straßen umhertrieben. Eine Anzahl kleiner Hanswürste übernahm jedoch eine Art von Wache bei dem Narrenbaum und trieb unter Herz und Ohren zerreißendem Geschrei und beständigem Knallen mit kurzstieligen Peitschen alles, was nicht närrisch – nämlich nicht verkleidet – war, von „dem Stammbaum aller Narren“ hinweg. Für diesen Dienst erhielt jeder der an der „Narrenbaumwache“ betheiligten Hanswürste einen großen „Narrenweck“.

Endlich an dem mit allgemeiner Spannung erwarteten Fastnachtdienstag, morgens um 10 Uhr, versammelten sich die Mitglieder des Narrengerichts auf einer eigens zu diesem Zwecke errichteten großen Tribüne und es begannen nun die eigentlichen Gerichtsverhandlungen, welche unsere Illustration S. 140 darstellt. Die „Narrenkläger“ trugen ihre Berichte vor, worauf in derbwitziger Weise über den Fall verhandelt und der Angeklagte schließlich unter ausführlicher Erläuterung seiner Schuld „zum Eintrag ins Narrenbuch“ verurtheilt wurde. Niemand ward hierbei verschont; ohne Ansehen der Person wurde unnachsichtlich jeder vor Gericht Gestellte und schuldig Befundene verspottet und dem Register der Narren einverleibt. Kein Protestiren der Verurtheilten konnte etwas helfen und die Strafe abwenden; wer sich aber etwa nach geschehenem Ausspruch des Gerichts zum Fürsprecher der Sträflinge machen oder gar die Entscheidung des Narrengerichts bekritteln wollte, wurde selbst als Narr erklärt und ebenfalls in das gefürchtete „Narrenbuch“ eingetragen.

Nachdem dem letzten Beklagten sein Recht geworden, wurde jeweils ein feierlicher Umzug durch das ganze Städtchen unter Betheiligung aller Narrenräthe abgehalten, wobei an allen passenden Stellen und besonders wieder vor den Wohnungen der Verurtheilten unter dem Jubel der zahlreichen von überall her zusammengeströmten Menschen das gefällte Urtheil vom Narrenschreiber verlesen und den Betroffenen zum Ueberfluß an die Hausthür


  1. Er hat diesen Namen, weil in seinem Fundamente die alten Urkunden über die Einführung des Narrengerichtes niedergelegt sind. Er stand früher mehr in der Mitte der Straße und wurde im Jahre 1858, um Raum zu gewinnen, an seine jetzige Stelle versetzt. Bei dieser Gelegenheit kamen die Urkunden zum Vorschein. Leider war man jedoch nicht im Stande, ihren Inhalt zu entziffern, da derselbe fast völlig unleserlich geworden war. Das rasch zusammengerufene Narrengericht mußte sich daher damit begnügen, die Urkunden unter den üblichen „Narren-Ceremonien“ in das neue Fundament zu versenken und ihnen ein von sämmtlichen Mitgliedern des Gerichts unterzeichnetes Protokoll über das Geschehene beizulegen.
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verschiedene: Die Gartenlaube (1889). Ernst Keil's Nachfolger, Leipzig 1889, Seite 139. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1889)_139.jpg&oldid=- (Version vom 29.10.2021)