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Verschiedene: Die Gartenlaube (1889)

Sie begriff es auch jetzt noch nicht, – sie streckte die Hand aus nach dem Blatt, wie sie es vielleicht auch nach einer Zeitung gethan haben würde, um zu lesen, während der andere schreibt oder ißt.

„Ich bin nicht imstande, etwas zu genießen“ murmelte sie, während sie das Blatt entfaltete. „Papa – Schlagfluß – wenn Lore ihn noch lebend sehen will, kommt sofort zurück!“ – –

Im Fluge hatte sie es gelesen und verstanden, obgleich ihr die Depesche mit einer halblauten Verwünschung aus der Hand gerissen ward.

„Mein Vater!“ schrie sie. Sie war aufgesprungen und der Thüre zugestürzt. Da fühlte sie sich gehalten.

„Aber, Lore, mach doch keine Geschichten – zum Donnerwetter! Es wird ja nicht so schlimm sein!“ rief er roth vor Zorn – oder Schreck.

Sie stieß ihn zurück und stand vor ihm mit entsetzten Augen, an allen Gliedern bebend. „Das war der Scherz?“ stieß sie hervor, „das?“

Die ganze große Brutalität dieser Verheimlichung ward ihr mit einem Schlage klar. Sie wollte sprechen, wollte ihm sagen, daß sie ihn verachte, verabscheue, ihn, der sie um den letzten Blick des Vaters zu betrügen versuchte, aber es kam kein Wort über ihre Lippen. Stumm wandte sie ihm den Rücken und schritt der Thüre zu. Sie hörte nur noch. „Ich wollte Dich ja schonen, Kind, Du hättest es doch, weiß Gott, noch früh genug erfahren – Wo willst Du denn hin? Es geht ja gar kein Zug! – Lore, was sollen die Leute denken – zum Kuckuck – sei doch gescheit!“

Sie flog schon den Korridor hinunter und eilte aus dem großen Vestibül, an dem verwunderten Portier vorüber auf die Straße. „Nach dem Anhalter Bahnhof!“ rief sie dem nächsten Droschkenkutscher zu, „ich muß den Kurierzug nach Hamburg erreichen!“

„Geht in einer halben Stunde, Madam!“

„Fahren Sie rasch – um Gotteswillen!“ bat sie.

Da fühlte sie sich plötzlich beim Einsteigen unterstützt, und ihr Mann sprang ihr nach in den Wagen.

„Du erlaubst wohl, daß ich Dich begleite?“ fragte er höhnisch. „Es ist nur wegen der Leute, weißt Du, man pflegt doch im allgemeinen nicht so eins, zwei, drei seinem Ehemann davonzulaufen! – Recht angenehmer Abend übrigens! Und um was wird der Spektakel sein? Natürlich nur blinder Lärm, der Alte wird ein Glas Sekt zuviel getrunken haben.“

Lore schlug die Hände vor das Gesicht und unterdrückte einen Aufschrei der Empörung. Auf dem Bahnhof angekommen, flüchtete sie in ein Damencoupé, und dort lag sie während der Fahrt verzweifelnd, betend, fordernd, nur noch lebend ihn zu treffen, nur noch einmal in die alten treuen Augen sehen, nur noch einmal ihren Namen von seinen Lippen hören zu dürfen. –

Gegen Mitternacht langte der Zug in Westenberg an. Ein eisiger Wind empfing sie, als sie das warme Coupé verließ. Sie zog den Schleier vor das Gesicht und eilte über den Perron, auf der wohlbekannten Straße dahin, die zur Stadt führte. Was kümmerte sie das leise Fluchen des Menschen, der da hinter ihr schritt, was die grimmige Winternacht, die ihr Eis und Schnee ins Gesicht trieb? Sie hatte nur einen Gedanken noch: ihren Vater! Sie flog förmlich, ihren Mann weit zurücklassend, und mit athemloser Angst langte sie vor dem kleinen Hause an. In des Vaters Wohnzimmer war Licht, aber in der Schlafstube daneben hatte man beide Fensterflügel der kalten Luft geöffnet.

Sie wußte, was das bedeutete, und es überwältigte sie so, daß sie kaum noch die Kraft fand, die Klingel zu ziehen.

Und dann klangen langsame Schritte da innen, und es ward aufgethan. Die Mutter stand vor ihr, die Lampe hochhaltend.

„Mama!“ rief Lore und starrte die Frau an, die um Jahre gealtert war in den wenigen Stunden.

„Lore, Du?“ fragte die Majorin. „Aber, siehst Du, es ist doch zu spät!“

Da wandte sich die junge Frau und schob den Riegel vor die Hausthür. Dann blieb sie stehen, die Hände geballt, im Blick den furchtbarsten unversöhnlichsten Haß gegen den, der jetzt von außen die Thür zu öffnen suchte.

„Aber, Lore, was thust Du! Ist es nicht Dein Mann, der – –?“

Sie hielt die alte Dame, die öffnen wollte, mit fester Hand am Armgelenk. „Komm,“ sagte sie, „komm, bringe mich zu Papa!“

„Aber, Lore, was – –“

„Nein, nein, Mama! Er soll nicht, er darf nicht!“ wehrte sie, „er darf nicht zu Papa.“ Und sie zog die Mutter mit sich die Treppe empor und am Sterbelager sank sie nieder und legte ihr Gesicht auf die kalten starren Hände des alten Mannes, und schwere Thränen rollten aus ihren Augen.

Ihr Wunsch war erfüllt – daheim war sie, in dem ärmlichen kleinen Vaterhause. Aber so – so hatte sie es nicht gewollt!




Der Major von Tollen wurde begraben mit all dem traurigen Pomp, den die kleine Stadt für einen alten Offizier, der das Eiserne Kreuz getragen, aufzubringen wußte. Der Kriegerverein war mit der Fahne erschienen, die Schützengilde hatte sich angeschlossen und der Zug war die Straße hinuntergegangen unter den Klängen des Chopinschen Trauermarsches. Gleich hinter dem Sarge waren die beiden Söhne geschritten, nach ihnen die Schwiegersöhne, der junge Ehemann, dem der unbarmherzige Tod einen Strich durch die Hochzeitsreise gemacht hatte, mit mehr verdrießlicher als trauriger Miene. Die Leute im Städtchen wußten es alle, daß das junge neuverheirathete Paar noch in derselbe Nacht zurückgekommen sei, und daß Frau Lore Becker, als sie, direkt vom Bahnhofe in das väterliche Haus eilend, die Todeskunde erfuhr, verzweifelt zusammengebrochen war.

Ja, das Leben spielt oft wunderlich! Jetzt hätte der alte Herr doch endlich einmal aufathmen, sich im Glanz seiner Kinder sonnen können – da mußte er fort! Nun, die Beckers mochten jetzt ordentlich in die Tasche langen, denn viel zu brocken und zu beißen würde wohl für die Witwe und die Kinder nicht da sein. – So urtheilten die Damen, die im Tollenschen Salon zurückgeblieben waren bei den weiblichen Mitgliedern der Familie; so wisperten die Herren in dem langen Trauerzuge, und so raunten es sich die gaffenden Menschen auf der Straße zu.

„Ja, es ist ein Elend, wenn Leute aus so einem Stande kein Geld haben und doch immer vornehm thun wollen. Die Lore, die hat's just noch getroffen,“ sagte Frau Nachbarin Engel, als der letzte Mann des Zuges um die Straßenecke verschwand, zu ihrem hübschen Dienstmädchen, das außen auf der Straße stand. Dann schloß sie das Fenster vor der kalten Dezemberluft, welche die Wärme des Stübchens um einige Grade vermindert hatte, und setzte sogleich ein Paar Filzschuhe an den Ofen, damit ihr Gottfried es recht behaglich finde, wenn er von dem kalten Gange nach dem Friedhofe heimkehrte. – –

Und Lore saß am Tage nach dem Begräbniß in des Vaters Stube am runden Sofatisch der Mutter gegenüber, beschäftigt, die Papiere und Dokumente des Verstorbenen durchzusehen. Der Bruder mit seiner Frau, der Bräutigam Helenens und diese selbst waren wieder abgereist heute früh. Der erstere hatte großmüthig auf die „paar Kröten“ verzichtet, die der alte Herr in der Reichsbank gehegt und gepflegt, es waren zweitausend Thaler da. Tausend Mark hatte er vor kurzem gekündigt für Lores kleine Ausstattung, sie wurde damit für abgefunden erklärt, das übrige sollten die zwei andern Mädchen unter sich theilen. Rudolf erhielt nichts, da ihm im vorigen Jahre Schulden bezahlt worden seien in einer Höhe, die bereits das überstieg, was er von Rechtswegen fordern konnte. Diese Aufzeichnung hatte der alte Herr in einem verschlossenen Couvert neben seinen Personalpapieren liegen gehabt und noch etwas dabei, eine kleine Summe Geldes, die zu seinem Begräbniß bestimmt war, und bei welcher sich ein Zettelchen befand, darauf er geschrieben: „Mehr soll nicht verausgabt werden für den Zauber. Ein eichener Sarg ist nicht nothwendig; Tischler Thienemann weiß schon, hab’ mit ihm gesprochen darüber, will ihn für sechs Thaler machen. Auch kein Kuchen und Wein soll gegeben werden, man soll mir aber meine Uniform anziehen und mir den Säbel, den ich im Feldzuge getragen habe, auf den Sarg legen, sowie den alten Lorbeerkranz von meines Kaisers Bild, den mir die Lore als kleines Mädchen entgegengebracht hat, als ich damals zurückgekommen bin. Will der Kriegerverein über meinem Sarge schießen, so sollen es meine Hinterbliebenen nicht hindern. Ferner sollen meine Frau und Kinder nicht länger als vier Wochen trauern, weil mir schwarze Kleider immer ein Greuel waren und die Meinigen mich auch so betrauern werden.      von Tollen.“

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1889). Leipzig: Ernst Keil, 1889, Seite 119. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1889)_119.jpg&oldid=- (Version vom 23.2.2020)