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Verschiedene: Die Gartenlaube (1889)

No. 8.   1889.
      Die Gartenlaube.

Illustrirtes Familienblatt. — Begründet von Ernst Keil 1853.

Wöchentlich 2 bis 2½ Bogen. – In Wochennummern vierteljährlich 1 Mark 60 Pfennig oder jährlich in 14 Heften à 50 Pf. oder 28 Halbheften à 25 Pf.


 

Lore von Tollen.

Nachdruck verboten.
Alle Rechte vorbehalten.
(Fortsetzung.) Roman von W. Heimburg.


Lore befand sich indessen ahnungslos auf dem Wege nach Berlin. Sie saß in einem Coupé erster Klasse und ihr gegenüber der, dem sie seit heute angehörte. Sie hatte beim Einsteigen aufathmend bemerkt, daß bereits ein junger Kavallerieoffizier in dem rothen Sammetpolster lehnte, der bei ihrem Anblick sofort die Cigarre aus dem Fenster warf.

Der Zug raste durch die einförmige Schneelandschaft, sie verharrte regungslos mit geschlossenen Augen. Zwei- oder dreimal hob sie erschreckt die langen Wimpern, das war, als ihr Mann sie anredete mit irgend einer gleichgültigen Frage. Ihr war geistig und körperlich so schlecht zu Muthe, als stehe sie vor dem Ausbruch einer schweren Krankheit, sie konnte nicht mehr klar denken. In dem kleinen Muff hatten sich ihre Hände in einander geschlungen, und sie verlangte in dem verworrenen Gedankenflug Schreckliches von dem Gott, zu dem sie betete.

Ein Eisenbahnunglück – aber dann müßten so viele Unschuldige mitleiden! Aber ist es denn wirklich eine so große Sünde, wenn man sich selbst das Leben nimmt? Sie sah den Schienenstrang vor sich, ganz unten in weiter Ferne liefen die beiden Linien in einander, und dort, an der äußersten Spitze leuchtete ein Paar glühend rother Punkte, und die Punkte kamen näher und näher und sie wartete mit einer wilden Freude darauf, daß die keuchend daherbrausende Maschine sie zermalmen solle, sie, die dort auf den Schienen lag. Sie schrak wieder empor; ein gellender Pfiff, der Zug hielt und „St…!“ schrie der Schaffner. Die Coupéthüre wurde geöffnet. „Acht Minuten Aufenthalt!“

Ein Gewirre von Stimmen herrschte draußen; sprechende, rufende Menschen hasteten auf dem Perron durcheinander, Männer gingen mit der Oelkanne den Zug entlang und beklopften die Räder, die Packkarren rasselten dazwischen, mit Koffern und Körben hoch beladen. Endlich verlief sich der Lärm und der Schaffner sah in das Coupé, ob die Passagiere vollzählig – er wollte es wieder schließen.

„Ist hier vielleicht ein Herr Becker - Adalbert, aus Westenberg?“ fragte da ein Telegraphenbote.

Allerdings!“ antwortete Becker. „Was soll’s?“

„Eine Depesche, mein Herr!“

„Was?“ – Er nahm das Papier, entfaltete es und las, und etwas wie Schreck zuckte über sein Gesicht. Dann sah er zu Lore hinüber, die theilnahmlos dem Vorgange gefolgt war. „Es ist nichts,“ sagte er, „Dein Bruder macht sich einen Scherz mit uns. Morgen früh werde ich es Dir erzählen.“ Und er schlug lächelnd mit seinem Handschuh


Landbriefträger zu Schlitten auf dem Eise des Tegeler Sees.
Originalzeichnung von Willy Stöwer.

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1889). Leipzig: Ernst Keil, 1889, Seite 117. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1889)_117.jpg&oldid=- (Version vom 1.4.2020)