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Verschiedene: Die Gartenlaube (1889)

„Im Gegentheil! Im Gegentheil!“ versicherte Adalbert Becker und langte nach den Sardinen, ich gebe Dir mein Wort, es hat mir lange nicht so gut geschmeckt.“

Der andere schwieg und betrachtete nachdenklich den Mann, dem, wie er sich selbst eingestand, die Schwester sich verkauft hatte. Er fühlte sich unsagbar elend heute früh, die Seelenkämpfe von gestern und der letzten Nacht waren nicht spurlos an ihm vorübergegangen. „Becker,“ begann er, „Du weißt, ich habe meine Schwester sehr lieb, sie ist ein ungewöhnliches Mädchen und ich erwarte, daß Du sie hoch hältst, sie –“

„Auf Händen trägst,“ ergänzte der andere. „Sei überzeugt, Tollen, ich weiß genau, wie man schöne Frauen zu behandeln hat.“

„Schöne Frauen – hm –!“

„Prosit, Tollen! Sie soll leben, die Schönste, die Eine, die Meine!“ Er trank sein Glas bis auf die Neige aus. „Wann darf ich denn kommen zu Deinem Alten?“ fragte er und wischte den Schnurrbart mit der Serviette, „steht es vielleicht hier drin?“ Er nahm den an seine Mutter adressirten Brief Lores und betrachtete ihn.

„Möglich,“ erwiderte Tollen.

„Die Frau Mama schlafen vermuthlich bis elf Uhr,“ entschuldigte Becker, indem er mit dem Dessertmesser rasch das Couvert aufschnitt und den flüchtig zusammengeknickten Zettel herausnahm.

„Aber, höre mal,“ rief der Lieutenant erstaunt und griff nach dem Briefe, „der ist an Deine Mutter! Gilt hier bei Euch das Briefgeheimniß nicht?“

„Ach was! Die Alte darf kein Geheimniß vor mir haben,“ wehrte der andere lachend. „Laß mal sehen –“ Er sprang nach dem ersten Blick auf das Papier empor und trat mit leichenblassem Gesicht auf den jungen Offizier zu, dann wandte er sich und schritt nach der weitgeöffneten Thür seines Ankleidezimmers. Entschuldige einen Augenblick!“ rief er zurück und verschwand, die Thür hinter sich zuziehend.

Der Lieutenant blieb betroffen sitzen, Lore hatte vielleicht nicht allzu freundlich geschrieben – was weiter? – Er sah sich in dem Frühstückszimmer seines künftigen Schwagers um, es war ein mit türkischen Stoffen behaglich dekorirter Raum, an den Wänden kostbare Waffen und allerlei Porzellan- und Bronzenippes, der Tisch funkelte im Scheine des lodernden Kaminfeuers von Silber und Krystall, der Teppich war ein echter Smyrna. Die Leute mußten schwer reich sein, und Reichthum war Glück in den Augen des armen, eben dem Verderben entgangenen Offiziers.

„Lore wird’s aushalten können,“ murmelte er mit einem Seufzer der Erleichterung und goß sich das Glas von neuem voll.

Eben erschien Becker wieder. Er lächelte und bemerkte, er habe nur dem Gärtner Auftrag gegeben, für Fräulein Leonore einen Strauß im Gewächshause zu binden.

„Ich werde also heute gegen abend kommen, um mit Schwiegerpapachen zu sprechen,“ setzte er hinzu, „Du würdest mich verbinden, wolltest Du mir sagen lassen, ob es so gegen sechs Uhr paßt. Dann recht bald die Hochzeit! Apropos, Tollen, kennst Du den Doktor Schönberg?“

„Na, so wie Du, von der Reunion und der Kneipe her.“

„Charmanter Junge – was?“

„Ein Erzphilister, denk’ ich.“

„Aber hübsch, klug? Die haben ja alle die Weisheit mit Löffeln gegessen.“

„Möglich! Und die Mädels haben ihn gern, meine kleine Schwester wenigstens scheint eine große Schwärmerei für ihn zu hegen.“

„So! So! Die kleine, Tollen? Uebrigens, Du kommst doch mit nach Neiphagen? Um elf Uhr fahren wir von hier fort, jetzt ist es Neun; Du hast mich verdammt früh aufgestöbert. Leg’ Dich also noch ein paar Stunden aufs Ohr und dann komm’ her, oder soll ich Dich abholen?“

„Nach Neiphagen?“ fragte Tollen.

„Na, um Gotteswillen, Mann des Friedens, weißt Du denn nicht. daß Natuschki uns zum Frühstück eingeladen hat? Vorgestern abend, als er mit der kleinen Schwarzen die Sektwette verlor.“

„Und die kommt zum Austrag heute? Richtig! Ja, weißt Du, Becker – ich danke! Ich bin müde.“

„Du hast wohl gute Vorsätze gefaßt über Nacht, alter Kerl? Na, sei nur gut, Du mußt mit, Du kannst mir als angehendem Bräutigam nicht zumuthen, das Fräulein Klingner nebst Mutter hinauszufahren, wie ich versprach. Das liegt Dir also ob. Ich werde mit dem Break und in angemessener Begleitung des Assessors nachkommen.“

„Ach, laß das heute, Becker, bleib hier, weißt Du, gerade heute, Du kommst sonst angekneipt zu dem Alten.“

„Nein, morgen wär’s überhaupt schon ein Verbrechen, mein Bester, Du bist um elf Uhr hier, basta! Denke Dir bloß den Jux, wenn die alte halbblinde Frau von Natuschka die Klingner wieder für Deine oder meine Gattin hält, wie neulich, als sie bei Breidenberg hineinschneite! Na, na, mach’ keine Faxen; Du kommst! Grüß’ mir mein Lorchen, Freund! Um fünf Uhr sind wir wieder daheim, und um sechs Uhr trete ich mit frischen Glacés bei Euch an. Mein Wort – sehr nüchtern, wie es sich für einen Bräutigam geziemt.“

Der Lieutenant fühlte sich im Wirbel herumgedreht und befand sich im Umsehen auf dem Korridor, wo der Diener ihm den Paletot umhing.

Er ging nach Hause. Ja, der Sturm war vertobt, aber eine erschrecklich drückende Stille war dafür eingetreten.

Daheim schien alles wie sonst. Er traf die Majorin im Eßzimmer.

„Es ist alles geordnet,“ sagte er kurz.

Sie wandte sich ab und weinte. „Werde vernünftig, Rudolf!“

„Wo ist denn Lore?“ fragte er.

„Sie wollte etwas ruhen.“

„Sage ihr doch, daß Becker heute abend schon zu Papa kommt.“

„Schon? – Und er ahnt noch nichts! Sag’ Du es ihm, Rudolf!“

„Ich werde es ihm selbst mittheilen,“ erklärte Lore, die eben eingetreten war.

„Mein Gott, Mädel,“ murmelte der Lieutenant. Sie sah zum Erbarmen aus.

„Ich gehe gleich zu Papa,“ wiederholte sie, „ich will nur eine Tasse Kaffee nehmen –.“

„Nein“ wehrte die Mutter, „das sollst Du nicht, das will ich Dir abnehmen,“ und sie küßte die Tochter und ging hinauf.

Lore saß am Tisch und hielt den Kopf gesenkt, als müsse jetzt das bekannte Donnerwetter da oben losbrechen. Aber alles blieb still. Nach einer langen Pause kam die Mutter mit verweinten Augen herunter. „Lore, er sitzt ganz blaß in der Sosaecke und will’s nicht glauben.“

Sie erhob sich und ging hinauf. Der alte Herr saß ganz gedrückt da, die Pfeife war ihm ausgegangen; sie lag unbeachtet zu seinen Füßen.

„Lore,“ sagte er unsicher, „das ist doch Dein Ernst nicht?“

Sie setzte sich neben ihn und legte den Kopf an seine Schulter. „Ja, Papa!“ flüsterte sie.

Dann schwiegen sie beide. Ein paarmal räusperte sich der alte Herr, als mache er einen Ansatz zu sprechen.

„Ich bin ein rechter Bettellump,“ sagte er endlich bitter und fuhr sich mit der Hand über die Augen, „ich kann nicht einmal sprechen. ‚Laß das, Kind, Du bereust es vielleicht – warte ab in Geduld!‘ Ich kann’s nicht; denn wenn ich morgen sterbe, habt Ihr armen Mädels nichts, wo Ihr den Kopf hinlegt. Mutters zweihundertfünfzig Thaler Witwenpension – – lieber Gott, ich darf Dir keine Zukunft verscherzen –. Wenn’s nach mir ginge, Lore – Allmächtiger – –“

Sie drückte ihm die Hand und schmiegte sich noch fester an ihn.

„Lore,“ begann er nochmal, „muß es denn sein?“

Sie nickte stumm.

„Ach, Kind, ich hatte es mir anders gedacht!“ seufzte er.

„Ich auch!“ klang es in ihrem Herzen, aber sie antwortete nicht.




Die Frau Pastorin Schönberg trat unruhig ans Fenster, es hatte schon vor einem ganzen Weilchen zwölf Uhr geschlagen. Draußen lag eine blendend weiße Schneedecke über Gärten und Straßen; es war der dritte Dezember und ein frostklarer Winterhimmel lachte über dem Städtchen, so, als habe er sich ganz extra blau gefärbt, weil heute das schönste Mädchen in Westenberg Hochzeit halten wollte. Die Gitterthüren des Beckerschen Parkes standen weit geöffnet und von den beiden Thürmchen der Villa flatterten lustig zwei Fahnen im Winde.

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1889). Leipzig: Ernst Keil, 1889, Seite 102. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1889)_102.jpg&oldid=- (Version vom 29.12.2019)