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verschiedene: Die Gartenlaube (1889)

schönen Zeiten, da man noch langsamer, bedächtiger, gemüthlicher lebte und schrieb – trotzdem wird man dem genialen Erfinder der Gabelsbergerschen Stenographie an seinem hundertjährigen Geburtstage den Zoll ehrenvollen Gedächtnisses nicht versagen dürfen. S.

Aus einer altdeutschen Stadt. (Mit Illustration S. 89.) „Die statt im Teütschen land seind gemeinlichen wol bewart von natur oder kunst, denn sie seind fast zu den tiefern wässern gesetzt, oder an die berg gegrundfestet, vnd die auff der freyen ebene ligen, seind mit starcken mauren, mit gräben, bollwercken, thürmen, schütten, vnd anderen gewehr umbfaßt, das man jnen nit bald kan zu kommen“; also schreibt Sebastian Münster in seiner Kosmography vom Jahre 1567, S. 465[WS 1] und zeichnet mit diesen wenigen Worten ein getreues Bild der altdeutschen Stadt, wie sie ihm und seinen Zeitgenossen entgegentrat und wie sie sich in einzelnen wenigen Fällen mehr oder minder verändert bis auf unsere Tage herab erhalten hat.

Um die altdeutsche Stadt richtig zu verstehen, müssen wir vor allem eingedenk sein, daß sie in der Hauptsache eine vergrößerte Burg ist. Nähern wir uns einer solchen, so stoßen wir zuvörderst auf die Letzen, d. h. die äußersten Vertheidigungswerke und Mauern, hinter denen der gedeckte Gang in die Thore des Vorwerkes führt. Die äußeren Thore werden durch die Ziegeln, die eigentliche äußere Mauer mit ihren Wachhäusern, mit einander verbunden. Der zweite gedeckte Gang hinter der äußeren Mauer hieß der Zwinger, war von Wirthschaftsgebäuden umgeben, diente als Turnierplatz und führte wieder zu einem Thore. Hinter dem Zwinger erhob sich die dritte innere eigentliche Hauptmauer und hier stand neben dem Hauptwartthurm oder Bercfrit der Palas, das Wohnhaus der Männer. Ueber die Gräben, mochten sie trockene oder von Wasser ausgefüllte sein, führten Zugbrücken und aus den Thürmen sprangen dort und da von Sparrenköpfen gestützte Erker vor, deren Boden man ausheben konnte, um den Feind mit Steinen, siedendem Wasser und Pech und Unrath zu überschütten. Natürlich durfte auch der Brunnen nicht fehlen; er besaß in den meisten Fällen ein Schöpfwerk: „so ein eimber begunde in gân, der ander ûz gie“.

Sehen wir uns nun in der meist in der Ebene gelagerten Stadt um, so finden wir die wenigen Häuser der Burg in vermehrter Anzahl, schmal, tief, mit einfachen oder Treppengiebeln massenweise an einander geschoben. Dem Palas entspricht etwa das Rathhaus, der Burgkapelle entsprechen die hochemporstrebenden Kirchen. Die Befestigungen sind wesentlich dieselben, nur weiter ausgebreitet und mit mehr Thürmen versehen und der innere Burghof wird zum luftigen Marktplatz.

Unser Künstler, der bayerische Hofmaler Ferd. Knab in München, 12. Juni 1834 zu Würzburg geboren, war erst Konditorlehrling, dann zwei Jahre Schüler des Architekten C. Heideloff in Nürnberg und lebt seit Ende der fünfziger Jahre der Architektur- und Landschaftsmalerei. Besonderen Reiz haben für ihn die Stilformen der Spätrenaissance, welche er auch in unserem Bilde zur Anschauung brachte.

Auch eine Königin. Der Fasching ist für den fröhlichen Rheinländer die Brausezeit, wo die sonst in dem festen Gefüge der gesellschaftlichen Ordnung gebannten Geister losgelassen werden zu fröhlichem Thun. Den Reigen eröffnen in dem „heiligen“ Köln die sogenannten Dreikönigs-Maskenbälle; den Patronen des Tages zu Ehren sind hier selbstverständlich Könige in allen Hautschattirungen, den König aus Kamerun nicht ausgenommen, zahlreich vertreten; noch fehlt es aber an einer Königin. Da wird bei den Klängen der Festpolonaise ein kunstvoll verzierter Kuchen, der Königskuchen, hereingebracht und vor den Augen der Gäste in lauter kleine mundgerechte Stückchen zerschnitten, jeder Tänzer führt seine Dame an dem süßen Backwerk vorbei, von dem dieselbe ein Stückchen erhält, das sofort hastig in dem kleinen Mündchen verschwindet – gilt’s doch zu prüfen, ob nicht etwa ein kleiner länglichrunder Gegenstand darin befindlich – eine besonders gekennzeichnete Bohne. Denn diese ist’s, deren Besitz der glücklichen Finderin die Würde der Königin des Festabends verleiht. Unter allgemeinem Jubel der bunt maskirten Schar wird ihr eine goldene Krone auf das Haupt gedrückt und ein besonderer Thronsitz angewiesen, auch steht ihr das Recht des Vortanzes zu. Goldene Geschmeide, mitunter von hohem Werth, bilden ein bleibendes Andenken für die „Bohnenkönigin“.

Um die Erde auf dem Zweirad. Eine Reise um die Erde ist heute keine Seltenheit mehr. Leute, die Geld und Zeit in Ueberfluß haben, pflegen sie zur Zerstreuung zu unternehmen. Man kann auch auf den großen Dampfern und den Blitzzügen, welche Amerika und Europa durcheilen, ganz bequem reisen. Um eine solche Fahrt handelt es sich in dem Werke, das uns vorliegt, nicht; in dem zweibändigen mit vielen Illustrationen geschmückten Buche „Um die Erde auf dem Zweirad“, das bei Ferdinand Hirt und Sohn in Leipzig erschienen ist, wird uns nach dem englischen Original[WS 2] die seltsame Fahrt geschildert, welche der Amerikaner Thomas Stevens vor einigen Jahren gemacht hat. Er war am 22. April 1884 von San Francisko aufgebrochen und kam am 17. Dezember 1886 in Yokohama an, wo er sich nach Amerika einschiffte. Die Wegstrecke, die er dabei thatsächlich auf dem Stahlrad zurückgelegt hat, wird auf etwa 21 600 Kilometer geschätzt. Diese gewiß an und für sich außerordentliche Leistung wird noch durch die Gefahren erhöht, denen der kühne „Reiter“ ausgesetzt war und die er glücklich zu überwinden wußte. Die Reise quer durch die Vereinigten Staaten und der Ritt durch Europa bis nach Konstantinopel sind im großen und ganzen als eine rein touristische Leistung zu betrachten. Als ein Bravourstück ist aber der weitere Ritt anzusehen. Durch Kleinasien und Persien ist Stevens bis zu den Grenzen von Afghanistan vorgedrungen, mußte jedoch hier umkehren und kam über den Suezkanal nach Karatschi, von wo er seinen „Ritt“ quer durch Indien bis Kalkutta unternahm. China bereiste er in einem weiten Bogen auf der Strecke von Kanton bis Shanghai. Das Staunen, mit welchem der Anblick des Stahlrosses die Völker des Orients erfüllte, und die Bewunderung, die man dem merkwürdigen Reiter zollte, waren die besten Bundesgenossen Stevens’. Trotzdem schwebte er oft in Lebensgefahr und sein amerikanischer Helm schützte seinen Kopf vor wuchtigen Hieben, die gegen ihn geführt wurden.

Stevens zeichnet sich aber auch durch eine gute Beobachtungsgabe aus und seine Reisebeschreibung gewinnt dadurch einen höheren Werth. Wir erhalten in dem Werke nicht allein die Schilderung eines Bravourstückchens, wie es bis jetzt von keinem anderen Touristen oder Radfahrer ausgeführt wurde, sondern auch eine Fülle belehrender, den Blick erweiternder Notizen. Völker und Länder gleiten kaleidoskopisch an uns vorüber und zwar in einer Beleuchtung, wie sie noch von keinem anderen Reisenden gegeben werden konnte. Darum fand das Werk nicht allein in Radfahrerkreisen lebhaften Beifall, in gewissem Sinne ist es auch eine Schrift, welche die reifere Jugend mit Nutzen lesen kann. *

Wanderungen eines Meteoriten. An den Ufern des Baches Bendengo, der die brasilianische Provinz Bahia durchströmt, wurde im Jahre 1784 einer der größten Meteorsteine der – Erde von einem Kuhhirten entdeckt. Gelehrte Reisende hatten den Meteoriten besucht und Stücke von ihm abgeschlagen, die chemisch untersucht wurden oder als Raritäten in Museen wanderten. Berlin, München, Wien und London sind mit Theilchen des großen Himmelskörpers versorgt worden. Man sollte denken, daß der Meteorit, nachdem er einmal auf die Erde herabgefallen war, seine Wanderungen endgültig beschloß und am Bache von Bendengo ruhen würde, bis ihn der Rost gefressen. Aber die Menschen ließen ihn nicht ruhen. Zunächst vermuthete man, daß in dem himmlischen Steine Silber enthalten sei, und wollte ihn nach der Stadt Bahia bringen. Vierzig Ochsen wurden vorgespannt, aber man brachte den Koloß nur 150 Schritt vorwärts. Neuerdings aber wurde er dennoch in das Nationalmuseum von Rio de Janeiro gebracht. Er wiegt gegenwärtig noch 5343 Kilogramm. Silber enthält er nicht, sondern 91,90% Eisen, 5,70% Nickel etc.

So hat der Meteorstein seine Geschichte, aber welche Wanderungen er in den Himmelsräumen durchgemacht und wann er zur Erde gefallen, darüber fehlt jedwede Auskunft. *

Heimathstätte für Heimathlose. (Mit Illustration S. 100.) Wir gehen über die Heide von Sylt – die Insel ist so still und man muß sagen öde wie nur immer möglich – hie und da weiden Schafe auf den mageren Triften, Schwalben und Lerchen fliegen auf und Möven schweben mit dem Klagegeschrei eines kleinen Kindes sturmverkündend über dem Rothen Kliff – unten, am Fuß desselben donnert die Brandung, die Nordsee verschlingt brüllend den großartigen Strand mitsammt den kleinen Festungen, welche die Badegäste aus dem weißen Sande aufzuführen pflegen – Strandgüter aller Art, die Hummerkisten der englischen Fischer, zerbrochene Planken und Ruder, Rammpfähle und Rettungsbojen, Tonnen und Flaschenposten aus dem Atlantischen Meere, buntbemalte Gallionbilder, todte Tümmler werden von der Fluth ans Land geworfen, wieder verschlungen und wieder ausgeworfen. Da seht! Auch der Leichnam eines Menschen kommt angeschwommen – der Mann hat lange mit den Wellen gekämpft, man erkennt es an den krampfhaft geballten Fäusten, an den angstvoll zusammengezogenen Lippen; endlich ist er dem übermächtigen Element erlegen – die gewaltige Fluth hat ihn geknickt wie einen Strohhalm – jetzt ist er gelandet, aber todt.

Wie heißt er? Woher ist er? Wohin fuhr er? – niemand weiß es. Er wird aufgelesen und auf dem kleinen Friedhof von Westerland, der den obigen Namen trägt, begraben, heimathlos, namenlos.

Nichts steht auf dem hölzernen Kreuzlein als eine Nummer, und der Tag und der Ort, an dem ein Mensch ertrunken gefunden ward:

I.
Den 3. Oktober 1855.
W. St.

Oder:

XIV.
Den 26. November 1863.
R. St. –

Es erinnert das an die Katakomben der Jesuiten, deren Persönlichkeit und Name in ihrem Orden gleichfalls untergeht und die im Gedächtniß der Nachwelt nur als Pater I und Pater II fortleben.

W. St. ist Westerland Strand; R. St. ist Rantum Strand – der westerländer Friedhof dient nur für die in Westerland und Rantum angetriebenen Leichen, während List, am Nordende der Insel, seit dreiundzwanzig Jahren seinen eigenen Friedhof für Schiffbrüchige hat und in Keitum für dieselben eine besondere Abtheilung auf dem allgemeinen Friedhofe besteht. Jede Sylter Gemeinde hält in einem Häuschen beständig einen Sarg in Bereitschaft, in welchem die Verunglückten gebettet und auf eine jener drei Heimathstätten übergeführt werden.

Bis vor drei Jahrzehnten verfuhr man auf Sylt anders. Es war Sitte, die angetriebenen Leichen in den Dünen zu verscharren, nicht bloß ohne Sarg, sondern auch ohne Sang, wie die Leute dort sagen, das heißt: ohne Predigt und religiöse Ceremonie. – Erst in dem oben angegebenen Jahre 1855 ummauerten die Westerländer das Plätzchen hinter den Dünen mit aufgeworfener Erde und bestimmten es zu einer Heimathstätte für Heimathlose. Neununddreißig Heimathlose, also mehr als einer auf das Jahr, hatten bis zum vergangenen Sommer hier eine Heimathstätte gefunden, die auf den beiden andern, jüngeren Friedhöfen Beerdigten nicht gerechnet – sanft ruhen sie, vom Rauschen des Meeres eingewiegt, alle ihre Kreuzchen sind bekränzt, und Schiffchen, aus Binsen geflochten, schwanken als harmlose Angedenken auf den Gräbern.

Zwei Jahre nach Ummauerung des Friedhofes, im Jahre 1857, wurde, auf Anregung eines Altonaer Arztes, das Seebad von Westerland eröffnet; und seitdem ist die Insel Sylt ein Lieblingsruheplatz, eine Heimstätte des Friedens auch für die Lebendigen. Tausend kranke, überreizte Menschenkinder zieht es im Sommer nach diesem äußersten Fleckchen deutscher Erde; Badegäste aller Stände und jeden Alters legen den langen Weg durch Schleswig-Holstein oder den geraden Weg von Hamburg

über Helgoland und Föhr zurück, um ein paar Wochen in dieser

Anmerkungen (Wikisource)

  1. Digitalisat der BSB München (die Stelle beginnt in der sechsten Zeile von unten)
  2. Around the World on a Bicycle (London 1887–1888) Band 1 Internet Archive, Band 2 Internet Archive
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verschiedene: Die Gartenlaube (1889). Ernst Keil's Nachfolger, Leipzig 1889, Seite 99. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1889)_099.jpg&oldid=- (Version vom 23.2.2020)