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Verschiedene: Die Gartenlaube (1889)


 „Geehrte Frau Becker!

Gestatten Sie, daß ich an Stelle meines Vaters Ihr geehrtes Schreiben beantworte, indem ich Ihnen sage, daß es mir eine Ehre sein wird, wenn Ihr Herr Sohn sich bei Papa um meine Hand bewirbt.
 Leonore von Tollen.“

Sie faltete das Billet und schob es in ein Couvert. Dann ergriff sie einen zweiten Bogen:

„Es ist alles aus, Ernst! Vergieb mir; werde glücklich ohne mich und verdamme nicht Deine arme
  Lore.“

Sie schloß auch dies Couvert, adressirte dann beide Briefe und ahnte nicht, daß sie dieselben in ihrer furchtbaren Aufregung verwechselte. Den einen mit der Adresse der Frau Becker übergab sie dem Bruder, den andern behielt sie noch in der Hand.

„Ich gehe zur Mutter, Rudolf.“

Er schlang plötzlich den Arm um sie und begann zu weinen. „Lore,“ sagte er, „ich will mich ändern, bei Gott, ich will –“

„Zu spät für mich!“ dachte sie, und sie machte sich los von ihm und ging. Sie tastete die Treppe hinunter und legte das Schreiben, das die Adresse: Herrn Doktor Ernst Schönberg z. Z. in M. trug, auf den Küchentisch; das Dienstmädchen wußte, daß es die dort befindlichen Briefe nach dem Postkasten zu tragen habe, wenn sie am frühen Morgen die Semmeln beim Bäcker holte. Eine Marke für den Brief hatte Lore nicht, sie dachte auch gar nicht daran. Dann ging sie wieder hinauf und setzte sich an das Bette der Mutter. „Schlaf ruhig, Mama, Rudi bleibt bei uns.“

„Er kann ja nicht, Lore, er kann nicht!“

„Doch, Mama; es kommt alles in die Reihe. Rudi geht zu Becker morgen früh – der will es arrangiren.“

„Lore!“ rief die Mutter erschreckt.

„Was denn, Mama?“

„Um Gott, Lore, Du wolltest – –?“

„Ja – es wird schon gehen.“

„Liebst Du ihn denn, Lore?“

„Ich? – Mama, es wird schon gehen.“

„Lore, Herzenskind, ich meinte immer, der Doktor Schönberg – –“

„Doktor Schönberg? Ach nein, Mama.“ Sie sprach es, als sei es nicht ihre eigne Stimme.

„Lore, es sind nicht immer die glücklichsten Ehen, die die Liebe schließt; glaube es mir, Herzenslore!“

Die alte Frau nahm des Mädchens Hände und zog sie an sich, und ein heißer Thränenstrom erleichterte das geängstigte Herz. Lore fühlte die rinnenden Thränen auf ihrem Gesicht; sie selbst konnte nicht mehr weinen, in ihr war alles kalt und todt.

Sie schliefen beide nicht bis zum grauenden Morgen, dann endlich schlummerte die alte Frau ein. Lore blieb am Bette sitzen, unbeweglich. Erst als sie drunten die Thür gehen hörte, hob sie den Kopf und starrte mit glanzlosen großen Augen in das Gesicht der Mutter, als müsse sie sich besinnen, dann sprang sie auf und eilte in die Küche hinunter.

Der Brief war fort.

Sie lief wie wahnsinnig durch den Garten, zur Pforte hinaus, an das Wasser. Dichter Nebel lag über der Landschaft, die Luft war ruhig und voll herbstlichen Duftes, an der Birke aber hing nicht eins der goldschimmernden Blättchen mehr; der Sturm hatte sie sämmtlich herabgeweht. Das kleine Dienstmädchen kam, um Wasser zu schöpfen, und wunderte sich, ihr Fräulein dort an der Erde knieen zu sehen, den Kopf gegen den Stamm des Baumes gelehnt und die Hände ineinander geschlungen.

„Nein – die Vornehmen!“ murmelte sie und ging mit gefüllten Eimern zurück, und ihre singende Stimme scholl grell durch den Nebel:

„Kühler Reif kam über Nacht,
Nahm den Blumen ihre Pracht,
Ihre Schönheit auch dabei,
Glücklich, wer ist frank und frei.“


(Fortsetzung folgt.)




Hausgymnastik für Mädchen und Frauen.

Die Gefahren für die Gesundheit, welche das moderne städtische Leben mit sich bringt, treffen nicht alle Schichten der Bevölkerung in gleichem Maße. Auch zwischen den Geschlechtern besteht nach dieser Richtung hin ein wesentlicher Unterschied: der Mann tritt in den Kampf gegen diese Gefahren viel besser ausgerüstet als die Frau. Leibesübungen, welche die Gesundheit stärken, ziemen dem Mann, und schon der Knabe übt sich darin und sucht in klug angeregtem Ehrgeiz seine Genossen zu übertreffen. Unsere Mädchen dagegen werden in allerlei nützlichen Beschäftigungen unterrichtet, bei denen das Stillsitzen nothwendig ist. Anstand, Sitte, gute Erziehung und andere an und für sich hochzuschätzende Güter haben auf dem Gebiete der weiblichen Leibespflege gewisse Vorurtheile erzeugt, die schon dem kleinen Mädchen, das noch ein Kind ist, freies Umhertummeln verbieten, die es in enge Kleider einschnüren und leider so oft verkümmern und verwelken lassen.

Das sociale Leben der Gegenwart hat nach dieser Richtung hin die Frau in eine ungünstige Lage gedrängt, und es ist dringend zu wünschen, daß sie aus derselben befreit werde, daß ihr das Recht zu theil werde, sich gesund und kräftig zu entwickeln.

Einsichtige Pädagogen haben das längst erkannt und im Mädchenturnen ein Mittel gegen diese Vernachlässigung der weiblichen Erziehung gefunden und dieses warm empfohlen. Die Aerzte schließen sich ihnen rückhaltlos an, sofern das Mädchenturnen nicht eine bloße Nachahmung des Turnens für Männer bildet, sondern dem Wesen der Frau angepaßt wird.

Leider sind gerade auf diesem Gebiete die Vorurtheile noch zu bekämpfen, die in den meisten Kreisen gegen das weibliche Turnen herrschen, sowie die Gleichgültigkeit der Massen, welche jeder noch so guten Neuerung abhold ist. Auch das Schulturnen gewinnt in Mädchenschulen nur langsam an Boden. Aus diesen Gründen ist es besonders willkommen, daß zwei hervorragende Turnlehrer, Stabsarzt Dr. med. E. Angerstein und G. Eckler in Berlin, eine Anleitung zu körperlichen Uebungen für Gesunde und Kranke weiblichen Geschlechtes herausgegeben haben. Das Werk „Hausgymnastik für Mädchen und Frauen“ (Berlin, Verlag von Th. Chr. Fr. Enslin) zeichnet sich nicht allein durch treffliche gemeinverständliche Darstellung, sondern vor allem dadurch aus, daß es die Frauen lehrt, wie sie, ohne an die Oeffentlichkeit zu treten, in zweckmäßiger, die Gesundheit fördernder Weise zu Hause turnen können. Die Hausgymnastik ist für Frauen und Mädchen schon aus dem einen Grunde ungemein wichtig, weil sie selbst die übertriebensten Ansprüche des konventionellen Anstandes, wir möchten beinahe sagen: der Prüderie, vollkommen wahrt. Es kann doch kein noch so peinliches Gefühl verletzt werden, wenn die Tochter unter der Aufsicht der Mutter oder diese allein zu Hause turnt. Der Nutzen, den ihnen diese Uebung bringt, ist dagegen ein unermeßlicher: die Hausgymnastik fördert nicht allein. die Gesundheit, mehr noch als der Tanz, dessen gesundheitlicher Werth doch fraglich bleibt, sie verleiht der heranwachsenden Jungfrau auch gerade Haltung, guten Wuchs und jene Leichtigkeit und Anmuth der Bewegungen, die im späteren Leben so oft schmerzlich vermißt werden. Die Hausgymnastik bringt den Frauen in der That nicht allein Gesundheit, sondern auch Geschicklichkeit und die wahre Schönheit, die auf der natürlichen Haltung des Körpers beruht.

Welche Mutter würde wohl diese Güter ihrer Tochter vorenthalten wollen, welche Frau nicht bestrebt sein, sie zu erhalten?

Wir empfehlen unseren Leserinnen, nach den Angaben von Angerstein und Eckler die Hausgymnastik zu versuchen; sie werden sich bald von der Wahrheit unseres Ausspruches überzeugen.

Die Hausgymnastik für Frauen und Mädchen ist recht einfach gestaltet. Sie kann selbst ohne alle Apparate ausgeführt werden; denn die Freiübungen des deutschen Turnens bieten eine große Auswahl zweckmäßiger Körperbewegungen, die sich für Mädchen und Frauen eignen.

Wir wollen nur einige Beispiele anführen, um zu zeigen, wie mit anscheinend ganz kleinen Mitteln große Erfolge erzielt werden können.

Empfohlene Zitierweise:
Verschiedene: Die Gartenlaube (1889). Leipzig: Ernst Keil, 1889, Seite 91. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1889)_091.jpg&oldid=- (Version vom 12.12.2020)