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Verschiedene: Die Gartenlaube (1889)

No. 6.   1889.
      Die Gartenlaube.

Illustrirtes Familienblatt. — Begründet von Ernst Keil 1853.

Wöchentlich 2 bis 2½ Bogen. – In Wochennummern vierteljährlich 1 Mark 60 Pfennig oder jährlich in 14 Heften à 50 Pf. oder 28 Halbheften à 25 Pf.


 

Lore von Tollen.

Nachdruck verboten.
Alle Rechte vorbehalten.
(Fortsetzung.) Roman von W. Heimburg.


Gegen mittag hatte der Beckersche Diener ein Schreiben an den Herrn Major von Tollen abgegeben, nebst einem Hasen und einer Empfehlung von Frau Becker; den Hasen habe der Herr heute früh geschossen. Die Hausfrau hatte dem Ueberbringer beides selbst abgenommen.

Der Major war grimmiger Laune heute; er ärgerte sich über den Herrn Sohn, der es mehr als je an Rücksicht für ihn fehlen ließ, und die Damen mußten es ausbaden. Rudi war wieder erst in der Nacht um ein Uhr heimgekommen, klagte heute früh über Kopfschmerzen und befand sich infolge dessen in sehr gereizter Stimmung.

„Was mag es nur sein?“ fragte ängstlich die Majorin, nachdem sie den Diener abgefertigt hatte. Dabei betrachtete sie angelegentlich das elegante Couvert.

„Mama,“ sagte Lore sanft, „wenn Du es nicht weißt, ich kann es Dir nicht verrathen; ich denke aber, es ist das Begleitschreiben zu dem Braten.“

Das vergrämte Gesicht der alten Dame ward roth vor Verlegenheit.

„Ach Gott,“ seufzte sie, „wenn nur Frau Becker nicht –“

„Um mich anhält für ihren Adalbert, Mama? Ich würde mich nicht wundern.“

„Ist es denn eine Beleidigung, wenn eine Mutter, die ihren Sohn liebt, das Mädchen seiner Wahl zu gewinnen sucht für ihn?“ rief Frau von Tollen.

„Mama, Du mußt bei der Sache bleiben, bitte, Mama! Es ist eine Dreistigkeit, wenn sie es wagt, nachdem ich –“

Lore brach ab, sie sah an dem Gesichtsausdruck ihrer Mutter, sie sollte nicht verstanden werden.

„Ich muß das Schreiben abgeben,“ sagte Frau von Tollen resolut und legte den Hasen auf das Fensterbrett. „Wozu spreche ich noch? Es wird sich ja finden, was sie will.“

Lore mußte lächeln; sie wußte es am besten, welch einen Aufwand von Muth die Mutter brauchte, um dies, gerade dies Schreiben in die Hände ihres Mannes zu legen. Er langte auch nicht ganz zu, der Muth; die Majorin kam wieder zurück in die Küche.

„Rieke!“ rief sie aus dem Fenster in den Garten hinaus, „komm einmal her!“ Sie hatte den Brief auf einen Teller gelegt und übergab ihn nun dem kleinen Dienstmädchen. „Den trage zum Herrn Major hinauf; aber erst eine reine Schürze – so – er sei eben abgegeben worden.“

Sie nahm auf einem Stuhle Platz neben dem Küchentisch, an dem Lore stand und Aepfel schälte, rein mechanisch; sie war


Faschingslust. Nach dem Oelgemälde von Sophie Meyer.

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1889). Leipzig: Ernst Keil, 1889, Seite 85. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1889)_085.jpg&oldid=- (Version vom 1.4.2020)