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Verschiedene: Die Gartenlaube (1889)

nach dem Zusammenbruch des Panamakanal-Unternehmens wieder eifrigst aufgenommen wurde. Denn das erste Projekt, das ja in kleinem Maßstabe bereits bei dem Elbing-Oberländischen Kanal in Ost- und Westpreußen zur Anwendung gekommen ist, wird sicherlich nie einem Seekanal ernstliche Konkurrenz machen können, selbst wenn es gelänge, die Bedenken gegen eine solche Beförderung schwerbeladener Vollschiffe außerhalb des sie stützenden Elementes vollständig zu beseitigen.

An der Ausführbarkeit eines Kanals dagegen ist nicht zu zweifeln. Dies Projekt, schon längst beifällig in Amerika aufgenommen, ist nach der Inangriffnahme des Panamakanals dort besonders beliebt geworden und scheint nach dem Zusammenbruch jenes Unternehmens feste Gestalt gewinnen zu sollen.

Die beiden Endhäfen sind Greytown am Atlantischen Ocean, an welcher Stadt der aus dem großen Nicaraguasee strömende San Juan mündet, und Brito am Stillen Meer. Die Länge des hier herzustellenden Kanals beträgt 272 km, von denen 62 km im Querschnitt völlig auszuheben sind, während 210 km von Flußläufen und Seen eingenommen werden. Da der Nicaraguasee 33 m über dem Meere liegt, sind Schleusen nöthig, und zwar vom See nach dem Stillen Ocean vier, nach dem Atlantischen Ocean drei, eine jede von 195 m Länge.

Die zu durchfahrende Strecke des Nicaraguasees mißt 90 km, sie bedarf aber noch der Vertiefung. Den San Juan dagegen will man auf halbem Weg bei Ochoa abdämmen und damit das ganze Flußthal in einen weiten Binnensee verwandeln, der als Halte- und Ausweichestelle dienen kann. Von da ab kommt die eigentliche, völlig auszuhebende Kanalstrecke mit den drei Schleusen bis Greytown, dessen Hafen jetzt ganz versandet und daher vollständig neu zu schaffen ist. Ebenso ist bei Brito ein Hafen herzustellen; hier soll durch zwei Wellenbrecher ein Becken von 25 Hektar Fläche gewonnen werden, das gegen alle Winde geschützt ist.

Der Kanal soll mindestens 9 m Tiefe haben, im Nicaraguasee und im Becken des San Juan geht die Wassertiefe über 16 m hinaus. Man erinnere sich, daß die Tiefe des Suezkanals nur 8½ m beträgt. Die Durchfahrtszeit mit allem Zeitverlust wird auf 30 Stunden berechnet. Die Schleusen sollen zwei Schiffe auf einmal aufnehmen können und jede Schleusung wird 45 Minuten beanspruchen. Aber wenn auch nur ein Schiff auf einmal durchgelassen werden sollte, so ergiebt das 32 Schiffe für den Tag oder 11 680 Schiffe im Jahre, die einen Gesammtgehalt von 20½ Millionen Tonnen repräsentiren würden; das ergäbe bei einer Abgabe von 10 Schilling pro Tonne, wie im Suezkanal, 10 250 000 Pfund Sterling oder 205 Millionen Mark Einnahmen.

Die Gesammtkosten des Unternehmens werden auf 65 Millionen Dollars veranschlagt, doch will die Gesellschaft, welche bereits vom Kongreß der Vereinigten Staaten dem Repräsentantenhaus zur Gewährung des nöthigen Freibriefs empfohlen ist, und die selbst von vornherein auf jede Unterstützung seitens des Staates verzichtet hat, sich auf ein Kapital von 100 Millionen Dollars stützen. Der obige Anschlag schließt freilich weder die Kosten für den zu erwerbenden Grund und Boden ein, noch Entschädigungen, die an die Eigenthümer zu zahlen sein werden, welche durch die Stauungen der Flüsse jedenfalls bedeutende Schädigungen erleiden müssen.

Hinsichtlich der Zeitersparniß welche er gewähren würde, müßte dieser Kanal hinter dem Panamakanal nicht weit zurückbleiben. Und so scheint es denn nun, daß trotz der anfänglich gegen das Schleusensystem erhobenen Einwände und der Opposition, welche die großen Eisenbahngesellschaften dem Kanalbau entgegenbrachten, dies Projekt doch eine Verwirklichung erfahren soll. An den nöthigen Mitteln wird es heute nach der Stockung der Arbeiten am Panamakanal gewiß nicht fehlen, wenn nicht etwa der Fall eintreten sollte, daß die Amerikaner das Erbe Lesseps’ und seiner Aktionäre antreten und der Westen das vollendet, was der Osten nicht vermochte. Es wäre das nur ein weiterer Triumph der Monroe-Lehre, welche behauptet, daß in Amerika Europa nichts zu schaffen habe.




Die Vermählung der Todten.

Von Isolde Kurz.
(Schluß.)


Ginevra erkannte die Särge, die am Boden gereiht standen, um am nächsten Morgen in die Erde versenkt zu werden, und es schien ihr, als umfange sie ein riesiges Grabgewölbe. Ihre erste Bewegung war, sich in sich selbst zusammenzuschmiegen und das Gesicht zu verstecken wie ein Kind, das sich im Dunkeln fürchtet, aber nun stieß sie an die Wände ihres Sarges und sah über sich den zurückgeschobenen Deckel.

Von namenlosem Grauen erfaßt, erhob sie sich und stieg, an allen Gliedern zitternd, aus ihrer engen Ruhestätte hervor.

Lange Schatten, durch das schwankende Licht hervorgerufen, wankten an den Kirchenwänden hin und huschten an ihr vorüber. Sie fühlte, wie sich die Haare auf ihrem Kopf aufrichteten, und wußte nicht, wohin sich wenden; in der grausenvollen Einsamkeit fürchtete sie sich vor sich selbst. Jeden Augenblick, dachte sie, müßten sich auch die anderen Särge aufthun, die Leichen heraussteigen, sie mit kalten Armen umfassen und in einem wahnsinnigen Reigen mit ihr durch die öden Kirchenräume wirbeln.

In sinnloser Angst stürzte sie vorwärts; aber der Weg, den sie wählte, war zu ihrem Heil, denn ohne es zu wissen, hielt sie sich an die frische Luftströmung, die ihr entgegenwehte. Mit wankenden Knieen und Gliedern, in denen noch die Starre des Todes lag, eilte sie der kleinen Pforte zu, die Leonardo offen gelassen hatte, und trat auf den einsamen Domplatz heraus.

Der volle Mond stand am Himmel und beleuchtete fast taghell die Piazza und die umstehenden Gebäude. Ginevra raffte sich auf, und mit einer Schnelligkeit, als säße ihr ein ganzes Gespensterheer im Nacken, flog sie dem nächsten Gäßchen zu, das sich vor ihr aufthat. Auf der raschen Flucht durch die stillen Straßen vermehrte sich noch ihre Furcht und trieb sie zu immer rasenderem Lauf; wer ihr begegnet wäre, hätte sie leicht für den Geist jener vom wilden Jäger verfolgten Jungfrau halten können, deren jammervolle Geschichte Meister Boccaccio in seinem „Dekamerone“ berichtet.

Aber niemand begegnete ihr, Straßen und Plätze waren ausgestorben, die Häuser lagen im Dunkeln. – Hoch über Florenz thronte der Tod und spannte über die ganze verstummte Stadt seine breiten schwarzen Flügel aus.

Ohne sich umzusehen, rannte Ginevra nahe an den Häusern hin und wagte nicht eher still zu halten, als bis sie mit laut pochendem Herzen vor der Thür ihres Hauses stand.

Auf ihr Klopfen regte sich lange nichts, endlich ging ein Fenster im obern Stockwerk auf und ein Kopf erschien vorsichtig, um mit einem lauten Aufschrei wieder zu verschwinden.

Aufs neue faßte Ginevra den Klopfer und begann mit der Kraft der Verzweiflung ihre Thür zu bearbeiten wie einen Amboß; sie wollte auch rufen, aber die Zunge klebte ihr am Gaumen, daß sie keinen Laut hervorbrachte.

Obwohl sich niemand blicken ließ, wurde es doch innen lebendig, ein Diener rannte mit Licht in der Hand von Zimmer zu Zimmer, weckte die Schläfer und erzählte mit leichenblassem Gesicht und stockender Stimme, daß vor der Hausthür der Geist der todten Madonna Ginevra stehe und Einlaß begehre.

Die ersten, die diese Botschaft vernahmen, meinten, der Pförtner habe sich beim Leichenschmaus übernommen; der aber horchte mit aufgehobenem Finger in solcher Herzensangst nach der Straße hinunter, daß auch die andern still wurden und das Klopfen an der Hausthür vernahmen.

Von Zimmer zu Zimmer flog die Kunde und trieb die ganze Familie aus den Betten. Alle drängten sich Gebete sprechend und Kreuze schlagend zusammen wie eine Schafherde im Gewitter und niemand wagte mehr ans Fenster zu treten und nach der Straße hinabzublicken, wo Madonna Ginevra in dem weißen Sterbegewand und dem goldenen Kränzlein, mit dem man sie vor wenigen Stunden in den Sarg gebettet, stehen sollte.

Zuletzt erschien auch Messer Baldassarre im langen Nachtkleid, ein Kruzifix in der einen und ein Licht in der andern Hand.

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1889). Leipzig: Ernst Keil, 1889, Seite 79. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1889)_079.jpg&oldid=- (Version vom 15.9.2022)