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Verschiedene: Die Gartenlaube (1889)


Gärten gehörten zu den Bürgerhäusern der inneren Stadt, hie und da stand ein einfaches Lusthäuschen. Ueber die schon gelichteten Ligusterhecken ragten die entblätterten Aeste der Obstbäume, in denen die Sperlinge plusterten; sonst glich die Landschaft einem Meere, so dicht war der Nebel, er verhüllte die alten Wälle und Mauern der Stadt zur Linken und die Felder rings umher; kein Mensch war auf dem einsamen Pfade, der sich feucht und schmal vor ihr dahinzog.

Käthe betrachtete das Couvert und biß sich auf die Unterlippe. Darin standen Liebesworte an ihn und – Lore hatte sie geschrieben!

Sie heftete die Augen so starr auf das weiße Papier, als vermöchte sie, dasselbe mit ihrem Blick zu durchdringen. Sie konnte einfach das Schreiben herausziehen, aber sie that es nicht, sie hätte es nicht gethan um alles in der Welt.

Man soll anderer Leute Briefe nicht lesen, auch wenn sie offen sind, und man will es auch nicht, wenn man weiß, daß jedes darin enthaltene Wort so weh thut im eigenen Herzen wie ein Messerstich.

Käthe war seit gestern kein Kind, kein gedankenloser Backfisch mehr; Käthe war zum jungen Mädchen erwacht. Sie begriff selbst nicht, wie sie bis jetzt gelebt! – Sie hatte die Nacht schlaflos verbracht und nachgedacht und geweint, und sie war zu dem Abschluß gekommen, daß sie „verrückt“ werden müsse, wenn – ja wenn – –? „Verrückt werden!“ war immer ein Lieblingsausruf, wenn ihr leidenschaftliches Temperament nicht mehr ein noch aus wußte.

Sie preßte auf einmal den Brief in einen Knäuel zusammen und ballte die Hand zur Faust darum. Weshalb sollte sie, gerade sie, diese Liebesbotin sein?

Durch den Nebel erschollen jetzt drei Glockenschläge. Sie hob den Kopf. „Dreiviertel auf Acht!“ flüsterte sie. Um acht Uhr pünktlich mußte er abfahren! – Sie drehte sich plötzlich auf dem Absatz herum und schritt den Weg zurück, hinter ihr in der Ferne rollte ein Zug, da lag der Bahnhof. Sie schlenderte förmlich, dann blieb sie stehen und zupfte eine halb erfrorene Hagebutte von dem wilden Rosenstrauch, der sich durch die Hecke drängte mit schwankem dornigen Gezweig, sie öffnete die rothe Frucht und begann die behaarten Körner zu zählen. Der Gazeschleier ihres Hutes ward feucht, so naß ging der Nebel hernieder. Sie mußte wohl sehr frieren, sie sah entsetzlich blaß aus.

Nach einer Weite schlug sie wieder die Richtung nach dem Bahnhofe ein, sie schritt jetzt sogar eilig dahin, den Papierknäuel trug sie noch immer in der Hand. Ganz unten tauchte ein rother Ziegelsteinbau aus dem lichter werdenden Nebel auf, das war die Station. Wieder tönte ein dumpfes Rollen, näher und näher kam es, das war der Hamburger Kurierzug, der um acht Uhr von hier weiterging, mit dem er fahren mußte. Sie begann auf einmal zu laufen, sie war dunkelroth geworden und die Augen schimmerten in Thränen. Dann hielt sie athemlos ein, just am Ende des Gartenweges. – Ein greller Pfiff, und der Zug fuhr aus dem Bahnhof, sie konnte ihn hinrasen sehen, hinein in das silbergraue Nebelmeer – hatte dort nicht jemand aus dem Coupéfenster geschaut? Er?

Nun schlugen auch die Glocken der Stadtuhren achtmal.

„Zu spät!“ flüsterte sie, und langsam wandte sie sich nach links, um das Büchower Thor zu erreichen. Der Zug war zu früh abgefahren, entschieden zu früh!

Sie nahm den Papierknäuel und begann ihn zu zerreißen in lauter winzige Stückchen, sie flatterten wie Schneeflocken ein Weilchen hinter ihr drein und blieben dann gleich weißen Blümchen auf dem nassen Grase zur Seite des Weges liegen. Sie wußte kaum, was sie that; sie dachte nur immer, daß sie „verrückt“ werden müsse, wenn – ja wenn – –
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(Fortsetzung folgt.)




Wilhelm Jordan.

Ein Gedenkblatt zu des Dichters siebzigstem Geburtstage.
Von Alexander Tille.

Es war im Sommer des Kriegsjahres 1870, als Rudolf v. Gottschall an dieser Stelle in seinen „Litteraturbriefen an eine Dame“ auch über die Werke seines Studienfreundes Wilhelm Jordan plauderte, der damals rüstig an seinen „Nibelungen“ arbeitete. Seitdem sind achtzehn Jahre ins Land gegangen; das mächtige Doppelepos ist längst vollendet und noch manches andere hat der Dichter geschaffen. Aber auch an ihm sind die Jahre nicht spurlos vorübergegangen: er ist unterdessen ein Greis geworden und feiert am 8. Februar seinen siebzigsten Geburtstag.

Mehr als vierzig Bände füllt die Arbeit seines Lebens, und nicht leicht darf sich einer unserer lebenden Dichter rühmen, mit gleichem Fleiße auf gleich vielen Gebieten so erfolgreich gearbeitet zu haben wie Jordan. Neben politischen Sturmgesängen stehen philosophische Dichtungen, neben dem Epos eine ganze Reihe dramatischer Arbeiten: Trauer-, Schau- und Lustspiele, neben lyrischen Sammlungen zwei umfangreiche Romane und bedeutsame Uebersetzungen, und seine litterarisch-ästhetischen Arbeiten finden ihr Gegenstück in Prosawerken historischen, naturphilosophischen und religiösen Inhalts. Aber so verschieden auch alle diese Schöpfungen nach litterarischer Gattung, Inhalt und Form sein mögen, gleichwohl zieht sich durch sie alle ohne Ausnahme ein rother Faden.

Das Centrum, um das sich Jordans Schaffen bewegt, sind die philosophischen und besonders die religiös-ethischen Probleme des neunzehnten Jahrhunderts. Die Fragen, welche heute die denkenden Köpfe beschäftigen, sind meist solche, von denen man vor hundert, ja vor fünfzig Jahren noch nichts wußte. Die Wissenschaften haben in unserem Jahrhundert eine Reihe von Entdeckungen zu verzeichnen, die bereits allenthalben ins praktische Leben hinübergreifen und berufen sind, die gesammte Anschauungswelt der Gegenwart umzuwandeln. Und die neuen Anschauungen gilt es in Beziehung zu unserem Fühlen und Denken zu setzen, ihnen ein poetisches Gepräge zu geben; das gilt vom Eisenbahnzug wie von der Descendenztheorie und von der elektrischen Maschine wie von den Gesetzen der Zuchtwahl; denn an sich ist nichts poetisch, ebensowenig wie etwas an sich unpoetisch ist.

Namentlich auf geistigem Gebiete mächtig für die Umprägung neuer Errungenschaften zu poetischen Werthen gewirkt zu haben, ist Wilhelm Jordans unbestreitbares Verdienst, und dies sichert ihm einen ehrenvollen Platz in der Litteraturgeschichte der Zukunft. Das Gebiet seines Schaffens lag aber, obwohl es durchaus zeitgemäß und geschichtlich gegeben war, doch etwas abseits von der Straße, auf welche die große Menge durch äußere Ereignisse gedrängt wurde, und vornehmlich daraus erklärt es sich, daß die Werke des Dichters bei den Zeitgenossen noch nicht ihre volle Würdigung gefunden haben. Trotz alledem war es für den Dichter selbst durch eine innere Nothwendigkeit geboten, daß er sich gerade diesem Felde zuwandte; er löste damit eine Aufgabe, welche er gewissermaßen von seinen Vorfahren überkommen hatte, und die ihm überdies sein eigener Bildungsgang an die Hand gab.

Seit dem Beginn des achtzehnten Jahrhunderts waren die Jordans in gerader Linie in vier Geschlechtern Pfarrherren in der deutschen Grenzmark im Nordosten. Ihres liebreichen Waltens, ihrer Königstreue und ihrer – Körpergröße und Stärke wegen waren sie in ganz Ostpreußen bekannt, sie gehörten zu den angesehensten Männern der Provinz. Der Großvater des Dichters, der die Pfarrstelle zu Norkitten innehatte, war ein milder und frommer Mann. Sein ältester Sohn, Karl August Jordan, Pfarrer zu Insterburg und nachmaliger Superintendent zu Ragnit, war gleich ihm fromm und pflichtgetreu, aber strenger und mehr in sich zurückgezogen. Dazu war ihm eine hohe poetische Begabung eigen. Seine sinnige, heitere und schöne Gattin war darin sein volles Gegenstück. Am 8. Februar 1819 gebar sie, selbst erst siebzehn Jahre alt, ihrem Gatten den ersten Sohn, den Dichter Wilhelm Jordan, auf den die poetische Gabe und der ernste Sinn des Vaters zugleich mit der Heiterkeit der Mutter übergingen und dem sein ganzes Leben hindurch der lebendige Familiensinn eigen blieb,

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1889). Leipzig: Ernst Keil, 1889, Seite 74. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1889)_074.jpg&oldid=- (Version vom 30.3.2020)