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Verschiedene: Die Gartenlaube (1889)

Frage – sie mußte, mußte ihn sprechen, zumal er fortging. Sie wollte sich geborgen wissen gegenüber den Beckerschen Zudringlichkeiten, schlimmstenfalls ging sie heimlich.

Ein bitteres Schluchzen ließ sie aufschauen. „Aber Käthe, warum weinst Du?“ fragte sie.

„O Du!“ stieß das junge Mädchen hervor mit zornfunkelnden Augen, „Du – geh’, Du bist schlecht, Du hast ein heimliches Liebesverhältniß; Du betrügst den Vater und die Mutter, Du hast Dich weggeworfen –“

Lore goß ruhig die Suppe in die große Mundtasse des Hausherrn, und indem sie sich anschickte, die Küche zu verlassen, sagte sie sanft. „Komm, Käthe, der Vater wartet auf sein Abendessen, nachher will ich Dir antworten.“ Sie stieg mit der dampfenden Tasse die Treppe hinauf und trat dann in das Zimmer des alten Herrn.

Er saß im Lehnstuhl am Ofen und rauchte wie immer. „Ihr habt wohl das Mehl erst mahlen lassen?“ begrüßte er die Tochter, „Pünktlichkeit giebts gar nicht mehr. – Wo ist denn Mama?“

„Die sitzt noch unten im Salon bei Tante Melitta, Frau Becker ist vorhin fort – –“

„Was will denn das Weibervolk eigentlich? Die alte Beckern habe ich ja bis hier herauf kreischen gehört!“

„Sie wollte sich erkundigen, ob mir der Ball gut bekommen sei,“ erwiderte Lore achselzuckend.

Der Major, der eben getrunken, wischte sich den Schnurrbart und lachte. „ Alte Katze – gelt, Lore?“

„Ja, Papa!“

„Und so’n Pack hat Moses und die Propheten und kann’s nicht mal cavalierement anwenden! Unsereiner saugt Hungerpfoten! Mit dem Reglement da oben kann’s nicht stimmen, Lore, sonst steckte dieser Kerl, der Adalbert, auf der Regimentskammer und machte Kommißstiebeln – he, Lore? Oder gefällt er Dir etwa?“

Sie strich zärtlich mit der Hand über seine unrasirte Wange. „Guter Papa!“ sagte sie.

„Lore!“ rief Frau von Tollens Stimme.

Die Tochter eilte nach der Thür: „Gleich, Mama!“

„Tante Melitta bleibt zum Abend,“ scholl es herauf, „siede doch ein paar Eier!“

Sie lief bestürzt die Treppe hinunter. Das war dumm von Tante Melitta!

„Aber weich, Kind, pflaumenweich!“ rief das alte Fräulein ihr zu.

Als Lore nach ein paar Minuten mit dem Gewünschten in das kleine Eßzimmer trat, fand sie Mutter, Tante und Schwester bereits dort sitzend, Rudis Platz neben dem ihrigen war leer, der Major pflegte ja immer die Abendmahlzeit in seiner Stube zu nehmen. Fräulein Melitta war entsetzlich redselig, sie wandte sich beständig an Lore.

„Ich sagte eben zu Deiner Mutter, Lorchen, daß man doch nie vorschnell urtheilen soll. – Diese Frau Becker ist so eine charmante Frau, eine wirkliche Dame, Lorchen.“

„Sie zieht sich wenigstens beinahe so an, als wäre sie eine,“ bemerkte Käthe.

„Käthe, ich muß bitten, daß Du etwas zurückhaltender bist mit Deinem noch sehr unreifen Urtheil,“ schalt Tante Melitta, und ihre Löckchen geriethen in zitternde Bewegung, „übrigens spreche ich nicht zu Dir, sondern zu Lore.“

„Lore fehlt heute die Zeit, über Frau Becker nachzudenken,“ erwiderte Käthe und hieb mit dem Messerchen gegen ein Ei, „gelt, Lore? Wir haben nachher noch Geheimnisse mit einander – wegen Papas Geburtstag.“

„Nach dem Essen hoffentlich?“ fragte die Mutter.

„Ja, Mama.“

Lore warf ihrer jungen Schwester einen dankbaren Blick zu, aber die sah an ihr vorüber, als sei sie Luft.

„Ich habe wirklich selten so etwas Geschmackvolles gesehen wie die Beckersche Einrichtung,“ hub Tante Melitta wieder an. „Denke Dir, liebste Marie,“ wendete sie sich an die Schwägerin, „der Salon pensee Sammet, und das Boudoirchen nebenan maisgelber Atlas mit Blumen durchwirkt – ein entzückender Effekt! Ich dekorire die nächste Puppenstube so – die Frau Becker erklärt übrigens, daß die oberen Räume, die ihr Sohn theilweise jetzt schon bewohne, und die er ganz einrichten werde, wenn er sich verheiratet, noch viel schöner seien. Die Braut, die sich Adalbert einmal aussucht, hat wirklich nur nöthig, etwas Leibwäsche mitzubringen, für alles andere ist bereits gesorgt.“

„Nur nicht für anständige Gesinnungen,“ murmelte Käthe, zum Glück so leise, daß die Tante es nicht verstand und fragen mußte, was das Fräulein gemeint habe. „O, nichts!“ erwiderte diese, „ich sprach nur so mit mir selbst, das ist eine Angewohnheit von mir.“

„Ja, und Adalbert Becker erzählte mir gestern, er würde die Hochzeitsreise nur nach Italien machen; er war schon öfter dort in dem Lande, wo die Citronen blühen, ‚dahin, dahin‘ – – Lore, wie heißt es doch? – ‚möcht’ ich mit Dir, o mein Geliebter, ziehn!‘ Der selige Kiebitz sang es so schön –“

Lore erhob sich plötzlich. „Du erlaubst doch, Mama?“

„Ja, aber kommt bald wieder, Papa will eine Partie Whist machen, da Tante gerade hier ist, paßt sich das gut, wenn Du mitspielst.“

„Mama – –!“ stotterte Lore.

„Geh’ nur rasch, Kind, Papa wird so leicht ungeduldig, weißt Du.“

Lore, der die Schwester folgte, lief durch den dunklen Flur in den sogenannten Salon, der gegenüber dem Eßstübchen lag. Es war ein sehr einfaches Zimmer, das die Petroleumlampe spärlich erhellte, die noch – unerhörte Verschwendung – auf dem Tische brannte, an dem vorhin die Damen mit Frau Becker gesessen hatten. – So dürftig das Ganze und doch mit dem unverkennbaren Streben geordnet, daß es dem Besucher einen behaglichen Eindruck machen solle. Die Nußbaummöbel halb erblindet, ein unmoderner Spiegel mit schrecklich geschmacklosem Goldrahmen über dem Pfeilertischchen zwischen den Tüllgardinen, davor die Stutzuhr, die schon lange nicht mehr gehen wollte. Ein großblumiger Teppich vor dem Sofa, rechts und links ein Fauteuil; ein alter gestickter Ofenschirm; ein Silberschränkchen, auf dem eine Alabasterschale stand, die schon hie und da angeleimtes Rankenwerk zeigte, und ein Schreibtischchen, ein recht unnützes Möbel, bedeckt mit kleinen Nippes aus besseren Tagen, als die Hausfrau noch jung und schön war.

Dort sank Lore auf den Stuhl. „Käthe,“ rief sie, „Du mußt mir helfen!“

„Nein!“ erklärte der Trotzkopf.

„Aber Du weißt ja gar nicht – –“

„Ich will es auch nicht wissen!“

„Käthe!“ Lore trat mit gefalteten Händen vor sie hin, „wir haben uns doch immer gut vertragen – ich habe ihn so lieb, Käthe – hilf mir!“

Ueber das Gesicht der jungen Schwester zog eine Leichenblässe. „Du wirst doch nicht so dumme Vorurtheile haben, Käthe, daß wir etwa nicht für einander passen, weil ich zufällig Lore von Tollen heiße, und er – Ernst Schönberg? – Käthe, er ist ein so lieber prächtiger Mensch, Du hast ihn ja auch gern –“

„Nein!“ stieß Käthe hervor.

„Ich muß ihn sprechen, heute abend noch,“ sagte Lore, in einen andern Ton übergehend. „Wenn Du mir nicht helfen willst, so helfe ich mir allein, ich bitte Dich nur um Diskretion.“

„Selbstverständlich!“ erwiderte die Schwester mit gekräuselter Oberlippe.

„Lore! Lore!“ scholl es draußen, „Papa wartet!“ „Käthe,“ flehte das jsunge Mädchen, „ich kann doch nicht fort! Ich bitte Dich – Dich wird niemand vermissen – lauf’ Du zur Frau Pastor Schönberg, sag’, daß ich nicht kommen könnte, mit dem besten Willen nicht –“

„In drei Deibels Namen!“ schrie der alte Herr jetzt mit Donnerstimme über das Treppengeländer, „wo bleibst Du denn? Ist’s gefällig?“

Lore flog zur Thür. „Gleich, Papa, augenblicklich! – Käthe, um Gotteswillen, geh’! Sag’, ich würde morgen früh um halb acht Uhr auf dem Bahnhof sein. Es ist ja gleichgültig, ob uns jemand dort sieht; ich bitte Dich, Käthe, wenn Du mich lieb hast, so geh’! mein Lebelang will ich Dir danken; – sag’, er soll sich nicht sorgen – –“

Sie hatte Thränen der Angst im Auge.

„Ja doch!“ murmelte Käthe, und wie gejagt lief Lore hinauf.

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1889). Leipzig: Ernst Keil, 1889, Seite 70. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1889)_070.jpg&oldid=- (Version vom 29.12.2019)