Seite:Die Gartenlaube (1889) 067.jpg

Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
Verschiedene: Die Gartenlaube (1889)

der Agolanti, so ganz war sie erfüllt von der heiligen Befriedigung, daß Leonardos Bild von jeder Unehre gereinigt war.

In der Hauskapelle sank sie auf die Kniee und ein heißer wortloser Dank stieg zum Himmel empor, denn schon vermochte sie den Mund nicht mehr zu bewegen. Es war ihr Glaube, daß ein enteilender Geist durch gespannten Willen an den Geist eines abwesenden Freundes zu rühren vermöge, darum raffte sie jetzt die Kräfte ihrer Seele zu einem letzten mächtigen Aufschwung zusammen, um sie im Aushauchen dem Geliebten zuzusenden.

Mit erlöschendem Bewußtsein schleppte sie sich in ihr Schlafgemach, wo die Dienerinnen sie bald darauf entseelt auf dem Bette ausgestreckt fanden.

Nachdem man sie vergeblich mit Wasser besprengt und ihr mit starkriechenden Essenzen die Stirn gerieben hatte, kamen die bestürzten Hausgenossen endlich zu dem Schluß, daß jeder Lebensfunke erloschen und daß Ginevra bei ihrem Samariterwerk einem blitzartigen Pestanfall erlegen sei. Solcher Fälle hatten sich jüngst in der Stadt verschiedene ereignet, denn die Seuche, die an Ausbreitung zu verlieren begann, schien ihre Wuth darum nur verdoppelt zu haben und würgte jetzt bisweilen wie ein Tiger ihre Opfer im Sprung. Messer Baldassarre, den das jähe Ende mit Entsetzen erfüllte, gab Befehl, die Todte sogleich wegzutragen; dem widersprach jedoch Ricciardo, der in Thränen zerfloß, denn eigentlich hatte er nie aufgehört, Ginevra zu lieben, und er verlangte, sein Weib mit allem Pomp, der in ruhigen Zeiten bei solchem Anlaß entfaltet wurde, zu bestatten.

Auch Messer Cione, der gerade nüchtern war, weinte heftig bei ihrer Bahre, faßte sich jedoch bald wieder und sagte:

„Sie ist jetzt ein schöner Engel und wird es ihrer Mutter sagen, daß ich mein Versprechen gehalten und sie glücklich gemacht habe.“

Am Abend kamen die Träger mit Fackeln und führten Ginevra in ihrem Hochzeitsschmuck hinweg nach der Domkirche, wo sie tags zuvor auch Madonna Alessandra beigesetzt hatten. Als sich das Trauergeleite mit Priestern und fackeltragenden Dienern in Bewegung setzte, näherte sich eine schwarzgekleidete Gestalt in gebrochener Haltung, und die Knechte der Agolanti konnten es nicht hindern, daß der junge Rondinelli im Trauergewand sich ihrem Zuge anschloß. Je weiter sie schritten, desto mehr schwoll ihr Geleite, aus allen Straßenecken kamen ihnen Särge entgegen, die eilig ohne Schmuck und Lichter dahingeführt wurden und deren Träger sich dem prunkvollen Gefolge einreihten, um ein wenig von der Ehre dieses stattlichen Leichenbegängnisses mitzugenießen, daß es aussah, als feiere der Tod einen großen Triumphzug oder als dränge sich ganz Florenz hinter der blonden Ginevra her zu Grabe.

Allmählich verlöschten die Lichter, die am Hauptaltar bei Ginevras Bahre brannten, die Schar der Leidtragenden lichtete sich mehr und mehr, bis endlich nur noch eine einzige dunkle Gestalt im Chor der Kirche knieete. Die Knechte der Agolanti warfen beim Abziehen mißtrauische Blicke auf diesen einsamen Beter, der weder wanken noch weichen wollte, bis endlich der Sakristan zu ihm trat und hörbar mit den Schlüsseln rasselte. Aber ein paar Worte, die der andere ihm zuflüsterte, und ein Goldstück, das in seiner Hand blinkte, bewog ihn, sich mit einem tiefen Bückling ganz geräuschlos zurückzuziehen. Nach ein paar Schritten jedoch kehrte er wieder um und sagte zu dem großmüthigen Geber:

„Verzeiht meine Warnung, Messer Leonardo! Tretet nicht zu nahe an die Särge, denn diese Leichen strömen einen tödlichen Pesthauch aus.“

Als aber der Angeredete ungeduldig mit der Hand winkte, entfernte er sich rasch durch eine Seitenpforte, die er leicht angelehnt ließ, nachdem er das Hauptportal der Kirche sorgfältig verschlossen hatte.

Als er verschwunden war, trat der stille Beter auf Ginevras Bahre zu, bei der nur noch wenige Kerzen brannten. Sein jugendliches Haupt war gebeugt und er schwankte im Gehen wie ein Trunkener. Er zog das schwarze Bahrtuch herunter, hob ohne Mühe den Deckel vom Sarg und knieete neben der Todten nieder, der er mit durstigen, sehnsuchtsvollen Blicken in das bleiche Gesicht starrte.

„Ginevra!“ flüsterte er leise und wiederholte dann laut, daß es schauerlich von den kahlen Kirchenwänden zurückhallte: „Ginevra!“

Einen leichten Schauer überwindend, bog er sich nieder und drückte einen langen feierlichen Kuß auf ihre blutleeren Lippen. Dabei faßte er ihre gefalteten Hände, die er gewaltsam löste, und zog ihr den Vermählungsring vom Finger.

„Siehst Du,“ sagte er schmeichelnd, als ob er mit einer Lebenden spräche, „ich bin doch gekommen und lasse Dich nicht mehr allein. Berge und Thäler dachten sie zwischen uns zu schieben, Dein armes Herz haben sie gebrochen und konnten es doch nicht hindern, daß wir jetzt vereint sind. – Wie schön Du noch bist! Auch die gräßliche Würgerin hat Dich nicht zu zerstören gewagt. Mit sanfter Hand hat sie Dir die Augen zugedrückt und mir Deinen Reiz bewahrt. Und süß ist der Todestrank, den ich von Deinen Lippen trinke.“

Und aufs neue sog er lange, gierige, inbrünstige Küsse von dem kalten Mund der Todten, Küsse, die ihn berauschten, denn er stammelte wie ein Trunkener:

„O Pest, kein Balsam des Orients ist lieblicher als Du! Süßer Duft meiner bleichen Blume! Tödte schnell, laß mich an ihrem Busen sterben!“

Und überwältigt legte er den Kopf auf ihre Brust, indem er mit beiden Armen die Leiche umschlang. Da kam es ihm vor, als ob ihr Herz ganz leise klopfe. Er hielt den Athem an, um besser zu lauschen; aber seine Erregung war so groß, daß er sein eigenes Herz bis in den Hals schlagen hörte. Angstvoll griff er nach ihrem Pulse. Der stand still. Er riß das Kleid auf und legte die Hand auf ihr Herz. Nichts, es war nur die Täuschung gewesen, die jeder erlebt, der sich über einen Todten beugt.

Als ihm der flüchtige Hoffnungsstrahl erlosch, an dem er schon mit allen Fibern seiner Seele gehangen hatte, warf sich Leonardo schluchzend auf die Kniee und brach in wilden Jammer aus, als sei ihm Ginevra erst jetzt gestorben.

„Grausamer, Unerbittlicher!“ schrie er, die geballten Hände gegen den Himmel erhoben. „Kannst Du sie nicht auf eine Stunde mir zurückgeben und darfst sie doch behalten, fort und fort behalten in alle Ewigkeit? Auch mein Todfeind hat mir doch ihren Anblick nicht ganz verwehrt, als er sie noch in seinem Bann hielt; ich durfte noch die Luft athmen, die ihr süßer Hauch durchtränkt hatte, oft trug mir noch der Abendwind einen Ton ihrer Stimme zu! Nur bei Dir, bei Dir ist keine Gnade. – Und auch Du, Ginevra,“ wandte er sich vorwurfsvoll an die Leiche, „starr, kalt, fühllos schläfst Du fort bei meinem Jammer. O, wenn ich so an Deiner Stelle da läge und Du trätest nun zu mir und sprächest auch nur flüsternd meinen Namen, ich würde die Fesseln des Todes brechen, mein Wille würde zur Lebenswärme, mit der ich diese Glieder durchströmen wollte, um Dich zu umfangen. Und stünde ich schon dort oben vor dem Throne des Höchsten und hörte Deine Stimme mich rufen, ich würde meinen Antheil an Seligkeit von mir werfen und würde sagen: ‚Laß mich zurück zu ihr!‘ – O Ginevra, wo bist Du jetzt? In welchem Himmelsglanz schwelgt Dein Auge, daß Du keinen Blick mehr hast für Deinen unglückseligen Leonardo?“

Er kehrte sich ab von der leblosen Hülle und erhob die Arme zum Himmel, wie um die entflohene Seele zu sich herunterzuziehen. Sinnlose Worte stammelnd, die Arme schüttelnd und Ginevras Namen rufend, verließ er endlich die Kirche und taumelte ziellos, bewußtlos in die verödeten Straßen hinaus, wo die Frühlingsnacht in den betäubenden Düften blühender Orangen schwelgte wie zum Hohn auf das arme blutende Menschenherz.

Frische Nachtluft strömte zu der weit offenen Kirchthüre hinein, strich über den geöffneten Sarg und spielte mit Ginevras losgegangenen Haaren. Da lösten sich die Fesseln der Starrsucht, die sie eisern wie der Tod selbst umklammert hatten, schwaches Leben begann in der ausgestreckten Gestalt zu pulsiren, ihr Busen hob und senkte sich und ein leiser Seufzer kam von ihren Lippen.

Noch eine kurze Weile, und sie schlug die Augen auf, die dumpfe Schwere, die auf ihr gelastet, war gewichen, sie sah sich in einem weiten leeren Raum, in dem ein paar verglühende Kerzen flackerten.

Sie hatte ein dunkles Bewußtsein, daß sie gestorben war, und doch vermochte sie zu fühlen und zu denken. Sie versuchte sich zu bewegen, und es gelang. Dann richtete sie sich, auf den Ellbogen gestützt, empor und suchte mit weitgeöffneten Augen die Dunkelheit zu durchdringen.

(Schluß folgt.)
Empfohlene Zitierweise:
Verschiedene: Die Gartenlaube (1889). Leipzig: Ernst Keil, 1889, Seite 67. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1889)_067.jpg&oldid=- (Version vom 15.9.2022)