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Verschiedene: Die Gartenlaube (1889)

Freude vergönnt war, denn es däuchte ihr, als müsse sie die Sehnsucht nach ihm aus dem Grabe treiben. Doch dachte sie nicht daran, selber ein Wiedersehen herbeizuführen, sondern wandte sich stündlich zu Gott mit dem heißen Gebet, daß er, wenn ihr Verlangen keine Sünde sei vor ihm, in seiner unerschöpflichen Gnade die Mittel finde, sie zu erhören.

Es hieße Wasser ins Meer tragen oder Eulen nach Athen, wenn wir noch ein Wort hinzufügen wollten über jene schreckliche Pestilenz, die Messer Giovanni Boccaccios unsterbliche, ewig junge Feder so meisterlich beschrieben hat.

Allmählich gewöhnte man sich auch an das Unerträgliche, und jeder suchte sich in die Zeitläufte zu schicken, wie es eben seine Gemüthsart mit sich brachte, der eine lachend, der andere weinend, der dritte in stumpfer Ergebung.

Doch sollte das Verhängniß nicht über Florenz hinziehen, ohne von der Familie Agolanti ein theures Opfer zu fordern. Madonna Alessandra ward eines Tages, als sie von einem ihrer geheimnißvollen Ausgänge nach Hause kam, von schwerem Fieber ergriffen, und die Angehörigen hatten nicht sobald die Miene des herzugerufenen Doktors und seine Vorkehrungen gesehen, als sie sich schreckensbleich ein Wörtlein ins Ohr flüsterten, und eines ums andere schlich sich aus dem Gemach, um es nicht wieder zu betreten. Nur Ginevra saß am Bette der Sterbenden und sah mit jammernder Seele das theure Leben hinschwinden; sie bettete die Kranke, reichte ihr die Arzneien und verband mit töchterlicher Sorgfalt die wunden Stellen ihres armen gequälten Körpers. Niemand stand ihr bei in der Pflege, ihren Gatten bekam sie nicht mehr zu Gesicht und das Essen, wie aller andere Bedarf ward ihr von unsichtbaren Händen vor die Thür des Krankenzimmers gestellt. Ginevra dachte nicht an Ansteckung, sie dachte nur, daß diese alte todkranke Frau das einzige Wesen sei, das ihr in diesem Hause innig nahe gestanden, und vermochte kaum in den Falten ihres Gewandes ihr Schluchzen zu ersticken.

Zuweilen, in lichten Momenten, wenn die Sterbende den tiefen Kummer der jungen Frau erkannte, flüsterte sie ihr Trostesworte zu, die schon wie Verheißungen aus einer anderen Welt herübertönten.

Die übrige Zeit aber war sie in selige Gefilde entrückt, und ihr Geist pflog wonnevolle Zwiesprach mit den vorangegangenen Lieben. Und als der sechste Abend hereinbrach, trat ein stiller Engel in das Gemach, der küßte die Kranke auf die brennenden Augenlider, daß sie niedersanken zum ewigen Frieden. –

Kaum hatte Ginevra der Todten die letzte Ehre erwiesen, als sie an ein anderes Krankenlager gerufen wurde.

Laurella lag vom selben Uebel ergriffen zwischen Tod und Leben und jammerte schon seit Stunden unaufhörlich, daß ihre Seele nicht hinscheiden könne, bevor sie ihre Herrin gesehen. Ginevra leistete erschöpft wie sie war dem Ruf Folge und wurde in einen elenden moderigen Kellerraum geführt, wohin Beppo die Bedauernswerthe gleich bei den ersten Anzeichen der Krankheit verbannt hatte. Aber sobald Ginevras Augen in der Dunkelheit zu unterscheiden vermochten, wandten sie sich entsetzt von dem Anblick der eiternden Wunden hinweg, die Hals und Körper der Sterbenden bedeckten und von keiner theilnehmenden Hand verbunden worden waren.

Die Kranke, so sehnlich sie zuvor nach Ginevras Anblick begehrt hatte, beachtete ihr Eintreten gar nicht, sondern wälzte sich nur immer hin und her und stöhnte um ein Glas Wasser. Erst als ihr verzehrender Durst gestillt war, schien sie die Herrin zu erkennen und begann hastig mit sich überstürzenden Worten:

„Eh es zu spät wird, sollt Ihr alles hören – Ihr wart das einzige Wesen, das mich mit Güte behandelt hat – aber ich liebte Euch nicht, denn Ihr wart schön und zwei Männer stritten sich, Euch zu besitzen – ich, ich wurde verachtet – mit Gold und schweren Diensten, ach, mit dem Heil meiner Seele mußte ich den Ring bezahlen, den mir Beppo vor dem Altare gab. Noch vorgestern, als ich schon das Fieber spürte, hat er mich geschlagen wie einen Hund und es mir ins Gesicht gesagt, daß er nur warte, bis ich zur Hölle gefahren sei, um die Giovanna zu heirathen, die elende Dirne, die sich nicht scheut, den Mann einer anderen in ihre Netze zu ziehen. Und nun sitzen sie an meinem Bett den lieben langen Tag, verspotten mich und thun einander schön vor meinen Augen – seht Ihr, wie sie sich in den Armen halten und auf mich deuten? – Die Hochzeit sei vor der Thür, sagen sie – aber wartet nur, Laurella wird Euch den Hochzeitssegen sprechen.“

Sie schüttelte die geballten Hände nach einer leeren Ecke des elenden Gelasses, auf die ihre Augen unverwandt geheftet waren.

Ginevra rief sie bei ihrem Namen an, um sie zur Besinnung zu bringen und an die letzten Dinge zu mahnen, aber die Sterbende achtete nicht auf sie, sondern fuhr fort, als spreche sie mit sich selbst:

„Wenn ich nur schreiben könnte, ich hätte sie längst alle um den Kopf gebracht, meinen Beppo mit seinem saubern Herrn – warum haben sie mich mit Füßen getreten, als ob es meine Schuld wäre, daß Ihr ihnen den Erben schuldig geblieben seid! Und Beppo, der keine Ruhe gab, bis ich ihm den Brief ausgeliefert hatte – alles nur aus Liebe für mich, wie er sagte, damit Herr Baldassarre uns die Heirath gestatte – und wie er mir dann gram ward, als die Mitgift ausblieb und wir sahen, daß alle Versprechungen nur Lug und Trug waren!“ –

Hier stieß sie einen tiefen Seufzer aus und schloß ermattet die Augen.

Ginevra, die zwar den Sinn ihrer Worte nicht recht gefaßt hatte, aber schon in einer Welt von Ahnungen schwebte, war nahe zu ihr getreten und rief ängstlich:

„Gute Laurella, ich verstehe Dich ja nicht! Von welchem Brief hast Du gesprochen?“

Und als jene stumm blieb, rüttelte sie sie bei den Schultern und rief fort und fort:

„Laurella, Laurella, stirb mir nicht, ehe ich alles weiß! Was war es mit dem Brief? Laurella – nur noch ein Wort, ich sehe jetzt alles: Leonardo war treu und Ihr habt mich betrogen.“

Die Kranke ermunterte sich endlich wieder, nickte ungeduldig zu Ginevras immer wiederholten Fragen, und indem sie die fieberglänzenden Augen auf ihre Herrin heftete, stieß sie mühsam hervor:

„Laßt mich – ich habe Wichtigeres – in der Nacht vor Eurer Vermählung – Ihr wißt noch, wie wir im Kirchlein von Sant’ Andrea warteten, daß Herr Leonardo komme und Euch zum Weibe nehme. – Aber er kam nicht, – er konnte ja nicht kommen – denn er lag zu dieser Stunde mit gespaltenem Kopf und zwei Messerstichen im Leib auf dem Straßenpflaster –“

Ginevra warf sich mit gellendem Aufschrei auf die Kniee und preßte ihren Kopf krampfhaft zwischen beiden Händen, um nichts zu sehen noch zu hören, als schwebte das Leben ihres Geliebten noch in diesem Augenblick an einem Haar.

„Er hat nur halbe Arbeit gemacht, mein theurer Beppo,“ röchelte die Kranke; „o, hätte ich nur noch einen Tag zu leben, er sollte Euch diese Nacht und mir all meine Leiden bezahlen!“

Ginevra richtete sich in die Höhe, ihre Zähne schlugen an einander, als sie die Sterbende mit tonloser Stimme fragte:

„Hat Messer Cione von diesem Anschlag gewußt?“

Die Kranke schüttelte den Kopf; aber ihr Geist, der eine Zeitlang klar geblieben war, begann sich aufs neue zu umnachten, sie führte lange, unzusammenhängende Reden von einer Schrift, die Ginevra aufsetzen und in die geheime Büchse im Regierungspalast legen solle, um der Signoria Anzeige von dem Verbrechen zu erstatten und sie beide gleichzeitig von ihren Tyrannen zu erlösen. Ihre ganz vom Fieber umsponnene Phantasie weilte mit Vorliebe auf der Vorstellung von den Martern, denen ihr treuloser Beppo bei einer peinlichen Untersuchung entgegenginge, und von der gestörten Hochzeit mit der verhaßten Rivalin. Ihr Reden wurde immer undeutlicher, und zuletzt wiederholte sie nur fort und fort das letzte Wort, das sie gesprochen hatte, ohne einen Sinn damit zu verknüpfen, bis ihre Stimme murmelnd erlosch und sie ihren gequälten Geist aufgab.

Ginevra lehnte mit gebrochenen Knieen an der Wand und wartete, das Gesicht in die Hände verborgen, auf das Ende des qualvollen Kampfes.

Erst als der Engel des Friedens gekommen war, vor dem Gerechte und Ungerechte gleich sind, stieg sie, an allen Gliedern zitternd, aus der feuchten Spelunke hervor. Die furchtbare Erschütterung hatte ihre letzte Kraft untergraben und Schwindel umfing sie, während sie sich an dem modrigen Gemäuer zum Tageslicht hinauftastete, daß sie ihr letztes Stündlein nahen fühlte.

Mit Grausen empfand sie den Fittig des Todes, der an ihr vorüberstreifte, eisige Kälte rieselte durch ihr Gebein; aber dem armen Herzen, das schon schwächer und schwächer schlug, war noch eine letzte hohe Freude zu theil geworden: Leonardo war ihr treu gewesen, Leonardo liebte sie vielleicht noch jetzt. Ihre Seele hatte schon keinen Raum mehr zur Empörung über die feige That

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