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Verschiedene: Die Gartenlaube (1889)

Gatten. Er war mehrere Jahre jünger als ich, und in meinen Scheitel mischten sich schon Silberfäden, obgleich ich noch keine dreißig Jahre zählte. Dazu war mein Muth und meine Freudigkeit gebrochen; lieben konnte er die Gattin nicht, die statt des süßen zärtlichen Getändels nur die stumpfe Ruhe der Pflichterfüllung mit in die Ehe brachte. Aber auch wenn er mich geliebt hätte, so wäre doch kein irdisches Glück mehr in mein Herz gedrungen. Hätte mir der Himmel wenigstens nur Söhne beschert, aber in jeder meiner Töchter mußte ich das letzte gezwungene Opfer meines Lebens sich wiederholen sehen, und ich hatte nicht immer den Trost, sie in das Haus einer zweiten liebenden Mutter ziehen zu lassen.

Du siehst,“ fuhr die Matrone fort, als Ginevra noch immer schweigend den Kopf gesenkt hielt, „Dir ist nichts geschehen, was nicht in der Welt, in der wir leben, natürlich und alltäglich wäre. Denke an das Los der Unzähligen, die der Bürgerzwist heimath- und elternlos von Haus und Hof getrieben hat. In Zeiten so voll Noth und Jammer dem Himmel ein Herzensglück abtrotzen wollen, wäre sträfliche Vermessenheit.“

Ginevra antwortete nicht; aber in ihrem Herzen war eine tiefe Wandlung vor sich gegangen. Wo ihr die andern nur trockenen Gehorsam und blinde Unterwerfung gepredigt, da hatte Alessandra sie erschüttert und überzeugt. Sie fing an, ihres Vaters unbeugsamen Starrsinn zu begreifen: war doch das enge Zusammenhalten der Unterdrückten einzige Waffe, – sie sah zwischen sich und Leonardo einen mit Blut gefüllten Abgrund und sagte sich mit Schmerz, doch ohne Bitterkeit, daß wohl auch er vor diesem Abgrund zurückgebebt habe.

Wo so viele Opfer gefallen sind, dachte sie, zählt eines mehr oder minder nicht mit – und als sie sich von dem gepolsterten Sitz erhob, hatte sie der Matrone in die Hand gelobt, ihr Herz zu überwinden und ihrem Sohne eine gute Gattin zu werden.

Wenige Tage nach diesem Gespräche holte Messer Ricciardo seine junge Gemahlin mit allem Pompe, der zwei so erlauchten Familien gebührt, in das Haus seiner Eltern ab, Madonna Alessandra empfing sie auf der Treppe des Palastes und führte sie selbst ins Brautgemach.

Schon ein Jahr hatte Ginevra an der Seite Messer Ricciardos so hingelebt und das ihr bereitete Schicksal mit Geduld getragen; aber ihr Herz schwieg bei den Liebesbetheuerungen ihres Gatten, der kindliche Frohsinn war in den schweren Prüfungen ihres jungen Lebens von ihr abgefallen, ihre Seele erlahmte vor der Aufgabe, einen Mann zu fesseln, aus dessen Herzen kein Strahl in das ihre fiel. Ein Schleier von Schwermuth lagerte sich über ihr Gemüth, der immer drückender wurde und sie mit Bleigewichten zu Boden zog, sie kam sich vor wie ein Vögelchen, das in der Gefangenschaft nicht singen kann.

Nach Leonardo fragte sie nie, und als einst in ihrer Gegenwart zwei redselige Gevatterinnen sich darüber aufhielten, daß der alte reiche Rondinelli seinen Sohn nach Frankreich geschickt habe, sich dort eine Braut zu suchen, als ob keine Landsmännin gut genug für ihn sei, wandte sie den Kopf hinweg, wie wenn sie diesen Namen nie gehört hätte.

Ricciardo, der sie anfangs mit Aufmerksamkeiten überhäufte, hätte ihr gern jeden Wunsch an den Augen abgelesen, aber Ginevra hatte keine Wünsche mehr. Er schenkte ihr Schmuck, den sie mit freundlichem Lächeln entgegennahm und dann gleichgültig bei Seite legte; er suchte auf den Rath seiner Mutter köstliche Knäuel von bunter Seide und Goldfäden für sie aus, damit sie eine neue Stickerei anfange, denn den Teppich, in welchen sie ihren kurzen Liebestraum verwoben, hatte sie nicht mit in Ricciardos Haus gebracht, sondern der Kirche gestiftet. Aber nichts vermochte die Krankheit des Gemüths von ihr zu nehmen, die ihr langsam die Rosen von den Wangen fraß.

Ricciardo beobachtete diese Veränderung mit Argwohn und steigendem Mißmuth; eine finstere Eifersucht keimte in seinem Herzen empor, die zwar durch Ginevras eingezogenes Leben und die Entfernung des einstigen Nebenbuhlers keine feste Gestalt gewinnen konnte, ihn aber mit ewig bohrendem Stachel peinigte. Und was zuerst sein Stolz gewesen war, das Aufsehen, das ihre Schönheit erregte, wenn sie an seiner Seite durch die Straßen ging, wurde für ihn zu einer Quelle bittersten Leidens; es war ihm, als würde durch jeden bewundernden Blick, der ihr folgte, sein Eigenthumsrecht geschmälert, immer seltener erlaubte er ihr das Haus zu verlassen, und am Ende gestattete er ihr kaum noch den Gang in die Kirche an der Seite seiner Mutter.

Und Ginevra ließ theilnahmslos das Böse wie das Gute über sich ergehen, sie nahm die Ausbrüche seines Unmuths mit derselben stillen Miene entgegen wie die Aufwallungen seiner Zärtlichkeit. Keine Klage entfuhr ihr über die strenge Klausur, in der er sie hielt, noch über die Vernachlässigung, die mehr und mehr an die Stelle der anfänglichen Zärtlichkeit trat. Es schien vielmehr, als sei ihr die Einsamkeit und die Kälte ihres Gatten willkommen; sie saß den ganzen Tag blaß und still in ihren Gemächern, arbeitete an köstlichen Stickereien, deren Gegenstand sie der heiligen Geschichte entnahm, und wenn ihr zufällig eine der schönen Mären in die Hände fiel, die sie sonst so gern gelesen hatte – wie die Liebe Ginevras und Lanzelots vom See oder eine andere Fabel jener Zeit von Minne und todverachtender Treue, so stieß sie das Buch bei Seite und sagte herb: „Die Dichter lügen.“

Wären die heißen Wünsche der beiden Familien, die auf einen Erben hofften, in Erfüllung gegangen, so hätte Ginevra vielleicht neuen Lebensmuth gefaßt und die Bande zwischen den beiden Gatten wären inniger geworden. So aber war kaum ein Jahr verflossen, als Messer Ricciardo seiner stillen bleichen Gemahlin überdrüssig ward, das Haus zu meiden anfing und sich wieder dem alten ausschweifenden Leben seiner Junggesellenzeit ergab. Messer Baldassarre, der sich in seinen Hoffnungen getäuscht sah, behandelte sie mit verletzender Kälte und hätte sie wahrscheinlich seine Verstimmung noch mehr entgelten lassen, wäre nicht ihr Vater dazwischen gestanden.

Messer Cione kam häufig, seine Tochter zu sehen, und sagte zuweilen fröhlich, indem er sie in die Wangen kneipte:

„Nun, habe ich nicht Deiner Mutter Wort gehalten und Dich glücklich gemacht?“ – worauf Ginevra jedesmal mit trübem Lächeln und mit einem „Ja!“ antwortete.

Doch mit einem Male änderte sich alles.

Gewohnheitsmäßig war sie eines Morgens mit Frau Alessandra zur Domkirche gegangen, um der Frühmesse beizuwohnen. Es war ein schneidend kalter Wintertag, die Sonne hatte noch keine Kraft, der Nordwind wirbelte sogar vereinzelte Schneeflocken daher und der Gottesdienst hatte wenig Gläubige angezogen. Ginevra knieete, das Gesicht in die Hände vergraben, auf ihrem Schemel; das eintönige Gemurmel der Priester und der schwere Weihrauchduft in den weiten, noch morgendlich dämmernden Räumen lullten sie in süße Betäubung, sie begann mit geschlossenen Augen vor sich hin zu träumen. Es war ihr, als sei sie noch die Ginevra von ehedem, das liebende Mädchen, das vom Betschemel aus heimlich nach der Thür spähte, ob der Erwartete komme, und nicht zu sündigen fürchtete, wenn es die Gegenwart Gottes über der des Geliebten vergaß. An jener Säule zunächst beim Chor, da pflegte er zu stehen und sein Auge nicht von dem ihrigen abzuwenden, ob er einen flüchtigen Blick erhasche oder ob sie ihm gar gestatte, am Ausgang ein paar heimlich geflüsterte Worte zu tauschen.

Wie magnetisch angezogen, wandte sie auch jetzt den Kopf nach jener Seite. Täuschten sie ihre Augen oder war es ein Traum? Da stand Leonardo in derselben Stellung, in der er vormals hier zu stehen pflegte, im braunen Sammetwams, den Kopf an die Säule gelehnt, den Blick fest und innig auf ihr Gesicht geheftet. Sie wagte nicht, sich zu regen, sie hielt den Athem an, um das wonnevolle Traumbild nicht zu verscheuchen, und sog mit sehnsüchtigen, weitgeöffneten Augen den langentbehrten Anblick ein. Doch ein leiser Seufzer an ihrer Seite riß sie aus der Verzückung, sie sah Frau Alessandra neben sich und stürzte aus allen ihren Himmeln.

Die graue freudlose Wirklichkeit umfing sie wieder beim ersten Gedanken an den, dem sie ihre Treue gelobt hatte. Noch einmal hob sie scheu die Augen – doch was war das? Das Traumbild war nicht entschwunden – da stand es noch immer – es regte sich – es legte beide Hände auf die Brust – er war es selbst – Leonardo war zurückgekehrt!

Ihr Herz fing so laut zu klopfen an, daß sie glaubte, das Gehämmer müsse die betende Gemeinde in der Andacht stören. Ein Erdbeben erschütterte den Boden unter ihr, vor ihren Augen begann es zu kreisen. Jetzt erhob sich Madonna Alessandra – Ginevra folgte mechanisch, sie wollte im Gehen den Schleier über das Gesicht ziehen, aus dem jeder Blutstropfen gewichen war, aber

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1889). Leipzig: Ernst Keil, 1889, Seite 63. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1889)_063.jpg&oldid=- (Version vom 14.9.2022)