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Verschiedene: Die Gartenlaube (1889)

Warum lieben Sie es nicht? Sie sollten es lieben, denn es giebt keine Gelegenheit, in der sich eine reizende Dame –“

Er brach ab vor ihrem großen kühlen Blick, der, wie erstaunt über dieses dringende Zureden sein Gesicht streifte. Ihr feiner Mund zog sich unmerklich etwas herab, und dieser Zug verlieh dem Gesicht etwas Stolzes, Hochmüthiges.

„Weshalb wollen Sie nicht? Weshalb weisen Sie mich ab?“ stotterte er verlegen.

Sie antwortete auch jetzt nicht sogleich, sie erhob sich in ihrer ganzen schlanken Höhe und, die Briefe in der Hand dem Nebenzimmer zuschreitend, wandte sie an der Thür den goldschimmernden Kopf noch einmal halb zurück, wie eine Königin es nicht stolzer gethan haben könnte. „Sie werden sich mit der einfachen Thatsache begnügen müssen,“ sprach sie.

Im nächsten Augenblick war sie allein in dem Schlafzimmer der alten Dame, flüchtete mit den erhaltenen Briefen an das Fenster und las mit klopfendem angstvollen Herzen.

„Zu meinem großen Schmerz, liebste Helene, muß ich Dir mittheilen, daß Dein Bruder Rudolf sich abermals in einer peinlichen Lage befindet, man kann wohl sagen, in einer schlimmeren noch als im vorigen Jahre. Er wandte sich auch diesmal wieder an mich mit der Bitte, meinen Kredit bei irgend einer geldverleihenden Persönlichkeit für ihn eintreten zu lassen. Ich verstehe Rudolf nicht – er kennt meine Verhältnisse, weiß, daß ich über die allergeringsten Mittel verfüge, eine alte kränkliche Mutter besitze und jeden Groschen spare, um mit Dir vereinigt zu werden.

Ich habe ihm nicht allzufreundlich geantwortet, ihn aber vor allen Dingen gebeten, die Natur seiner Verlegenheit klarzulegen. Wie er mir darauf mittheilt, hat er durch unglückliches Spiel und durch Pferdekäufe und -Verkäufe sich in eine Ueberlast von Verbindlichkeiten hineingeritten, die er jedoch, wie er mir gestand, durch irgend einen Glückscoup loszuwerden hofft. Wie es mir scheint, bewog er einen Kameraden, für ihn gut zu sagen; nach Rudis Angabe soll sich derselbe dazu erboten haben – – Verzeihe, liebste Helene, wenn mir einige Zweifel an dieser Geschichte aufsteigen. Thatsache bleibt, daß Rudolf keineswegs im stande ist, seinen Verpflichtungen nachzukommen.

Wäre ich nur annähernd in der Lage – es handelt sich jedenfalls um eine größere Summe – so würde ich eintreten des armen Kerls wegen, der in Hangen und Bangen Rudolfs Bescheid entgegensieht, welcher ihm versprach, das Geld zu schaffen; sie gehen andernfalls beide um die Ecke. – Wenn Dein Vater sich trotzdem weigerte, seinen letzten Nothgroschen zu opfern, so kann ich ihm nicht Unrecht geben angesichts Deiner, der unversorgten Schwestern und Deiner guten Mutter. – Wie ein Ausweg gefunden werden soll, ist mir schleierhaft.

Ich schreibe es Dir, damit Du Deine Angehörigen etwas vorbereitest, die Katastrophe muß über kurz oder lang eintreten. Gräme Dich nicht, mein Liebling –“

Lore ließ das Blatt auf die Fensterbank sinken und preßte die Hände ineinander. Was sollte daraus werden! Das Blut stieg ihr heiß in die Wangen, und die Augen füllten sich mit Thränen. Wer sollte helfen? Fieberhaft jagten sich die Gedanken hinter ihrer Stirn. Onkel? Viktor? Ach Viktor, wenn er gewollt hätte! Aber dort war Rudolf bereits gewesen. – Und durfte sie es ihm verdenken? Er hatte Kinder und – er kannte den unverbesserlichen Leichtsinn des Bruders.

Was blieb übrig? Er würde sich wiederum an den Vater wenden, an den verbitterten, kränkelnden mißtrauischen Mann, dem schon eine Kleinigkeit das Signal war zum Stöhnen, Schimpfen, Tyrannisiren. Die Zeiten standen abermals vor der Thür des kleinen Hauses, in denen kaum ein scheues Wort gesprochen wurde, wo man sich mit rothgeweinten Augen sah, wo selbst Käthe still und gedrückt umherschlich und heimlich ihre Schulbücher herumstieß und die Fäuste ballte. Und dann die Nächte, wo die Kopfkissen naß wurden von Thränen!

Und diesesmal, diesesmal – mußte es nicht noch tausendmal schrecklicher werden, da die Mittel zur Rettung thatsächlich am Ende waren? Weil noch ein anderer rettungslos mit hinein- gezogen wurde in den Untergang? Sie meinte noch des Vaters Stimme zu hören, wie er im vorigen Jahre den Posteinlieferungsschein des Geldbriefes aus Käthes Hand nahm und ihn in das Fach des Schreibtisches schleuderte mit den Worten: „So, das ist fort – ein Weiteres unmöglich, denn wo nichts ist, da hat selbst der Kaiser sein Recht verloren!“

Sie fuhr empor – da klang ja Rudolfs helle Stimme zwischen das belegte tiefe Organ Adalbert Beckers hinein, ein fröhliches, sorgenloses Sprechen. „Ist Lore nicht hier?“

Das junge Mädchen stand auf und entschlüpfte durch eine Tapetenthür in den kleinen Alkoven, den die Tante als Garderobe benutzte. Wunderlich geschnittene Gewänder hingen in musterhafter Ordnung an hölzernen Haken; es war eine dumpfe Luft in dem Gelaß, wie sie aus Kleiderspinden zu quellen pflegt, die selten geöffnet werden. Lore senkte den Kopf gegen den Pfosten der Thür, sie hätte ihren Bruder jetzt nicht sehen können, ohne ihm zu sagen, daß sie alles wisse. Sie legte die Hand auf ihr stark klopfendes Herz und biß die Zähne aufeinander. Nebenan war die Thür gegangen, und durch die Bretterwand, die den Alkoven nach dem Flur abschloß, hörte sie, wie Adalbert Becker sich von ihrer Tante verabschiedete. Die alte Dame dankte einmal über das andere für den Besuch und versprach, sich den Park anzusehen, es war ein wortreicher Abschied. „Adieu, Tante!“ scholl nun auch Rudolfs Stimme, „sollte sich Lore wieder einfinden, so entschuldige mich, und sie möchte zu Hause bestellen, ich käme nicht zum Abendessen.“

Lore athmete auf, sie schob die Briefe tiefer in die Tasche und ging in die Wohnstube der Tante zurück. Die wieder eintretende alte Tante traf sie bereits im Hut und Jäckchen.

„Lore,“ sagte Tante Melitta mit hochgerötheten Wangen und die Seitenlöckchen zitterten unter ihrer zornigen Erregung, „ich bin erstaunt, Dich auf einem so großen gesellschaftlichen Fauxpas zu ertappen! Eure gute Mutter ist doch in dieser Beziehung allzu nachsichtig, Du und Käthe, Ihr benehmt Euch, wie Ihr wollt und nicht wie Ihr sollt.“

Sie war bei diesen Worten näher gekommen und öffnete ein Fenster, um dem betäubenden Jockeiklubgeruch, den Adalbert Becker zurückgelassen, Abzug zu gewähren „Bei meiner Mutter, in unserem Hause ging die gute Haltung über alles,“ fuhr sie fort, „über alles! Aber was ist Dir denn, Lore? Du siehst so verblichen aus!“

Das Mädchen wandte den Kopf. „Verzeihe mir!“ flüsterte sie und zog die Hand der alten Dame so ehrfurchtsvoll an die Lippen, als wollte sie die Worte Lügen strafen, die sich auf ihre mangelhafte gesellschaftliche Haltung bezogen. Im nächsten Augenblick war sie verschwunden.

Es wäre ihr nicht möglich gewesen, gleich nach Hause zu gehen, sie mußte erst ruhig überlegen, auf welche Weise sie die Eltern vorbereiten sollte. Zuerst natürlich die Mutter, die arme Seele, die weiter nichts gethan im Leben, als dulden und – arbeiten. Jetzt kamen ihr mit einem Male die Thränen brennend in die Augen, während sie, ohne zu wissen was sie that, ihre Schritte den Anlagen zulenkte. Auf dem stillen Flüßchen neben ihr schwammen gelbe Blätter, und jenseits über den Wiesen brauten weiße Nebelmassen, immer dichter quollen sie aus dem bruchigen Lande, fast gespenstisch anzuschauen in dem Dämmern des Herbstabends.

Sie ging rasch, wie von innerer Unruhe getrieben. In den Wegen der Anlagen war es völlig einsam, sie achtete nicht darauf. An einem schirmartigen Gartenpavillon, der sich inmitten eines Rondels erhob, machte sie endlich Halt und setzte sich auf die Bank unter dem hölzernen, vielfach schadhaften Dach. Sie that es ganz instinktiv, denn es hatte angefangen zu regnen. Die Bäume standen unbeweglich, es herrschte völlige Windstille, nur leise rauschten die Tropfen hernieder und hier und da sank ein welkes Blatt zur Erde. Unbeweglich saß sie und schaute in den grauen Nebelschleier hinein, aber wie sie auch grübelte und sann, nirgends fand sie einen Ausweg. Soviel stand fest, der Vater würde es nicht überleben, wenn sein Lieblingssohn mit Schimpf und Schande die Uniform ausziehen mußte – von der Mutter gar nicht zu reden. Und es würde doch so kommen, mußte so kommen! –

Sie hörte vor dem lauten bangen Schlagen ihres Herzens nicht den eiligen festen Schritt, der hinter ihr erscholl, dann stand sie plötzlich auf und in ihr feines Gesicht stieg langsam eine dunkle Röthe.

„Eingeregnet?“ sagte fröhlich eine wohlklingende Männerstimme, „erlauben Sie, Fräulein von Tollen, dieses Familiendach reicht für uns beide; – es ist doch gut, wenn man zuweilen

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1889). Leipzig: Ernst Keil, 1889, Seite 23. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1889)_023.jpg&oldid=- (Version vom 29.12.2019)