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Verschiedene: Die Gartenlaube (1889)

diese einfachen Vorgänge beobachtete. Und just in diesem Moment flog der Blick des Mädchens seinem Fenster zu. Sie hielt in ihrer Beschäftigung inne und kam herüber.

„Bist Du schon aufgestanden?“ scholl ihre helle Stimme fröhlich zu ihm hinauf. „Warte nur einen Augenblick, Rudolf, Du sollst sofort den Kaffee haben.“ Sie band die Klammerschürze ab, warf sie zur Erde und schritt eilig in das Haus.

Er wandte sich um und verließ das Zimmer; auf dem engen Flur scholl ihm das Klappern von Tassen und Tellern aus der im Erdgeschoß befindlichen Küche entgegen. Er stieg das schmale ächzende Treppchen hinunter und wurde am Fuße derselben von seiner Mutter empfangen. Ihr vergrämtes, von der Anstrengung der Arbeit geröthetes Gesicht hing mit aufleuchtenden Augen an den seinen.

„Guten Morgen, Rudi,“ sagte sie freundlich, „Du mußt nun auf den Kaffee warten, wer konnte denn auch ahnen, daß Du schon so früh aus den Federn sein würdest! Hast Du gut geschlafen, Herzensjunge?“

Sie streckte ihm die noch vom Waschen faltige Hand entgegen. „Komm in die Eßstube,“ bat sie, „Lore ist gleich fertig mit dem Frühstück.“

Er folgte stumm und verlegen; seine hohe Gestalt in eleganter Joppe mußte sich bücken unter der niedern Thür. Er sah sich in dem kleinen Zimmer, dessen blau und grau gemusterte Tapete die Spuren langjähriger Dienste trug, mit einem unbehaglichen Ausdruck um, und an dem sauber gedeckten Tische vor dem Sofa, auf welchem die Mutter bereits Platz genommen, stehen bleibend, fragte er verdrießlich:

„Warum wäschst Du denn selbst, Mutter?“

„Aber, Rudi!“ gab die alte Dame zurück, während sie hastig eine Semmel mit Butter bestrich. „Weil – nun – weil es mir Vergnügen macht, und der Lore auch.“

„Schönes Vergnügen! Langt’s denn nicht mal mehr zu einer Waschfrau?“

Die Majorin war roth geworden. Es langte in der That nicht mehr, seitdem die Zinsen des kleinen Kapitals fehlten, das im vorigen Jahre für Rudi „in einem dringenden Falle“ geopfert wurde, aber sie begnügte sich mit einem leisen Kopfschütteln. „Laß Dich doch das nicht kümmern, sagte die Dame, „es ist wirklich nicht schlimm. Setze Dich her, siehst Du, da kommt Lore mit dem Kaffee.“

Das junge Mädchen hatte eben die Kanne auf den Tisch gestellt und faßte nun den lockigen Kopf des Bruders mit beiden Händen. Guten Morgen, Du!“ rief sie lachend. „Was machst Du denn für ein Gesicht, Du Brummbär? Wie hast Du geschlafen?“

„Schauderhaftes Lokal, diese sogenannte Logirstube,“ erwiderte er, das schöne Mädchen etwas freundlicher betrachtend, „überhaupt ein nettes Unkenloch, diese neue Wohnung, die vorherige war wenigstens einigermaßen präsentabel, aber –“

„Aber diese kostet achtzig Thaler weniger!“ rief Lenore von Tollen, „und hier hast Du Sahne und Zucker; nimm recht viel davon, damit Du etwas weniger bittere Reden führst.“ Sie setzte ihm, noch immer lächelnd, die Unterschale näher und verließ das Zimmer. „Mama,“ rief sie, noch einmal zurückkommend, „nun bleib’ ganz ruhig sitzen und erzähle Dir etwas mit Rudi, ich besorge draußen schon alles, Papas Kakao steht auf dem Herde, wenn Du ihn suchst.“

Die Mutter betrachtete zunächst in stummer Bewunderung den ihr gegenübersitzenden Sohn. Dann aber begann der lange mühsam zurückgehaltene Redestrom. Jetzt hatte sie ihn ja endlich allein und konnte, wozu gestern abend nach seiner Ankunft keine Zeit mehr gewesen war, nach all den tausend Dingen fragen, die das Mutterherz zu wissen wünschte. „Der Vater freut sich so sehr, Rudi,“ schloß sie endlich, „Du mußt ihm recht viel erzählen; ich bin so glücklich, daß Du vier Wochen Urlaub hast, schon Lorchens wegen. Du lieber Himmel, sie hat wirklich nichts von ihrem jungen Leben!“

„Na, in diesem Neste –“ meinte der Sohn und brannte sich eine Cigarre an, und die ersten Züge thuend, fragte er: „Hat sie denn die Unglücksidee immer noch, den blutarmen Kerl, den Doktor Dingsda, zu heirathen?“

„Da fragst Du mich zu viel, Rudi, ich weiß es nicht. Daß sich die jungen Leute für einander interessiren, ist mir nicht verborgen geblieben, aber zu einer Aussprache zwischen mir und Lore ist es bis jetzt nicht gekommen, und ich hüte mich, daran zu rühren.“

„Wird ja wohl endlich vernünftig geworden sein,“ murmelte er; „aber hörst Du? Eben ist Vater erwacht.“

Ueber ihnen waren drei dumpfe Schläge erklungen, als werde mit einem Stock auf die Dielen gepocht. Frau von Tollen ließ ihre halb geleerte Tasse stehen und lief eilig aus dem Zimmer. Verstimmt blickte Rudi ihr nach. „Wo brennt’s denn?“ sagte er halblaut, setzte sich rittlings auf den Stuhl, die Arme auf die Lehne desselben gestützt, und blaue Ringel in die Luft blasend, dachte er darüber nach, wie er „dem Alten“ am besten eine höchst unangenehme Mittheilung machen könne, nämlich die, daß er einige Moneten brauche, um – na, natürlich um Schulden zu bezahlen. „Herr Gott, das wird wieder mal ein schönes Lamento geben! Aber es ist ja geradezu himmelschreiend, daß man mit der Lumpenzulage ausreichen soll! Und wenn man noch obendrein das schreckliche Pech hat –“

Er stockte in seinem Selbstgespräch, denn die Schwester kam herein. Sie hatte anstatt der großen Arbeitsschürze eine zierliche weiße umgebunden, die Aermel heruntergestreift und setzte sich mit einer Schüssel voll Bohnen dem Bruder gegenüber an das Fenster.

„So,“ sagte sie, „und nun erzähle mir auch etwas, Rudi; wir haben uns lange nicht gesehen; Stoff genug wirst Du haben.“ Sie begann dabei mit flinken Fingern die Bohnen zu schneiden und sah erst nach einem Weilchen, als keine Antwort kam, in das Gesicht des Bruders. Sie mußte diesen verdrießlichen, sorgenvollen Ausdruck kennen, mit dem er an ihr vorüberschaute; ihre schönen bräunlichen Augen öffneten sich plötzlich schreckhaft. „Um Gotteswillen, Rudi, Du hast doch keine Unannehmlichkeiten gehabt?“

„Ah! Bah! Es ist nicht von Bedeutung – aber – ich wollte, Papa wüßte es erst!“

Aus ihrem blühenden Antlitz wich jede Spur von Farbe, eine peinliche Angst malte sich in den weichen Augen. „Rudolf, wenn es Papa betrüben könnte, so verschweige es ihm – er ist so elend, so aufgeregt – ich bitte Dich!“

Er zuckte die Schultern und rauchte weiter.

„Was ist’s denn?“ drängte sie. „Du brauchst doch nicht etwa Geld, Rudolf?“

„Allerdings! Der ‚Isidor‘ ist mir gefallen; ich wollte ihn ja verkaufen, weißt Du, um damit Löwenthal zu befriedigen – kriegt das Beest die Kolik und ist in drei Stunden lebendig und todt!“ „Löwenthal? Wer ist Löwenthal und was verlangt er? Du hast im vorigen Jahre nichts gesagt von ihm –.“

Geld verlangt er!“ klang es ärgerlich zurück, „und seines Zeichens ist er Pferdehändler, den ich angepumpt habe; voilà tout –.“ Das junge blonde Geschöpf senkte den Kopf wie unter einem schweren Schlag. Sie hatte es geahnt, als der Brief kam mit der Meldung seines Besuches: er kommt, um neue Sorge zu schaffen, umsonst würde er sich nicht in dieses „Wurstnest“, wie er es zu nennen pflegte, hinsetzen; umsonst nicht die tödliche Langweile des „theuren Vaterhauses“ vier Wochen lang genießen wollen – und ihr Ahnen war jetzt plötzlich zur Gewißheit geworden. Da saß er und rauchte von den Cigarren, die sie angeschafft mit ihren ersparten Groschen, und draußen mühte sich die Mutter in der Küche, um das Leibgericht ihres Lieblings zu kochen. Tagelang hatte die alte Frau von weiter nichts gesprochen, als - „wenn Rudi erst da ist - wenn Rudi kommt –.“

Ja, nun saß er da, und mit ihm war die Sorge in das bescheidene Haus geschlichen, um sich abermals an das Krankenbette des gelähmten Vaters zu setzen und neben der bekümmerten Mutter zu stehen, wenn sie ungewohnte harte Arbeit that – damit sie ihr noch schwerer werde.

Lenore von Tollen war keine von den jungen Damen, die mit großen Erwartungen in die Zukunft blicken, aber ein bißchen Sonnenschein mitunter, so meinte sie bescheiden, wäre wohl nothwendig zum Leben. Ach, und die Sonne schien selten in dies junge Herz, und wenn ihre Strahlen wirklich einmal so recht goldig blinkten, dann kam immer und immer wieder eine dunkle Wolke und verhüllte sie. – Die dumpfen Wochen des vergangenen Jahres stiegen in ihrer Erinnerung auf, die einem ähnlichen Bekenntniß des Bruders gefolgt waren; die Bewegungen der kleinen sonst so flinken Hände verlangsamten bei der Aussicht auf eine

erneute Katastrophe, auf abermalige Kummerthränen der Mutter,

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1889). Leipzig: Ernst Keil, 1889, Seite 2. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1889)_002.jpg&oldid=- (Version vom 29.12.2019)