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Verschiedene: Die Gartenlaube (1888)

Ernst zuckte gleichgültig die Achseln.

„Nun ja, aber was ist das gegen die ungeheuren Verluste, welche die Bahn erleidet! Eben als ich in das Haus trat, kamen wieder neue Meldungen an den Präsidenten, nichts als Hiobsposten. Es scheint so ziemlich alles auf dem Spiele zu stehen.“

„Aber es wird ja mit Anspannung aller Kräfte gearbeitet! Sollte denn das alles vergebens sein?“

„Ja, der Chefingenieur kämpft wie ein Verzweifelter mit den Elementen,“ sagte Ernst mit einer Art wilder Genugthuung. „Er vertheidigt sein geliebtes Werk auf Leben und Tod, aber solchen Katastrophen ist keine Menschenkraft gewachsen. Das Wasser steigt fortwährend, die Dämme halten nicht mehr Stand, auf der unteren Strecke sind die Brücken bereits fortgerissen. Die ganze Natur scheint ja in Aufruhr zu sein.“

Erna schwieg, sie trat wieder an das Fenster und ihr Blick irrte hinaus in den wogenden Nebel, der jeden Ausblick hinderte. Auch die Bahnstrecke, die sich unterhalb der Villa hinzog, war heute nicht sichtbar, nur das Brausen der entfesselten Fluth drang herauf. Dort unten kämpfte Wolfgang an der Spitze seiner Leute und kämpfte vielleicht vergebens.

„Nun, die Wolkensteiner Felsenbrücke bleibt jedenfalls stehen,“ fuhr Waltenberg fort. „Herr Elmhorst sollte damit zufrieden sein und sich nicht so unsinnig preisgeben, wie er es bei jeder Gelegenheit thut. Feig ist er nicht, das muß man ihm lassen, er geht immer mitten hinein in die Gefahr; aber es ist eine Thorheit, sein Leben einzusetzen, um irgend einen bedrohten Damm zu retten. Er leistet Tollkühnes an der Spitze seiner Ingenieure und Arbeiter, die ihm blindlings folgen. Sie sollen sich nur in Acht nehmen, daß er sie nicht mit in das Verderben reißt.“

Es lag eine kalte, berechnende Grausamkeit in der Art, wie er seiner Braut die Gefahr des Mannes, den sie liebte, immer und immer wieder vor Augen führte; sie wandte sich um und streifte ihn mit einem schweren, vorwurfsvollen Blick.

„Ernst!“ „Du befiehlst?“ fragte er, ohne den Blick zu beachten.

„Warum verweigerst Du eine offene Aussprache, die ich so oft schon herbeizuführen suchte. Du willst ja keine Erklärung.“

„Nein, ich will sie nicht – laß uns darüber schweigen!“

„Weil Du weißt, daß Dein Schweigen mich mehr quält als alle Vorwürfe, und weil es Dir Freude macht, mich zu quälen.“

Die Augen des Mädchens flammten; aber der leidenschaftliche Ausbruch begegnete einer Eiseskälte.

„Wie Du mich verkennst! Ich will Dir eine peinliche Auseinandersetzung ersparen.“

„Wozu das? Ich fühle mich nicht schuldig; ich werde Dir nichts verhehlen und ableugnen –“

„So wenig wie bei unserer Verlobung!“ unterbrach er sie schneidend. „Du warst ja auch damals sehr aufrichtig – bis auf den Namen! Du ließest mich geflissentlich in dem Irrthum, den ich allerdings selbst verschuldete.“

„Ich fürchtete –“

„Für ihn – natürlich! Ich begreife das vollkommen; aber beruhige Dich; es kommt mir wirklich nicht so genau auf die Zeit an, ich kann warten.“

Erna zuckte zusammen bei dem seltsamen, vieldeutigen Worte.

„Warten – worauf? Um Gotteswillen, was meinst Du damit?“

Er lächelte mit derselben kalten Grausamkeit wie vorhin.

„Wie schreckhaft Du geworden bist! Sonst pflegtest Du muthiger zu sein; aber freilich, eins giebt es, das Dich in besinnungslose Angst treiben kann, das habe ich gesehen.“

„Und dies Eine läßt Du mich täglich und stündlich büßen! Das ist eine unedle Rache, Ernst, ich werde Dir keine Antwort, kein Bekenntniß verweigern, wenn Du fragst; aber stehe mir endlich Rede. Du hast Wolfgang Elmhorst gesprochen seit jenem Vorfall?“

Es verging eine volle Minute, ehe Ernst antwortete; er schien jeden Zug in ihrem Gesichte zu studiren.

„Ja!“ sagte er endlich langsam.

„Und was ist geschehen zwischen Euch?“ Ihre Stimme bebte in verhaltener Angst, so sehr sie sich auch Mühe gab, sie zu beherrschen.

„Verzeih’, das geht wohl nur aus beide allein an; aber Du darfst Dich durchaus nicht beunruhigen. Ich habe bei Herrn Elmhorst jedes nur wünschenswerte Entgegenkommen gefunden, wir sind im besten Einvernehmen geschieden.“

Er betonte jedes Wort scharf und hohnvoll, und dieser Hohn brachte Erna aufs äußerste. Sie hatte bisher stumm und wehrlos alles ertragen, am ihn nicht noch mehr gegen Wolfgang zu reizen, sie wußte es ja, daß diesem allein seine Rache galt; jetzt aber richtete sie sich auf in voller Empörung.

„Ernst, geh’ nicht zu weit, Du könntest es bereuen. Noch bin ich nicht Dein Weib, noch kann ich mich losreißen –“

Sie vollendete nicht, denn Waltenbergs Hand legte sich plötzlich auf die ihrige mit so eisernem Drucke, als wollte er sie zerbrechen.

„Versuche es!“ zischte er; „der Tag, an dem Du Dich von mir trennst, ist der letzte seines Lebens.“

Erna erbleichte, der Ausdruck seines Gesichtes erschreckte sie noch mehr als seine Drohung. Jetzt, wo er die Maske der Kälte und des Hohnes fallen ließ, lag etwas Tigerartiges darin, und in seinen Augen sprühte es so wild und furchtbar, daß sie um willkürlich zusammenschauerte. Sie fühlte es, er würde dem Worte die That folgen lassen.

„Du bist entsetzlich!“ sagte sie leise. „Ich – füge mich!“

„Das wußte ich!“ rief er mit einem herben Auflachen. „Der Grund ist zwingend für Dich.“

Er gab langsam ihre Hand frei, denn in diesem Augenblick trat Wally ein, die nun ausgeschmollt hatte und wissen wollte, wie es in Oberstein stehe, was ihr Vetter Benno mache und wie es drunten auf der Bahn aussehe; sie hatte wie gewöhnlich tausend Fragen und Erkundigungen.

Waltenberg antwortete mit voller Artigkeit; er war wieder ganz Herr seiner selbst und man sah es ihm nicht an, daß er eben noch eine Tigernatur verrathen hatte.

„Wenn es den Damen Vergnügen macht und sie den Regen nicht scheuen; können wir ja hinunter reiten,“ sagte er am Schlusse seines ausführlichen Berichtes.

„Vergnügen?“ rief Wally, die trotz all ihres Uebermuthes doch ein warmes Mitgefühl für fremdes Leid besaß. „Wie können Sie im Angesichte eines solchen Unglücks nur davon sprechen!“

„Ja, gnädige Frau, der einzelne kann da wirklich nicht helfen,“ versetzte Ernst achselzuckend. „Aber ich versichere Ihnen, der Anblick ist hochinteressant.“

Erna äußerte kein Wort des Vorwurfes, aber es wandelte sie ein Grauen an vor diesem krassen Egoismus. Dort unten setzten Hunderte Kraft und Leben ein, um ein großes, kühnes Werk zu retten, an dem sie jahrelang gearbeitet hatten, die ungeheuersten Summen standen auf dem Spiele und daneben bangten auch die armen Aelpler noch um ihren dürftigen Besitz. Ernst hatte auch nicht ein Wort des Bedauerns dafür, ihm war das nur „hochinteressant“ und neben diesem Interesse empfand er höchstens nach Genugthuung darüber, daß die Schöpfung seines Feindes vernichtet wurde.

Und dieser Mann wollte sie an seine Seite zwingen für ein ganzes langes Leben, sie sollte ihm angehören mit Leib und Seele; und wenn sie sich aufbäumte und versuchte, die Kette zu zerreißen, die sie in einem Moment der Ueberraschung, halb willenlos auf sich genommen hatte, dann drohte er ihr mit dem Tode dessen, den sie liebte, und machte sie wehrlos damit. Das Mittel war gut gewählt, all ihr Trotz, all ihre Widerstandskraft sank zusammen vor dieser Angst.

Da hörte man im Nebenzimmer die Stimme des Präsidenten, der hastig und laut dem Diener einen Befehl gab und gleich darauf selbst eintrat, bleich und aufgeregt, nur mit Mühe seine Fassung bewahrend. Die letzten Meldungen ließen das Schlimmste befürchten, er wollte selbst hinunter und sehen, wie es stand. Waltenberg erklärte sofort, sich ihm anschließen zu wollen, und wandte sich dann an seine Braut so ruhig, als sei nicht das Geringste zwischen ihnen vorgefallen.

„Willst Du uns nicht begleiten, Erna? Wir reiten nach den am meisten bedrohten Stellen, und Du bist ja furchtlos genug.“

Erna zögerte einige Sekunden, dann willigte sie hastig ein. Sie mußte sehen und wissen, was da unten geschah, und wenn es das Schlimmste war. Nur nicht länger hier oben ausharren, in den wogenden Nebel blicken, der alles verschleierte, und die Meldungen hören, die von Stunde zu Stunde beängstigender klangen! Es ging nach den am meisten bedrohten Stellen; dort war Wolfgang, sie sah ihn wenigstens!

Wally, die nicht begreifen konnte, wie man sich in solchem Wetter in das Freie wagen könne, blickte ihnen kopfschüttelnd nach,

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