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Verschiedene: Die Gartenlaube (1888)

Blätter und Blüthen.


Die Waldhexe.
(Mit Illustration S. 769.)

„Die Hexe kommt!“ Voll Schrecken, bang und bleich
Duckt sich die Schar der Kleinen ins Gesträuch,
Wenn sie im Walde naht die finstre Alte. –
Ihr kennt das Hüttlein an der Rothwandspalte,
Das wie ein morsches Nest am Abgrund schwebt,
Von Waldgerank und Tobeldunst umwebt,
Dort haust sie, einsam wie ein Uhu haust,
Vom Volk gemieden. Selbst den Förster graust,
Wenn er des Nachts am Kreuzpfad ihr begegnet,
Daß er, ein Sprüchlein murmelnd, fromm sich segnet:
Denn schier unhörbar, meint er, schritt ihr Fuß. –
Wohl dreizehn Jahre hat sie Dank und Gruß
Nicht einem mehr gegönnt; seit man im Tann
Am Hochstein fand erschlagen ihren Mann,
Den Waldwart, hingestreckt in blut’ge Lache –
Es war ein Graus! Noch schreit das Blut um Rache!

Den rothen Berndt sprach der Gerichtshof frei
Ob mangelnder Beweise. Keck vorbei
An ihrem Zeugenstuhl mit Hohngelächter
Schritt er zum Saal hinaus, der reiche Pächter.
Fest, aufrecht hinter ihren Gitterstäben
Stand sie, die Faust geballt in Wuth und Beben,
Den Blick gewandt nach ihm voll Hassesflammen –
„Frei war er! Frei!“ Erschöpft brach sie zusammen.

Dann schritt sie heim, starr, wortlos, ohne Klage.
Vom Leben aber wandt’ seit jenem Tage
Ihr Herz sich ab und schloß der Welt die Thür –
Wohl zahlt den Zins, den Schoß sie nach Gebühr –
Doch nie mehr sah man sie im Kirchlein knie’n
Und nie hat sie den Spruch der Welt verzieh’n.

Der Pfarrherr sprach: „Die Rache steht bei Gott!“
„Nein, Herr!“ rief sie, „hier muß er aufs Schafott!“
Und als der Graf das Gnadenbrot ihr bot,
Sprach sie: „Herr Graf, mir thut nur eines Noth -
So lang' die Blutthat nicht an ihm gerächt,
Will ich nicht Gnade, Herr – ich will mein Recht!“

Dann ging sie. Nur das Hüttlein nahm sie an,
Das einst aus Trümmern hier erbaut ihr Mann;
Drin lebt sie dorffern, freundlos, winterhart,
Vom Schnee umbaut, in Grimm und Gram erstarrt.

Der Amtmann meint, daß Wahn ihr Hirn umstrickt;
Doch wer ins strenge Auge ihr geblickt,
In ihres Antlitz’ Runen las, der weiß,
Daß hier ein Geist noch lodert hell und heiß.

Der Wald nur ist ihr Freund. Sein fromm’ Gethier,
Selbst Reh und Häslein flieh’n nicht mehr vor ihr;
Oft dünkt ihr fast, als lausche er vertraut,
Spricht sie mit ihrem Gott geheim und laut.
Kaum von der Kreatur des Wald’s geschieden,
Lebt sie dahin in seinem Bann und Frieden,
Verwittert selbst schon wie ein greiser Baum –
O spinne um sie deinen stillen Traum,
Gieb ihr ein Grab, o Wald, in kühler Erde,
Daß endlich Ruh’ auch diesem Herzen werde!

Julius Lohmeyer.


Zwei neue Berliner Theater. Die deutsche Reichshauptstadt nimmt von Jahr zu Jahr an Umfang und Bevölkerung zu, kein Wunder, daß sie auch in Bezug auf das Theaterleben sich in ungeahnter Weise entfaltet. Neben dem Schauspielhause hat ein Theater gleicher Tendenz, das Deutsche Theater, bisher erfreuliche Erfolge zu verzeichnen, und nun ist diesen beiden Bühnen eine neue doppelte Konkurrenz erwachsen: am 11. Sept. ist das Lessing-Theater, am 16. das Berliner Theater eröffnet worden, beide wirken mit schauspielerischen Kräften ersten Ranges, und wenn das erstere mehr ein das Konversationsstück pflegendes Salontheater, das letztere ein Volkstheater für die große Tragödie und das Schaustück werden will, so treten sie doch beide mit gleichen Ansprüchen neben das Hoftheater und das Deutsche Theater und wollen wie diese berufener Dichtung im ernsten und heiteren Genre ein Asyl gewähren. Daneben bestehen zahlreiche Bühnen fort, welche mehr oder weniger eine Specialität pflegen, sei es die großen Ausstattungsstücke mit Ballet oder die französischen Dramen von der Seine, das derbere Lustspiel, den Schwank und die Operette.

Der Theatersinn der Berliner Bevölkerung ist so regsam, daß daß man wohl annehmen darf, dem gesteigerten Angebot werde eine gesteigerte Nachfrage entsprechen. Der Wetteifer der Bühnen kommt dem Publikum zugute, aber auch der dramatischen Litteratur, die bisher, an einer oder zwei Thüren zurückgewiesen für Berlin gleichsam todtgeschwiegen wurde. Jetzt ist für mannigfache Richtungen und Talente freier Spielraum geschaffen und Werke, die aus irgend welchen Rücksichten von der einen Bühne zurückgewiesen wurden, bei der andern wegen irgend einer Geschmacksverschiedenheit der Direktion keine Annahme fanden, dürfen jetzt darauf rechnen, an dieser oder jener Stätte der Kunst das Licht der Prosceniumslampen zu erblicken. Die bestehenden Bühnen aber werden sich mehr als früher vor jeder Einseitigkeit oder Engherzigkeit hüten müssen, denn die Erfolge der Konkurrenten mit abgewiesenen Dramen würden ihnen doch das peinliche Gefühl einer in aller Stille erlittenen Niederlage nicht ersparen.

Das Lessing-Theater ist am 11. September mit einer Aufführung von „Nathan der Weise“ eröffnet worden. Ein von dem Direktor Dr. Oskar Blumenthal gedichteter Prolog, den Frau Claar-Delia sprach, hob besonders hervor, daß das Haus der modernen Muse geweiht sein solle. Die Aufführung eines Lessingschen Dramas galt gewissermaßen dem Schutzheiligen des Hauses, welches die Pflege der Klassicität sonst nicht zu seinen Aufgaben zählt. Den „Nathan“ spielte Herr Possart; er ist nicht bloß die hervorragendste künstlerische Kraft des Lessing-Theaters, er führt auch, wie lange Jahre in München, die Oberregie und wird nächst dem Direktor die Seele des ganzen Unternehmens sein. Eine Salondame wie Frau Claar-Delia, der für später gewonnene treffliche Charakterspieler Herr Adolf Klein, der den Derwisch im „Nathan“ mit glänzendem Erfolg spielte, werden nebst jüngeren Kräften die künstlerischen Träger des Unternehmens sein.

Der Theaterbau selbst, unter der Leitung der Architekten von der Hude und Hennicke, unter der technischen Leitung des Regierungsbaumeisters H. Weiß entstanden, hat alle Erfordernisse und Errungenschaften der Neuzeit auf diesem Gebiete berücksichtigt. Das Theater liegt frei, überall zugänglich; die Grundform ist der des Königlichen Schauspielhauses nachgebildet, das Vestibül enthält als Hauptzierde die schöne Eberleinsche Gruppe, einen Genius, die Büste Lessings kränzend. Die Korridore sind bequem, die Garderoben ebenfalls. Für je eine Gruppe von Parkettbänken ist eine besondere Thür angebracht; das Foyer macht mit seiner Ausschmückungen weißen und matten Farben und Gold einen vornehmen Eindruck; dasselbe gilt von der in leichtem Rokoko gehaltenen Dekoration des Zuschauerraums in Blatt, Weiß und Gold; die Wände sind mit röthlich-braunen Tapeten bekleidet. Um das Parkett zieht sich ein halbkreisförmiger sehr breiter Wandelgang. Elektrisches Licht durchstrahlt alle Räume; für die Feuersicherheit sind nicht nur durch einen eisernen Vorhang, sondern auch durch zahlreiche höchst bequeme Ausgänge ins Freie die besten Vorkehrungen getroffen worden.

Doch eine Merkwürdigkeit bietet das Lessing-Theater: es hat kein Orchester, weder ein hoch-, noch ein tiefgelegenes. Es ist so ausschließlich der Schauspielkunst, dem recitirenden Drama gewidmet, daß auch alle musikalisch-dramatischen Mischgattungen ausgeschlossen sind. Für das moderne Konversationsstück soll hier eine Stätte geschaffen werden, welche von Hause aus auch jenes höhere Drama ausschließt, das eine pomphafte Inscenirung verlangt, deren Effekt mehr oder weniger durch Orchesterwirkungen erhöht wird.

Das „Berliner Theater“, dessen Scepter Ludwig Barnay schwingt, ist am 16. September eröffnet worden. Das frühere Walhallatheater, dem Dienst der heiteren Operettenmuse geweiht, ist in fast allen seinen Theilen vollständig umgebaut worden, so daß es nach jeder Richtung hin den Eindruck eines prächtigen Neubaus macht. Die Bühne wurde tiefer gelegt und durch Anbau an den Seiten und Ausbau nach hinten bedeutend vergrößert, ebenso erhöht durch Aufsetzen eines Stockwerkes. Obermaschinenmeister Lautenschläger in München hat dieselbe mit allen Einrichtungen versehen, welche die neueste Zeit erfunden und welche eine Bühne für die Aufführung großer Schaustücke geeignet machen. Die Fassade ist prächtig und künstlerisch durchgeführt. Was die inneren Einrichtungen betrifft, so sind zunächst die Treppen, Korridore und Eingänge nach allen Seiten hin bedeutend vergrößert und verbreitert worden. Das Vestibül ist geschmackvoll, prächtige Foyers befinden sich im Souterrain; das Logenhaus ist gänzlich neu gemalt und dekorirt; das Parkett ist erhöht, das Orchester tiefer gelegt, und wenn es geräumt werden muß, werden elegante Orchesterfauteuils die Stelle der Musikerpulte einnehmen. Das Haus und die Bühne sind durchweg elektrisch beleuchtet.

Der Leiter, der am Steuerruder des neuen Bühnenschiffs steht, hat sich in Deutschland als dramatischer Künstler einer hervorragenden Stellung zu erfreuen, wie er auch als Vorkämpfer der Bestrebungen des Schauspielerstandes für die Wahrung seiner berechtigten Interessen in erster Linie genannt wurde. Es ist Ludwig Barnay, dem die „Gartenlaube“ bereits vor Jahren einen eingehenden Artikel widmete (Jahrgang 1878, Heft 1). Sein energisches Darstellungstalent hat er besonders in den großen Aufgaben der Tragödie bewährt oder in der Darstellung eigenartiger Schauspielhelden wie „Graf Waldemar“. So wird auch das von ihm geleitete Institut seinen Schwerpunkt in der großen Tragödie suchen und damit eine Volksbühne im wahren Sinn des Wortes werden; denn was man auch hierüber fabuliren mag: wahrhaft volkstümlich ist heutigen Tages das große Trauerspiel Shakespeares, Friedrich Schillers und ihrer Nachfolger, wenn auch das eigentliche Theaterpublikum im engeren Sinn sich mehr dem leichteren Genre der Bühnendichtung zuneigt. Freilich, eine Darstellung mit hervorragenden und würdigen Kräften ist die Bedingung für den Erfolg der großen Tragödie; sonst bleibt ja den Gleichgültigen oder denen, die gegen die Erzeugnisse des dichterischen Genius blasirt sind, die willkommene Ausrede, daß die unwürdige Darstellung des Großen und Würdigen jeden Genuß verkümmere und unmöglich mache. Daß ein Volkstheater höheren Stils auch die andern dramatischen Gattungen pflegen wird, ist selbstverständlich.

Die Künstlerschar, die sich um die Fahne des neuen Bühnenleiters sammelt, rekrutirt sich zum Theil aus glänzenden Namen des netten Theaters. Da ist Klara Ziegler, die imposante, mit den schönsten Mitteln ausgerüstete Heroine unserer Bühne; da ist Friedrich Haafe, der ausgezeichnete Meister der Kabinetsmalerei und der großen Charakterzeichnung in der Tragödie; da ist Hedwig Niemann-Raabe, die vortreffliche Schauspielerin, die aus dem Fache der Naiven zu den Heldinnen des Rührdramas übergegangen ist, und diese beiden letzteren bürgen dafür, daß auch das Schauspiel zu seinem Rechte kommen wird; da ist Kainz, der jugendliche Liebhaber, der durch sein Feuer zündende Wirkungen ausübt.

Die Eröffnungsvorstellung brachte den Schiller-Laubeschen „Demetrius“; die Aufnahme war eine begeisterte; von namhaften Künstlern den sogenannten stars, wirkte Klara Ziegler als Marfa mit. Die Hoheit

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1888). Leipzig: Ernst Keil, 1888, Seite 771. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1888)_771.jpg&oldid=- (Version vom 27.8.2018)