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Verschiedene: Die Gartenlaube (1888)

hatte, und ich, der Einzige, auf dessen Zeugniß er sich allenfalls berufen konnte, war damals schon in die weite Welt gegangen. Aber jetzt bin ich wieder da und jetzt werde ich nicht ruhen und rasten, bis die Sache ans Licht gebracht ist.“

„Und wozu das?“ fragte Benno leise. „Weshalb wollen Sie die alte, längst begrabene Sache wieder aufwühlen? Meinem armen Vater geschieht doch keine Genugthuung mehr damit, und die Bestätigung, wenn sie sich findet, wäre ein furchtbarer Schlag für – die Familie des Präsidenten.“

Gronau sah ihn einige Sekunden lang sprachlos an, als könne er die Worte nicht begreifen; dann aber brach er zornig aus:

„Nun wahrhaftig, das geht denn doch zu weit! Ein anderer würde außer sich geraten bei einer solchen Entdeckung, würde Himmel und Erde in Bewegung setzen, um die Wahrheit herauszubringen und rücksichtslos den Schuldigen zu treffen, und Sie möchten mich am liebsten zurückhalten, weil der Chefingenieur Ihr Freund ist, weil Sie den Skandal für die Familie Ihres ärgsten Feindes fürchten. Sie sind der echte Sohn Ihres Vaters, der hätte es ebenso gemacht!“

Er hatte unrecht mit dieser Voraussetzung. Benno hatte nicht an Wolfgang gedacht, es war ein anderes Antlitz, das vor ihm auftauchte und ihn mit großen braunen Augen so angstvoll fragend anblickte; aber er hätte um keinen Preis der Welt verrathen, was ihm die Bestätigung jenes Verdachtes so entsetzlich machte und weshalb er die ganze Angelegenheit am liebsten begraben gesehen hätte.

Veit Gronau erhob sich und sagte in einem halb grollenden, halb mitleidigen Tone:

„Von Ihnen ist nichts zu hoffen, Benno, das sehe ich schon! Solche unpraktische Gefühlsmenschen taugen überhaupt nicht für dergleichen. Zum Glück bin ich noch da! Ich habe jetzt einmal die Spur gefunden und nun lasse ich sie nicht wieder, koste es, was es wolle. Ich will meinem alten Freunde wenigstens im Grabe noch die Genugthuung geben, die das Leben ihm versagt hat!“


Präsident Nordheim saß in seinem Arbeitszimmer in der Residenz und ihm gegenüber Doktor Gersdorf. Sie hatten eine geschäftliche Konferenz gehabt, denn die Uebernahme der Bahn seitens der Aktionäre sollte jetzt zur Thatsache werden. Der Entschluß Nordheims, sich nach Vollendung des Unternehmens davon zurückzuziehen, wurde zwar bedauert, befremdete aber niemand, denn der rastlos thätige Mann hatte jedenfalls schon wieder neue Pläne und Entwürfe, denen er seine Kapitalien zuwenden wollte. Ihm blieb der Ruhm, an großes, kühnes Werk ins Leben gerufen und der Welt einen neuen Verkehrsweg erschlossen zu haben.

Der Chefingenieur hatte erklärt, daß er die sämmtlichen Bauten noch vor dem Eintritt des Winters fertigstellen werde, und sobald dies geschehen, sollte die Uebernahme erfolgen. Es war dann Sache der neuen Verwaltung, die letzten Vorberatungen für den Betrieb der Bahn zu treffen, deren Eröffnung man für das nächste Frühjahr in Aussicht genommen hatte. Das alles war schon seit Monaten verhandelt und festgestellt worden und Gersdorf besonders hatte in seiner Eigenschaft als juristischer Vertreter der Bahngesellschaft vielfache Besprechungen mit dem Präsidenten gehabt.

„Der Herr Chefingenieur leistet in der That beinahe das Unmögliche,“ sagte er. „Aber ich begreife dennoch nicht, wie er bis Ende Oktober fertig sein will. Wir stehen schon im Anfange des Monats und vier Wochen sind doch eine gar zu kurze Frist für das, was noch zu thun übrig bleibt.“

„Wenn mein Schwiegersohn den Termin einmal festgesetzt hat, so wird er auch Wort halten,“ entgegnete Nordheim mit ruhiger Zuversicht. „Er pflegt in solchem Falle weder sich, noch seine Untergebenen zu schonen und hier drängt uns überdies die Nothwendigkeit. Mit dem November pflegen die Schneestürme einzutreten, die gerade in der Wolkensteiner Gegend am gefährlichsten sind, da gilt es, vorher fertig zu werden.“

„Nun, bis jetzt hat der Herbst uns nur eine Art Spätsommer gebracht,“ bemerkte der Rechtsanwalt, indem er einige der Papiere, die auf dem Tische lagen, zusammenfaltete und zu sich steckte. „Ich kann es Ihren Damen nicht verdenken, daß sie noch immer in den Bergen weilen und gar nicht an die Rückkehr zu denken scheinen.“

„Sie werden voraussichtlich noch einige Wochen dort bleiben,“ sagte der Präsident. „Bei meiner Tochter hat die Höhenluft ein förmliches Wunder gethan; sie ist beinahe vollständig genesen und Doktor Reinsfeld räth, den Aufenthalt solange auszudehnen, als es die Witterung nur irgend zuläßt. Ich bin Ihrem Herrn Vetter viel Dank schuldig und bedaure aufrichtig, daß er Oberstein verläßt. Wie ich höre, hat er eine andere ärztliche Stellung in Aussicht, in – wie heißt der Ort doch?“

„Neuenfeld,“ ergänzte der Rechtsanwalt.

„Richtig, Neuenfeld! Der Name war mir entfallen. Ich kann es dem jungen strebsamen Arzte nicht verdenken, wenn er sich einen größeren Wirkungskreis sucht, aber wie gesagt, wir bedauern es alle, daß er soweit fortgeht, und auch mein Schwiegersohn wird ihn sehr vermissen.“

Die Worte klangen so wohlwollend, als empfinde der Präsident wirklich nur Dankbarkeit für den Arzt seiner Tochter und aufrichtiges Bedauern, ihn scheiden zu sehen, und Gersdorf, der keinen Grund hatte, etwas anderes anzunehmen, war auch überzeugt davon.

„Benno schreibt mir, daß er erst in vierzehn Tagen nach seinem neuen Bestimmungsorte abgehen werde,“ erwiderte er. „Er hatte sich eine mehrwöchige Frist ausbedungen, bis zur Ankunft seines Nachfolgers. Wir haben auf diese Weise Gelegenheit, uns noch einmal zu sehen, da ich im Laufe der nächsten Woche nach Heilborn muß. Der Prozeß der Gemeinden Ober- und Unterstein, wegen angeblicher Schädigung ihrer Waldungen durch die Bahnbauten, wird dort verhandelt und ich habe die Gesellschaft dabei zu vertreten.“

„Dann treffen wir uns voraussichtlich,“ sagte Nordheim. „Ich will versuchen, mich noch auf kurze Zeit frei zu machen, und dann mit meiner Familie zurückkehren. Die Last der Geschäfte war in der letzten Zeit geradezu erdrückend, ich fühle die Nothwendigkeit, mir auch einige Erholung zu gönnen. Also auf Wiedersehen in meiner Villa, Sie vergessen doch nicht, uns dort aufzusuchen?“

„Gewiß nicht,“ versicherte Gersdorf, indem er aufstand und sich verabschiedete. Der Präsident drückte auf die Klingel und befahl, Licht zu bringen, denn es dämmerte bereits. Er setzte sich an seinen Schreibtisch und vertiefte sich in die dort liegenden Papiere, die wohl Wichtiges enthalten mochten, denn sie wurden sehr eingehend und sorgsam geprüft, aber das Gesicht Nordheims zeigte dabei den Ausdruck vollster Befriedigung und als er mit der Durchsicht zu Ende war, flog ein Lächeln über seine Züge.

„Alles in Ordnung!“ murmelte er. „Es wird ein brillantes Geschäft werden! Die Zahlen sind zwar etwas kühn gruppirt, aber sie werden ihre Schuldigkeit thun, und sobald Wolfgang sie bestätigt und die ganze Berechnung mit seinem Namen deckt, nimmt man sie anstandslos hin. – Und dieser Reinsfeld wäre nun auch glücklich bei Seite geschoben! Ich dachte es mir, daß er die Lockspeise einer solchen Stellung nicht zurückweisen würde. Neuenfeld ist weit genug entfernt, und da wird er wohl in aller Behaglichkeit sitzen bleiben bis an sein Lebensende. – Was giebt es? Ich will heut Abend nicht mehr gestört sein.“

Die letzten Worte waren an einen Diener gerichtet, der soeben eingetreten war und jetzt meldete:

„Der Herr Chefingenieur ist angekommen.“

„Mein Schwiegersohn?“ fuhr Nordheim überrascht auf.

„Soeben, Herr Präsident.“

Nordheim erhob sich rasch und wollte dem Gemeldeten entgegen gehen, aber dieser stand bereits auf der Schwelle, noch im vollen Reiseanzuge.

„Ich überrasche Dich wohl, Papa, mit meiner unerwarteten Ankunft?“ fragte er.

„Allerdings, Du hast mir ja nicht einmal an Telegramm gesandt,“ erwiderte der Präsident, indem er dem Diener einen Wink gab, sich zu entfernen; aber als dieser das Zimmer verlassen hatte, fragte er rasch und sichtlich beunruhigt:

„Was ist geschehen? Ist etwas vorgefallen auf der Bahn?“

„Nein, ich habe alles in vollster Ordnung zurückgelassen.“

„Und Alice ist hoffentlich wohl?“ Die Frage klang um vieles ruhiger und gelassener als die erste.

„Ganz wohl, Du brauchst Dich durchaus nicht zu beunruhigen.“

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1888). Leipzig: Ernst Keil, 1888, Seite 678. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1888)_678.jpg&oldid=- (Version vom 17.1.2018)