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Verschiedene: Die Gartenlaube (1888)

„1000 Mark Belohnung!“ Das Leben der Großstadt ist unerschöpflich in der Abwechslung: bald locken die Theater mit Lustspielen oder Ausstattungsstücken die Menge an, bald übt dieser oder jener Cirkus seine Anziehungskraft; zu den Wettfahren, Wettläufen, Pferde- und Velocipedrennen wandern Tausende von Neugierigen hinaus; Sommerfeste, Konzerte mit großen Feuerwerken finden reiche Betheiligung. Wer aber an all diesen mehr oder minder rauschenden Festlichkeiten sich nicht betheiligen will, findet der buntesten Abwechslung genug in dem vielgestaltigen Straßenleben, in den buntzusammengewürfelten Lokalberichten der Zeitungen, in den Cafés, an den Anschlagsäulen, und hin und wieder ist es ein sensationelles Ereigniß, das alle Schichten der Gesellschaft in gleichem Maße erregt. Ein solches ist es, das unserm Künstler zu seinem nebenstehenden Bilde den Stoff gegeben hat. „1000 Mark Belohnung“, so lautet die verlockende, weithin sichtbare Ueberschrift einer polizeilichen

1000 Mark Belohnung.
Originalzeichnung von Fr. Stahl.

Bekanntmachung an der Anschlagsäule, welche auf eilige Geschäftsleute, befrackte Diener, sorglose Spaziergänger und selbst auf das schöne Geschlecht eine magische Anziehung ausübt. Ein Verbrechen hat jüngst die Stadt in Aufregung gesetzt, die Polizei fahndete vergeblich nach den Urhebern, jetzt wird der Eifer aller irgendwie Interessirten durch die ausgeschriebene Belohnung angespornt. Aller Interessirten – dazu gehören vielleicht auch die beiden fragwürdigen Gestalten, deren Aeußeres und scheues Benehmen den Argwohn, mit welchem sie beobachtet werden, wohl nur zu gerechtfertigt erscheinen lassen. Das Kainsmal ist beiden auf die Stirne geschrieben, und die 1000 Mark Belohnung mögen ihnen eher ein Gegenstand des Schreckens als der Anziehung sein. – Ein lebenswahres großstädtisches Bild! An der Seite des geachteten Bürgers unmittelbar unter den Augen des Wächters der Gerechtigkeit der gebrandmarkte Verächter der Ordnung und des Gesetzes, und an der buntscheckigen Anschlagsäule mitten unter den Anzeigen rauschender Vergnügen hart und nüchtern der Aufruf der Nemesis,der Steckbrief!

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Eine moderne Manie. Wir haben in Nr. 3 dieses Jahrgangs Mittheilungen über die „Geschichte der öffentlichen Vorträge“ gemacht und das Verdienstliche derselben hervorgehoben; doch diese Vorträge haben auch ihre Schattenseite, wie das Ferdinand Groß in seinen pikanten „Blättern im Winde“ hervorhebt. Er spricht von einer täglich zunehmenden Manie. „Fast jeder will vorlesen. Die Wahl thut einem weh, so mannigfaltig sind die sich darbietenden Genüsse. Litteratur, Malerei, Bildhauerei, Politik, Naturwissenschaft, Philosophie, Gesundheitspflege – kein Gebiet menschlichen Wissens und Erkennens fehlt in dem Verzeichnisse; sogar Vorlesungen über die vierte Dimension sind nicht ausgeschlossen.“ Gewiß muß man zwischen Vorlesungen und Vorträgen unterscheiden; für den Vorleser steht der Stoff oben an, für den Vortragenden die Form. Ohne Frage entspricht es den Mustern des ehrwürdigen Alterthums, wenn der Dichter selbst sein Werk vorträgt wie Homer und die andern Rhapsoden; doch dann muß ihm auch die Gabe des Wortes verliehen sein, wie das bei Wilhelm Jordan zutrifft, bei Charles Dickens u. a. der Fall war. Dagegen gab es große Dichter, die, wie Schiller, schrecklich.waren, wenn sie poetische Dolmetscher ihrer Muse sein wollten; bekannt ist, wie dieser bei einer Vorlesung seines „Fiesco“ mit seiner Dichtung eine höchst traurige Wirkung hervorrief.

Die meisten Dichter lesen mangelhaft und die feinsten Wendungen fallen bei nicht genügender Nüancirung unbeachtet zu Boden. Ebenso kann aber auch die gewinnende Persönlichkeit eines Poeten leicht über den Unwerth seiner Dichtung täuschen. Ob der Vorleser im Augenblicke wirklich erfindet, schafft oder nicht, ist gleichgültig, wenn er nur zu schaffen, zu erfinden scheint. Saint Beuve vergleicht den Vorleser mit einem Führer, der einen auf eine Bergspitze geleitet und, sobald die Sonne aufgeht, die beleuchteten Höhen aufzählt und nennt. Ob der für Vorlesungen Begabte sein Manuskript liest oder Notizen zu Rathe zieht oder gänzlich frei spricht, ist gleichgültig; Gutzkow konnte sich nie entschließen, öffentlich zu lesen, weil er wußte, er sei nicht im Stande, den Schein einer Improvisation hervorzubringen. Viktor Hugo las öffentliche Reden von Papierbogen ab, auf welchen zollhohe Buchstaben, weithin sichtbar, gemalt waren. Groß erklärt, daß ihm der Gelehrte oder Schriftsteller am Vorlesetisch lieber ist als der Schauspieler, aber auch nur dann, wenn er twas Neues und zwar in einer Form zu sagen weiß, welche die Zuhörer glauben macht, das Vorgebrachte oder ein Theil desselben sei nicht am Schreibtisch ausgeheckt worden, sondern falle als eine Frucht der Begeisterung dem Hörer in den Schoß.

Die geistreichen Bemerkungen von Ferdinand Groß lassen sich vielfach ergänzen. Die Vorträge sind eine Modesache geworden. Liest ein Dichter vor, der Ruf hat, so kommt die Damenwelt, nur fein Porträt nicht bloß in effige anzuschauen. Bei wissenschaftlichen Vorträgen, die doch alle ihren Gegenstand nur streifen können, sucht ein Theil des Publikums einen gewissen Schein und Firniß von Bildung zu gewinnen, sich auch bildungsdurstig zu zeigen. Wohl aber fehlt es glücklicherweise auch nirgends an einem Publikum, das sich von dem dichterischen Werke begeistern läßt und aus dem wissenschaftlichen Vortrag die Anregung schöpft zu eigenem Forschen und Studium.

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Das Schwanrupfen in Schildhorn. (Mit Illustration S. 649.) Die trotz aller Anmuth doch etwas einförmigen Wasserpartien der Mark werden durch zahllose Schwäne in reizvoller Weise belebt. Spree und Havel sind von ihnen bevölkert, die stolzen Vögel schwimmen stromauf- und abwärts, brüten auf unzugänglichen abgelegenen Inselchen oder sonstigen geschützten Plätzen und erfreuen sich fast immer ihrer Freiheit. Nur einmal im Jahre, meist im Frühjahr, findet auch für diese lebenden Geschöpfe eine „Einstellung in den königlichen Dienst“ statt. Auf Anordnung des königlichen Hofjagdamtes, dem die Schwäne als „Wild“ unterstellt sind, beginnt ein großes Kesseltreiben. Zu Wasser und zu Land werden die Vögel nach der Richtung von Spandau und von dort die Havel abwärts bis zur Landzunge Schildhorn, gegenüber der vielbesuchten Insel Pichelswerder, getrieben, und viel Ausdauer erfordert es, die starken Thiere einzeln einzufangen, um sie der aus geübten Frauen bestehenden „Rupfkompagnie“ auszuliefern. Mit großer Geschicklichkeit und ohne den Thieren nennenswerthe Schmerzen zu verursachen, zupfen die Angestellten ihnen die am Bauch und an der Brust sitzenden feineren Federn aus. Empfindlicher ist die zur Verhütung der Flugfähigkeit nothwendige Entfernung einiger langer Schwungfedern. Mit großem Jubelgeschrei verlassen die Gerupften die Marterkammer, werden draußen von ihren Leidensgefährten verständnißvoll begrüßt und suchen nun schleunigst alle wieder das Weite. Die Federernte, welche ein bedeutendes Kapital repräsentirt, wird der königlichen Hofbettkammer abgeliefert, deren Aufgabe es ist, viele tausend Betten in Stand zu halten und alle preußischen Schlösser damit zu versehen.

Volksthümliche Leibspeisen – eine nicht immer unbedenkliche Geschmackssache – besitzen alle Nationen, und wir Deutsche erfreuen uns eines besonders großen Vorraths derselben. Die in einer Land- oder Ortschaft vorzugsweise erzeugten oder gepflegten Gaben des Thier- oder Pflanzenreichs bieten den Grundstoff des Leibgerichts und bestimmen dessen Benennung. Dafür zeugen Westfälischer Schinken und Pommersche Gänsebrüste ebenso sehr wie die Backhändl, Rostbratwürste, grauen Erbsen, Spätzle und Waldklöße, jegliches an seinem Orte. Bei letzteren aber wollen wir ein wenig verweilen.

Unter Waldklößen verstehen wir die Thüringer und Vogtländischen Kartoffelklöße, welche die Sonntags- und Feiertagshauptspeise in allen Familien, bei Reich und Arm im ganzen Gebiet ihrer Herrschaft sind. Dieses Gebiet erstreckt sich in Thüringen und Franken über das Land

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1888). Leipzig: Ernst Keil, 1888, Seite 667. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1888)_667.jpg&oldid=- (Version vom 9.2.2019)