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Verschiedene: Die Gartenlaube (1888)

mir zu nähren und zu befestigen. Wohl hat es lange gedauert, bis ich dazu kam, unter die Vergnügungsreisenden zu gehen. Unsere schönen Alpen kann ich mir z. B. erst jetzt mit rechter Muße betrachten. Und doch war von Jugend an mein Sinnen und Trachten dem Reisen zugewandt und die Reiselust hat sich frühe in mir geregt. Aber sie trieb mich nicht in die Höhe, sondern in die Weite. Und weit – weit herum in der Welt – bin ich gekommen.

Wenn es eine gute und eine schlimme Fee gäbe, eigens um für Glück und Unglück der Menschen auf Reisen zu sorgen, so müßte ich annehmen, daß an meiner Wiege beide gestanden haben. Die eine gab mir den leidenschaftlichen Reisetrieb und eine vorzügliche Gesundheit mit auf den Weg; die andere versah mich mit Eigenschaften, welche gar leicht den ersteren mir zum Verhängniß hätten werden lassen können. Viele Umstände kamen zusammen, um denselben verfrüht zum Ausbruch zu bringen. Mein Vater war ein wohlhabender Holzhändler in Stettin. Als fünfjähriger Knabe schon durfte ich ihn auf einer Seereise nach Schweden begleiten. Um Schifffahrt, Flößerei, Fluß und Meer drehten sich die Lieblingsgespräche meines Vaters bei Tisch. Ferner hatte ich einen Onkel in Amerika, der nach bewegter Vergangenheit Kapitän auf einem Mississippidampfer geworden war. Was ich von ihm hörte, wenn es auch selten Günstiges war, erregte mächtig meine Phantasie. In noch höherem Grade thaten dies einige Bücher, welche mir bald, nachdem ich lesen gelernt hatte, in die Hände kamen, Campes ,Robinson‘ und populäre Bearbeitungen einiger Romane von Cooper, dem Lederstrumpf-Autor , und Marryat, dessen ‚Peter Simpel‘ ich in jener Zeit wohl mehr als ein Dutzendmal gelesen habe. Wie dieser englische Midshipman auf See zu gehen, auch auf die Gefahr hin, gleich Robinson auf einer wüsten Insel zu stranden, oder wie Lederstrumpf in den amerikanischen Hinterwäldern als Bundesgenosse eines Chingachgook gegen Apachen oder Siouxindianer zu kämpfen und den Büffel zu jagen, dies wurden meine Knabenideale.

Das war an sich gewiß nichts Besonderes. Als ich aber über diesen und ähnlichen Büchern dann meine Schulaufgaben zu vernachlässigen begann, als ich – so oft und so lang ich konnte – mich von Hause wegstahl, um mit einigen gleichgestimmten Kameraden mich am Hafen, ja bald auch auf den dort lagernden Schiffen herumzutreiben, und mein Vater mit der herben Strenge seines Charakters dagegen seine Autorität geltend machte, wurde aus jenen Träumen allmählich der Plan, mich dem strengen Regimente und dem Schulzwang durch die Flucht zu entziehen und bei meinem Onkel auf dem Mississippi, dem ich, wie sie zu Hause sagte, ‚leider‘ nachschlug, mein Heil zu suchen. In irgend einer schwüle Gewitterstunde, in welcher das Donnerwetter von meines Vaters Munde grollte, ließ ich mich dann hinreißen, in störriger Knabenweise mit der Ausführung dieses Plans den Eltern zu drohen, und diese nahmen die Drohung ernster, als es damals nöthig gewesen wäre; ich wurde, um jedem bei der Nähe des Meeres sehr leicht auszuführende Fluchtversuch vorzubeugen, von Stettin fort in ein Knabenpensionat nach Heidelberg gethan, das wegen der in ihm herrschenden strengen Zucht wohlverdienten Rufes genoß. Ja, die Zucht war streng dort, zu streng für mein nach freier Uebung der besonderen Anlage lechzendes Naturell. Dort lernte ich zuerst den Werth der Heimath schätzen; die Welt meiner Knabenträume und Knabenspiele wurde zum Gegenstand sehnsüchtigen Heimwehs.

Als ich aber zu Weihnachten in die Ferien kam, mußte ich erkennen, daß diese Sehnsucht einem verlorenen Paradiese galt. Mein Vater hatte sich in den Kopf gesetzt, daß ich studiren sollte; sein Ehrgeiz wollte den einzigen Sohn in Amt und Würden sehen, die nur ein staatsgeprüfter Jurist erlangen kann; meine Natur aber war auf realere, praktischere Dinge gerichtet als die griechische Syntax und das Uebersetzen von Ciceros Reden, und meine Censuren, die ich heimgebracht hatte, lauteten nicht günstig. Ein Uebermaß von Nachhilfestunden, das mir nun in Heidelberg aufgebürdet wurde, machte die Sache nicht besser. Der alte Plan, nach Amerika durchzugehen, genährt durch die heimliche Lektüre von allerlei Reiseabenteuer- und Entdeckergeschichte, genährt auch durch das Gefühl, in mir schlummernde Gaben draußen in der Welt bewähren zu können, die jetzt mit aller Macht unterdrückt wurden, nahm immer mehr feste Gestalt an. Als die großen Ferien herannahten, war mein Entschluß reif. Das Geld zur Fahrt nach Stettin, das mir bei Beginn derselbe ausgehändigt werden würde, wollte ich an mich nehmen und als Zehrpfennig benutzen auf der Flucht in die weite Welt.

Wie sehr mein Geist dem Zuge nach der Fremde damals erlegen war, wurde mir erst klar, als ich viel später einmal das schöne Heidelberg wieder betrat. Für die Fülle anmuthigen erhabenen Schönheitsreizes, die das Neckarthal hier umfaßt, hatte ich damals kein Auge. Nur der Neckar selbst, der flinke Geselle, der mit brausendem Ungestüm an der Stadt vorbeieilt, dem Rheine zu, hatte mir’s angethan. Er auch bot mir das Mittel zu einer ebenso sicheren wie wohlfeilen Flucht. Wie oft hatte ich den langen mächtige Flößen nachgeschaut, welche die schnelle Fluthen des Neckars, sobald nur der Fluß vom Eise befreit war, dem Rheine alltäglich zutragen. Mit dem Vorgeben, ein armer Handwerksbursch zu sein – mit entsprechender Kleidung hatt’ ich mich vorher versehen –, der nach Holland wolle, stellte ich mich in Mannheim auf einem der großen Floßfahrzeuge ein, die dort zur Abreise bereit lagen, und gelangte so, wenn auch auf langsamem Wege, nach Rotterdam. Gerade diese Langsamkeit hielt mich den Nachforschungen der ebenso erzürnten wie erschreckten Eltern entzogen. Ich hatte ihnen einen Brief geschrieben, worin ich ihnen Mittheilung von meinem Entschluß machte und mein aufrichtiges Bedauern aussprach, ihnen Schmerz und Enttäuschung zu bereiten; um Verzeihung wolle ich sie erst bitten, wenn ich auf dem selbstgewählten Wege ein Mann geworden sei, der ohne Erröthen der Scham werde vor sie hintreten können.

Wie tief ich meine Eltern kränkte, wie groß der Kummer war, den ich ihnen bereitete, davon hatte ich damals keine Vorstellung. Ich glaubte mich an sich im Rechte; in meinem Vater sah ich den starren Gegner meines Lebensglücks; das Gefühl, einen Akt der Selbsterhaltung in allerdings sehr eigenmächtiger und waghalsiger Weise zu vollziehen, begleitete mich auf der abenteuerlichen Fahrt. Daß ich nicht aus Arbeitsscheu oder Sucht nach materiellen Genüssen dem Ort strenger Schulzucht entflohen, bethätigte ich von Beginn an. Als einer der Ruderknechte des Floßes erkrankte und in Köln ans Land gesetzt werden mußte, trat ich an seine Stelle und zeigte mich, trotz meiner halbwüchsigen Jugend, der körperlichen Anstrengung gewachsen. In Rotterdam verdingte ich mich auf ein Kauffahrteischiff, das zunächst nach Nordamerika ging, als Schiffsjunge. Trotz der Entbehrungen und Anstrengungen, ja auch Mißhandlungen, denen ich hier ausgesetzt war, fühlte ich mich auf dem Schiffe glücklicher als seit langem. Der Gedanke an meinen Onkel in Amerika gab mir Halt. Der war ja Schiffskapitän auf dem Mississippi, der werde mich schon besser zu verwenden wissen. Daß ich demselben kaum bekannt war und als Sohn meines Vaters schwerlich besonders willkommen sein konnte, diese Bedenken störten mich nicht.

Die Suche nach meinem Onkel gehört zu den romanhaftesten Kapiteln meines Lebens. Unser Familienname, so stolz mein Vater als Chef des alten Hauses Jakob Kurz und Sohn auf denselben auch war, ist nicht nur kurz, sondern auch sehr häufig. Der Mississippi aber ist länger und breiter, als ich mir selbst in meinen verwegensten Träumen vorgestellt hatte, und die Schiffe jeden Kalibers, die ihn befahren, zählen nach Tausenden. Eine nähere Adresse aber wußte ich nicht; war Onkel Richard doch nach einer heftigen Entzweiung mit meinem Vater außer alle Berührung mit der Familie gekommen. Nur daß er Kapitän auf dem Mississippi geworden war, hatte die Eltern vor Jahren zufällig von einem gemeinsamen Bekannten erfahren. Lange dauerte es denn auch, bis ich überhaupt in Erfahrung brachte, daß er zur Zeit gar nicht mehr diesem Berufe oblag. Wohl stand mein Dichten und Trachten nach den großen Uferstädten des genannten Stromes, wo ich am ehesten hoffen konnte, den Aufenthalt des Onkels auszukundschaften; aber wie hingelangen? Im Verhältniß zu heute war es ja freilich damals für eine junge kräftigen Mann von aufgeweckten Sinnen, der sich nicht scheute, da zuzugreifen, wo sich Arbeit bot, noch leicht, in Amerika sich durchzuschlagen und bei einigem Glück zu geordnetem Wohlstand zu gelangen; aber der Weg, den ich bis zu diesem Ziel zu machen hatte, war recht lang und oft recht steil, führte mich kreuz und quer und ein paar Mal auch an den Rand der Verzweiflung.

Das Erste, was mir blühte, war eine Anstellung als Hafenarbeiter. Saures Brot war’s, das ich hier erwarb, aber die

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