Seite:Die Gartenlaube (1888) 599.jpg

Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
Verschiedene: Die Gartenlaube (1888)

„Das freut mich,“ schnitt ihm die gnädige Frau ohne weiteres das Wort ab. „Draußen steht mein Gepäck, Herr Doktor, bitte, lassen Sie es hereinbringen. Ich bleibe auch hier – auf unbestimmte Zeit!“

Das fehlte noch, um die Verzweiflung des Doktors voll zu machen. Er dachte an das kleine, dürftig eingerichtete Giebelstübchen, das er seinem Vetter hatte anbieten müssen, und nun wollte eine Baroneß Ernsthausen darin wohnen! Da fiel sein rathlos umherschweifender Blick endlich auf die so angstvoll gesuchte Joppe, die grade vor ihm lag, er stürzte plötzlich darauf los, packte sie und verschwand mit seiner Beute im Nebenzimmer. Gronau, der eine ebenso respektvolle wie entschiedene Abneigung gegen „die Damen“ hegte, hinkte ihm schleunigst nach und ließ dabei die Thür so unvorsichtig in das Schloß fallen, daß das ganze Hans erbebte.

„Bin ich denn hier unter die Wilden geraten?“ rief die junge Frau entrüstet über diesen Empfang. „Der Eine schreit, der Andere läuft davon und der Dritte –!“ sie schauderte förmlich bei dem Gedanken, daß dieser Dritte ihr Gatte war.

Gersdorf aber kümmerte sich nicht um den bitterbösen Ausdruck des rosigen Gesichtchens. Jetzt, wo sie allein waren, eilte er mit strahlender Miene und ausgebreiteten Armen auf seine kleine Frau zu.

„Wally, also bist Du wirklich gekommen!“

Wally entzog sich der Umarmung, sie trat zurück und erklärte feierlich:

„Albert – Du bist ein Ungeheuer!“

„Aber Wally –!“

„Ein Ungeheuer!“ wiederholte sie mit Nachdruck. „Mama sagt es auch und sie meint, ich müsse Dich mit Verachtung strafen. Deshalb bin ich auch nur hergekommen.“

„So, deshalb?“ sagte Albert, während er ihr die Reisetasche abnahm; sie duldete das zwar, aber sie behielt ihre vernichtende Haltung bei.

„Du hast mich verlassen, mich, Dein eheliches, Dir angetrautes Weib, schändlich verlassen – und das noch dazu auf der Hochzeitsreise!“

„Bitte, mein Kind, Du verließest mich,“ protestirte Gersdorf. „Du bist mit der Gesellschaft gefahren –“

„Auf einige Stunden! Und als ich zurückkam, warst Du fort, warst in die Wildniß gegangen, denn etwas anderes ist ja dies Oberstein nicht, und nun sitzest Du hier in dem abscheulichen Tabaksqualm und rauchst und lachst und jubilierst – leugne es nicht, Albert, Du hast gelacht, ich habe draußen deutlich Deine Stimme gehört!“

„Allerdings habe ich gelacht, aber das ist doch kein Verbrechen.“

„Wenn Deine Frau fern ist!“ rief Wally zornig, „wenn Deine tiefgekränkte Gattin in derselben Stunde ihr Schicksal beweint, das sie an diesen herzlosen Mann kettete – o, Du siehst das nicht einmal ein!“

Sie schluchzte laut auf und warf sich verzweiflungsvoll auf das Sofa, fuhr aber erschrocken wieder in die Höhe – auf eine so harte Ruhestätte für ihren Schmerz war sie nicht gefaßt gewesen.

„Wally,“ sagte ihr Gatte ernst, indem er zu ihr trat, „Du wußtest, warum ich jenen Kreis meiden wollte, und ich glaubte, meine Frau würde darin unbedingt an meiner Seite stehen – es hat mir sehr wehe gethan, daß ich mich darin täuschte!“

Der Vorwurf verfehlte seine Wirkung nicht. Wally schlug die Augen nieder und erwiderte kleinlaut:

„Ich mache mir ja gar nichts aus all den albernen Menschen, aber Mama meinte, ich dürfe mich nicht unterdrücken lassen.“

„Und Du folgtest natürlich Deiner Mutter, nicht meiner Bitte, Du zogst eine fremde Gesellschaft der meinigen vor!“

„Das hast Du ja auch gethan,“ schluchzte Wally; „Du bist fortgefahren, ohne danach zu fragen, ob Dein armes Weib sich verzehrt in Schmerz und Sehnsucht!“

Albert legte leise den Arm um sie und beugte sich zu ihr nieder, seine Stimme klang jetzt in vollster Innigkeit:

„Hast Du Dich wirklich gesehnt, meine kleine Wally? – Ich auch!“

Die junge Frau blickte mit großen Augen zu ihm empor; die Thränen versiegten und sie schmiegte sich fest an ihn.

„Wann wolltest Du wiederkommen?“ fragte sie.

„Uebermorgen – wenn ich es nämlich so lange ausgehalten hätte.“

„Und ich bin schon heute gekommen – ist Dir das genug?“

„Ja, mein süßer, kleiner Trotzkopf, es ist mir genug!“ rief Albert in überströmender Zärtlichkeit, während er sie in die Arme schloß. „Nun wollen wir meinetwegen noch heute nach Heilborn zurückkehren.“

„Nein, das wollen wir nicht,“ erklärte Wally mit großer Entschiedenheit. „Ich habe mich gezankt mit der Mama, die mich nicht fortlassen wollte, und mit dem Papa auch. Ich habe das ganze Gepäck mitgebracht, und nun bleiben wir hier.“

„Um so besser,“ sagte Gersdorf sichtlich erleichtert. „Ich bin ja doch nur Dir zu Liebe nach Heilborn gegangen; hier sind wir mitten in den Bergen. Ich fürchte nur, wir werden uns ein anderes Quartier suchen müssen, das Doktorhaus wird Dich mit all Deinen Koffern schwerlich beherbergen können.“

Die kleine Frau sah sich naserümpfend in dem Zimmer um, wo die Tabakswolken noch immer lieblich wallten und die Pfeifenscherben mit dem nunmehr dreibeinigen Stuhle einträchtig am Boden lagen.

„Ja, es scheint hier überhaupt eine entsetzliche Junggesellenwirthschaft zu sein! Du bist schon ganz verwildert bei diesem vielgerühmten Vetter, der wie ein Unsinniger davonstürzt, wenn eine Dame über seine Schwelle tritt. Hat er denn gar keine Lebensart?“

„Der arme Benno war in so grenzenloser Verlegenheit,“ entschuldigte Albert. „Er hatte vollständig den Kopf verloren. Sei liebenswürdig gegen ihn, Wally, ich bitte Dich – und nun will ich vor allen Dingen nach Deinem Gepäck sehen.“

Er ging, und Frau Doktor Gersdorf setzte sich diesmal mit etwas größerer Vorsicht aus das Sofa, dessen Härte sie vorhin so erschreckt hatte; da wurde leise und schüchtern eine andere Thür geöffnet und der Herr des Hauses erschien. Er hatte die Zwischenzeit benutzt, um sich in aller Eile etwas salonfähiger zu machen, und näherte sich nun verlegen und demüthig der jungen Dame, die vorläufig noch nicht geneigt schien, die Bitte ihres Gatten zu erfüllen und liebenswürdig zu sein, da sie im Gegenteil mit strenger Richtermiene auf den Eintretenden blickte.

„Gnädige Frau,“ begann dieser stockend. „Ich bitte um Entschuldigung, daß Sie bei Ihrer unerwarteten Ankunft – ich war sehr unglücklich darüber, gewiß sehr unglücklich – “

„Ueber meine Ankunft?“ unterbrach ihn die junge Frau entrüstet.

„Um Gotteswillen, nein!“ rief Benno, der sich schon wieder in seiner Rede verwickelte. „Ich meinte nur – ich wollte bemerken – daß ich Junggeselle bin.“

„Ja, leider!“ sagte Wally, noch immer sehr ungnädig. „Ein Junggesell ist etwas Trauriges! Warum heirathen Sie nicht?“

„Ich?“ rief Benno ganz entsetzt über die Frage.

„Natürlich, Sie müssen heirathen, so bald als möglich!“

Die Worte klangen so diktatorisch, daß der Doktor gar nicht zu widersprechen wagte, sondern nur eine Verbeugung machte; das entwaffnete Frau Wally einigermaßen, sie setzte etwas milder hinzu:

„Albert hat auch geheirathet und befindet sich sehr wohl dabei. Oder zweifeln Sie vielleicht daran?“

„O nein, gewiß nicht!“ versicherte der ganz eingeschüchterte Benno, „aber ich – “

„Nun, Sie, Herr Doktor?“ examinirte die neue Verwandte.

„Ich habe keine Gewandtheit im Verkehr mit Damen, keine Manieren,“ sagte er wehmüthig. „Gar keine, gnädige Frau, und das gehört doch dazu.“

Diese Selbsterkenntniß fand Gnade bei Wally; ein Mann, der seine Mängel so tief empfand, schien ihr der Theilnahme werth, sie ließ ihre strenge Miene fahren und entgegnete wohlwollend:

„Das läßt sich lernen! Setzen Sie sich zu mir, Herr Doktor, wir wollen die Sache besprechen.“

„Das Heirathen?“ fragte Benno entsetzt; er schien zu fürchten, daß die Sache augenblicklich ins Werk gesetzt werden könnte, und wich drei Schritte zurück.

„Nein, vorläufig nur die Manieren. Es fehlt Ihnen nicht an gutem Willen, wie ich sehe, aber Sie brauchen jemand, der sich Ihrer annimmt und Sie erzieht – und das werde ich thun.“

„O gnädige Frau, wie gut Sie sind!“ sagte der Doktor mit so rührender Dankbarkeit, daß die achtzehnjährige Erzieherin dadurch völlig gewonnen wurde.

Empfohlene Zitierweise:
Verschiedene: Die Gartenlaube (1888). Leipzig: Ernst Keil, 1888, Seite 599. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1888)_599.jpg&oldid=- (Version vom 17.1.2018)