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Verschiedene: Die Gartenlaube (1888)

befreien, mich nicht wieder in ihre gefährliche Nähe bringen. Aber daß auch sie nicht mehr hier war, erleichterte mir doch den Entschluß zur Abreise. Die österreichische Alpenwelt ist so groß, und Ischl so klein; da kann man sich ja schon ausweichen.

Die Herrschaften kennen das Salzkammergut?

„Wir waren erst voriges Jahr vier Wochen in Aussee,“ erwiderten zustimmend die Kurzschen Eheleute.

„Und ich habe schon dreimal den Dachstein bestiegen, das eine Mal von Süden her, die zwei andern Male von Gosau aus; da ist der Anstieg ein recht schwieriger,“ sagte der Engländer.

„Und wir haben das herrliche Land von See zu See durchschweift,“ riefen die Malersleute. Nur der Astronom war noch nicht dort gewesen.

„Nun, da steht Ihnen noch eine Fülle lieblicher und großartiger Eindrücke von eigenstem Reize bevor. In jener herrlichen Gegend, wo eine fast südliche Vegetation die Thäler und Seeufer mit Lustgärten überzieht, während zu ihren Seiten mächtige Felsenkämme über waldigen Vorbergen gen Himmel ragen, ging mir damals zuerst die Pracht und Schönheit unserer Alpen auf. Und noch viel anderes.

Ich ging wirklich nicht nach Ischl. Ich mied es ängstlich und empfand es mit Genugthuung, wenn Touristen, mit denen ich in Unterhaltung kam, das modische Solbad zwischen den Salzbergen für den langweiligsten Ort im Lande erklärten. Ich reiste, wie es meiner inneren Unruhe entsprach, nach Laune von einem der schönen Seen zum andern. Zuerst machte ich am Traunsee Station und hier war es, wo ich, der Weisung des Arztes folgend, mich allmählich an immer größere Bergtouren wagte, so daß ich keinen irgend erträglichen Tag vorüberließ, ohne eine Höhe zu besteigen. Im Anfang überwog die Anstrengung den Genuß. Ich war ja des Steigens zu ungewohnt, um mich nicht von einem mehrstündigen Auf- oder Niederstieg wie zerschlagen zu fühlen.

Eine der ersten steileren Höhen, die ich damals erklomm, war in ihren Anfängen ein Kalvarienberg und die Mühseligkeit des Anstiegs, den Wallfahrtsstationen vorüber, erschien mir in der That als eine Kasteiung. Mißmuthig war ich noch vor Schluß der Table d’hote aufgebrochen, hatte erst in meinem Zimmer Ruhe gesucht, und da ich sie dort nicht fand, war ich aufgebrochen und hatte planlos den Weg eingeschlagen, von keinem anderen Wunsche beseelt als dem, allein zu sein und nichts mehr zu hören von den Phrasen übertünchter Höflichkeit und überfirnißter Thorheit, die mich bei Tische umschwirrt hatten. Das waren nun Menschen, auf Rang und Stand höchst eifersüchtige Menschen gewesen, die sich alle für höchst gebildet erachteten, und doch hatte ein jeder gesprochen, als erschöpfe sich in Toiletten-, Küchen-, Etikette- und Sportfragen das Interessengebiet des Geistes. Und das wird immer so bleiben, sprach ich in mich hinein. Aller Fortschritt der Menschheit ist nur ein scheinbarer, weil man den Fortschritt einzelner mit dem der Menschheit verwechselt. Der Weg, den ich beschritt, zog jedoch wegen seiner Steilheit meine volle Aufmerksamkeit auf sich. Es war das ausgewaschene Bette eines offenbar einst mächtigen Gewässers. Wohl viele hundert Jahre hatte hier das Wasser fließen müssen, ehe es diesen Weg so glatt und sauber in die Felsen eingescheuert.

Unwillkürlich fiel mir der lateinische Sprach ein: gutta cavat lapidem – der Tropfen höhlt den Stein. Und wie ich mühsam Schritt für Schritt auf dem steilen Pfade empordrang, nur nach langer Mühe ein Ziel erreichend, das nach dem Augenmaß wie im Sprunge zu erreichen geschienen, da machte sich in meine Gedanken die versöhnliche Einsicht, daß eben auch die Höhen des menschlichen Fortschritts nicht allen zugänglich und nicht gleichmäßig zu erklimmen sind und die Langsamkeit des Vorwärtsschreitens in ihrer Natur begründet ist. Je höher ich stieg, um so kleinlicher erschien mir der Anlaß meines Grolls. Und als ich oben auf der Spitze des Berges war, da überkam mich ein wonniges Gefühl des Befreitseins von Trübsal und Kleinmuth, entzückt schweifte mein Blick ins weite Land über Berg und Thal, über blitzende Spiegel von blauen Seen und weiße Gipfel von blauen Bergen und auf meine Lippen drängte sich der Ausruf: ‚Die Welt ist doch schön – trotz alledem.‘ Und gleich dann mußte ich an sie denken, deren Anblick ich fliehen wollte, deren Bild mich aber überallhin begleitete. Auch sie, die Nichte des finsteren Reaktionsmanns, hier oben würde sie aus dem Anblick der schönen großen Gotteswelt eine ähnlich befreiende Wirkung gewinnen.

Und mit jeder neuen Bergfahrt fühlte ich mich, obgleich sie mich den Menschen entrückte, den Menschen und der bunten Mannigfaltigkeit ihres Strebens näher gebracht. Viel trug dazu bei der Eindruck, den ich von dem Leben der Landleute dieser schönen Gebirgswelt empfing. Die zähe Ausdauer, mit der diese Leute dem entlegensten Erdstrich zwischen Felsentrümmern Gras und Futterkräuter für ihr Vieh abgewinnen, ihre Genügsamkeit und ihre Fähigkeit, von Herzen froh zu sein in ihrer Dürftigkeit, steigerte meine Achtung vor dem Menschenthum und ließ mir die socialen Unterschiede, die uns im Qualm der Städte entzweien, in ihrem Kern nur noch gering erscheinen. ‚Und sie bewegt sich doch,‘ sagte ich mir, wenn ich in einem weltentlegenen Einödhof des Gebirgs moderne Werkzeuge in Gebrauch fand, ‚und sie bewegt sich doch vorwärts, die Menschheit‘– wenn ich Spuren geistiger Aufgeklärtheit entdeckte bei Leuten, denen ich die Kunst des Lesens nicht zugetraut hatte. Und: ,Sollten wir uns nicht doch finden können?‘ fügte ich bei, wenn ich der Stolzen gedachte, deren Pfad mein Verstand hatte meiden wollen, während im Stillen mein Herz hoffte, ich möchte ihn kreuzen.

Es war auf der Straße nach Gosau, die vom Hallstätter See aus am Fuße des Salzbergs hin durch das waldumschattete wildromantische Gosauthal führt. Die vielgerühmte Gosauschmiede war mein Ziel; ich wollte in der Nähe des wundersam schönen stillen Alpensees, der seine anmuthige Idylle unmittelbar unter der Gletschermajestät des gewaltigen Dachsteinmassivs entfaltet, ein neues Standquartier suchen. Ich war in der fröhlichsten Stimmung und sang ein altes Studentenlied vom Wandern. Plötzlich hörte ich hinter mir einen Wagen in schnellem Tempo heranfahren. Da ich inmitten der Straße ging, schwenkte ich nach rechts ab, mich unwillkürlich nach der Ursache der Störung umsehend.

Eben kam die Equipage herangerollt und schon wollte ich mich zum Weitergehen wenden, da erblickten meine Augen Fräulein Josephine neben einer freundlichen alten Dame im Wagen. Nur für einen Moment verlor ich die Fassung. Dann grüßte ich höflich. Die Damen erwiderten freundlich den Gruß und die ältere, welche mich mit Interesse angeblickt hatte, richtete dann eine Frage an ihre Nachbarin, worauf sie mit ihrem Sonnenschirm dem Kutscher das Zeichen zum Halten gab.

Beide Damen wandten sich mit einladender Gebärde nach mir um, ich war an ihrer Seite.

,Ein Bekannter meiner Nichte, Herr Doktor, das freut mich. Wir armen Frauen reisen so allein durch die Berge, da ist das Vergnügen doppelt groß, einen Herrn zu finden, an dessen Rath und Stütze man zu appelliren ein Recht hat.‘

Die Nichte, welche hoch erröthend neben ihr saß, wollte sie unterbrechen. Die alte Dame aber ließ sich nicht stören und stellte sich vor als Schwester der Mutter Josephinens, als welche sie es für ihre Pflicht gehalten habe, ihren Liebling aus der Monotonie des Ischler Badelebens auf einige Tage zu befreien und sie zu einer Wagenpartie nach den schönsten Orten des Salzkammerguts einzuladen. Doch was sei eine solche Vergnügungsfahrt ohne Herrengesellschaft!

‚Aber Tante!‘ flüsterte wiederum Josephine.

‚Ei was, ich will mit Eurer Duckmäuserei nichts zu thun haben; ich sage meine Meinung immer ehrlich heraus. Also, Herr Doktor, Sie haben die Wahl. Wollen Sie zu uns einsteigen oder dürfen wir zu Ihnen auf die Straße kommen, um an Ihrer Wanderlust teilzunehmen, die Ihnen da eben so fröhlichen Gesang aus dem Herzen lockte? Josephine, die über diese Fröhlichkeit sehr erstaunt that – ich wundere mich gar nicht darüber – hat schon während der ganzen Fahrt beklagt, daß sie nicht zu Fuß durch die schönen Thäler einherziehen könne. Wollen Sie uns mitnehmen?‘

Ich öffnete in einer ganz eigenen Stimmung, die aus Seligkeit und Verlegenheit wundersam gemischt war, den Wagenschlag, aber sie, deren Nähe mich so erregte, zögerte noch, indem sie mit einem Frageton, der sich an mich wandte, zur Tante sagte, sie wisse doch nicht, ob sie berechtigt wären, an mich solche Ansprüche zu erheben; Tante hätte sie falsch verstanden, wir hätten zwar

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