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Verschiedene: Die Gartenlaube (1888)

aufhalten können, worauf ich ihm kurzer Hand und das Lamento der erschrockenen alten Dame nicht achtend, die noch fehlenden Stufen den Stuhl tragen half. Dann grüßte ich kurz und stumm, ganz wie die alte Dame, ohne daß es mir entging, wie die Tochter mir einen Blick voll freundlicher Sympathie nachsandte. Ich begegnete ihr noch oft, und sie erwiderte stets freundlich meinen Gruß, aber die Wärme jenes Blickes fand ich nicht wieder. Doch vergessen konnte ich ihn nicht; er stahl sich in meine Träume, er leuchtete plötzlich zwischen den Zeilen meiner alten Pergamentfolianten hervor, in denen ich die Originale der Minnelieder altprovençalischer Troubadours, der Bertrand de Born und Guillem de Cabestaing studirte, Strophen, die jene kecken Bekenner kühner und freier Gedanken einst an gesellschaftlich hoch über ihnen stehende Frauen gerichtet hatten, durchglüht von hoffnungsloser Liebe.

Thoren, die sie waren, sagte ich oft in jenen Tagen zu mir, Thoren, sich in so unnahbare Wesen zu verlieben, welche – wenn sie wirklich die Frauen dieser Dichter geworden wären – sie in jeder Beziehung die erhoffte Herzens- und Geistesgemeinschaft hätten entbehren lassen. Jene – muthvollen Kämpen einer neuen Zeit mit freien Anschauungen und diese hocharistokratischen Ritterdamen, ganz erfüllt von den Vorurtheilen eines herzlosen, in strenge Formen gezwängten Feudalismus! … Ich aber – fühlte mich gewappnet gegen derartige Schwächen. Und wenn mich jene Blicke noch tiefer getroffen gehabt hätten, ich hätte mich schon hüten wollen, ihnen mein Herz preiszugeben. So meinte ich. Doch wenn ich ihr dann wieder auf der Treppe begegnet war oder beim Vorübergehen aus ihrer Wohnung den Gesang einer mich im Innersten ergreifenden Altstimme vernommen hatte – das Mignonlied in Beethovens herrlicher Komposition sang sie mit Vorliebe – da waren meine Gedanken wieder ganz in ihrem Bann und mir war, als habe ich selbst ähnliche Gedichte an sie zu richten wie jene hoffnungslosen Troubadours. Ja, es war Thorheit, es war Wahnsinn, was jene gethan; aber was kümmert sich die Liebe darum, ob das, was sie anstiftet, Thorheit ist. Ich war verliebt in jene stolze Trägerin eines von jedem freisinnigen deutschen Mann damals gehaßten Namens – trotz all meiner Klugheit …

Natürlich ließ ich ihr meine Empfindungen mit keinem Wimpernschlag merken. Aber je mehr ich gegen die schnell emporgewachsene Leidenschaft ankämpfte, um so mächtiger nahm sie von all meinem Denken und Fühlen Besitz. Ich schämte mich; ich verhöhnte mich im Stillen; aber immer mehr zehrte das Verlangen, sie zu sehen, an mir und machte mich zum Narren meiner Grundsätze. Denn diese Liebe erschien mir in den Stunden ruhiger Ueberlegung als Verrath an meiner Ueberzeugung. Schließlich verlor ich alle Fähigkeit, wie bisher an meinem Werke fortzuarbeiten. Ich ging schon damit um, in eine andere Wohnung zu ziehen, weil ich es in demselben Hause mit ihr doch nicht aushalten könne; da nahm mich eines Mittags ein junger Arzt, der mit mir denselben Mittagstisch besuchte, bei Seite und sagte mit wohlwollendem Ernst zu mir: ‚Lieber Freund, Ihr Aussehen und Ihr Wesen machen mir Sorge. Ihre Nervosität ist in letzter Zeit bedenklich gesteigert. Klappen Sie Ihre Bücher zu und reisen Sie auf ein paar Wochen ins Gebirg. Es ist hohe Zeit! Folgen Sie meinem Rathe!‘

Ich folgte ihm um so bereitwilliger, als ich an demselben Tage durch meine Wirthin erfuhr, die Damen vom ersten Stock, von denen ich mehrere Tage nichts gesehen, seien, wie nun schon mehrere Jahre um diese Zeit, nach Ischl ins Bad gereist. Nicht als ob ich nun die Absicht gehabt hätte, ihnen nachzureisen, – im Gegentheil. Wohl klang es wie Lockruf in meiner Seele, ihre Art, wie sie die Goethesche Sehnsuchtsstrophe ‚Dahin dahin‘ gesungen hatte; aber die Reise, die ich vorhatte, sollte mich grade von solcher Sehnsucht


„In schwebender – Lust“. Originalzeichnung von Herm. Vogel.

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1888). Leipzig: Ernst Keil, 1888, Seite 557. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1888)_557.jpg&oldid=- (Version vom 24.3.2018)