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Verschiedene: Die Gartenlaube (1888)

Aehnlich stand es um die Zeit, wo ich Herakli besuchte, mit der von Herrn Armágos geleiteten Dorfschule. Zwar hielt er streng darauf, daß es eine Unterrichtsstunde „deutsch Lesen“ gab; aber den Unterricht selber mußte er in griechischer Sprache ertheilen, weil die Kinder die höhere abstrakte Sprache eines deutschen Unterrichts nicht mehr verstanden. – Der Nachfolger des Herrn Armágos ist kein Deutscher, sondern hat nur nothdürftig etwas Deutsch in Griechenland gelernt.

Man kommt nach mühsamer Wanderung von der Eisenbahnstation, querfeldein über Sturzäcker und Weinfelder, über Gräben und Wildbachschründe („Rewmata“ nennt sie der Grieche), nach dem hoch gelegenen Dörfchen, auf dessen stillen Gassen sich blondköpfige Jungen mit funkelnden, schwarzen Augen herumtummeln. Die Farbe des Gesichts und der Haare ist deutsch, aber der Blick ist griechisch, und die Zunge ist auch griechisch geworden, wie wir bei der Antwort auf die erste Frage nach dem Namen merken. Dieser Knirps sagt, er heiße Franz (oder vielmehr Franziskos) Müller; jener nennt sich Lukas Setz; ein dritter Georg (genauer Jorji) Kegelmeier; doch schon an der Aussprache dieser Namen hören wir, daß es hier aus ist mit der deutschen Sprache als einem lebendigen Dinge.

Ein besonders lehrreiches Beispiel für die Art, wie sich der Umwandlungsprozeß in solchen Zwitterbildungen zu vollziehen pflegt, bietet die Familie des angesehensten Bürgers von Herakli, des deutschen Bierbrauers Fix. Der Name hat unter den Deutschen in Athen guten Klang, denn der „alte Fix“, der Vater des Herakliers, ist der Begründer und Pfleger der Bierbereitung und des Biertrinkens in Griechenland. Die berühmte Bierstube von Bernudakis in der Hermesstraße zu Athen verzapft Fixsches Bier, und daß es erbärmlich schmeckt, daran ist wahrscheinlich nicht des Herrn Fix Bierbraukunst schuld, sondern die schlechte Art der Aufbewahrung und Behandlung durch griechische bier-unverständige Hände. Der junge Fix, der in Herakli wirthschaftet, spricht selber noch vorzügliches Bayerndeutsch, aber daneben auch ein vollkommenes Volksgriechisch und in seinem eigenen Hause fast nur das letztere; denn seine Frau, obwohl eine geborene Deutsche, ist in einem römisch-katholischen griechischen Kloster erzogen und hat dort nur griechisch und französisch gesprochen, so daß nun diese beiden deutschen Eheleute im eigenen Hause und im Verkehr mit den Kindern sich nur des Griechischen bedienen. So geht es mit dem Deutschthum dieser versprengten deutschen Menschen inmitten eines ganz fremden Volksthums.

Ich habe diese Darstellung der Verhältnisse von Herakli nicht gegeben, um daran wehmüthige Betrachtungen über einen „verlorenen Bruderstamm“ oder dergleichen zu knüpfen. Es mag schade sein um die paar armen Leute, die nicht wieder in ihre eigentliche Heimath gelangen und doch auf dem fremden spröden Boden nicht gedeihlich fortkommen konnten; aber Deutschland hat andere sprachliche und nationale Verluste im Auslande zu beklagen, als daß es lange klagen sollte um jenes Häuflein verlorener Söhne in Attika. Ich selbst habe vielmehr Herakli an und für sich angesehen und möchte es als solches auch den Lesern vorführen, als ein im hellen Sonnenlicht der Gegenwart sich darstellendes Belegstück für die Art, wie das griechische Volksthum sich zu den fremden Eindringlingen im Mittelalter verhalten hat. Was sich an diesem abgelegenen Fleck Erde Attikas in dem kurzen Zeitraum von 40 Jahren vollzogen hat, das hat sich unzählige Male in den Thälern des Peloponnes, auf den Ebenen von Thessalien und an den Berghängen der Inseln abgespielt.

Niemand leugnet, daß Welle auf Welle fremder Volksstämme über das griechische Volk, über die Nachkommen der „alten Griechen“ hingefluthet ist seit dem Untergange des römischen Reichs bis zur Unterwerfung unter das Türkenjoch. Die Geschichte bietet kein Beispiel, daß ein eroberndes Heer die Sprache und die Sitten des von ihm ausgerotteten Volkes angenommen, und die slavischen Stämme, die im frühen Mittelalter in Griechenland eindrangen, sowie die französischen und italienischen Heere, die ihnen im späteren Mittelalter folgten, waren allesammt nicht zahlreich genug, um das griechische Volksthum und die griechische Sprache so zu ändern, daß man von einem neuen Volke, kaum von einem Mischvolke, reden darf. Slaven, Franken, Italiener ließen sich unter den Griechen nieder, gründeten wohl auch eigene Dörfer, ganz wie die bayerischen Veteranen in Herakli; aber sie heiratheten die Töchter des Landes, sie verkehrten freundschaftlich mit den Dörflern desselben Bezirks, ihre Kinder spielten miteinander. Just so, wie es den Deutschen in Attika ergangen, so ist es auch den fremden Eroberern griechischen Bodens geschehen: sie haben nach zwei, drei Menschenaltern Art, Sprache, ja selbst ihre Namen verloren und sind zu Griechen geworden. Gerade von den der Zahl nach mächtigsten Eindringlingen haben die Neugriechen am wenigsten aufgenommen: von den Slaven. Das Neugriechische hat überhaupt nur sehr wenige Fremdwörter; am wenigsten aber, wenn überhaupt welche, aus dem Slavischen.

In wenigen Jahren wird das schöne lebendige Beispiel Herakli nicht mehr unmittelbar zum Studium sprachlicher und nationaler Umbildung benutzt werden können, denn alsdann wird wohl auch die letzte Spur ehemaligen Deutschthums dort verschwunden sein. Um so wichtiger erschien mir der Versuch, wenigstens den Zustand dieses deutschen Dorfes in Attika festzuhalten, in welchem ich es vor nun zwei Jahren fand; wer es heute aufsucht, wird ihn schon wesentlich verändert finden.




Nachdruck verboten.     
Alle Rechte vorbehalten.
In der Schutzhütte.
Novellenkranz von Johannes Proelß.
(Fortsetzung.)
3. Hochgefreit.

Die Damen bedauerten lebhaft, daß die Erzählung des jungen Astronomen keinen befriedigenden Schluß habe. Dieser entschuldigte sich, er sei kein Dichter, und die Geschichten, welche das Leben dichte, blieben nun einmal öfters ohne harmonischen Abschluß.

„Vielleicht ist die Ihre aber noch gar nicht zu Ende,“ meinte der Maler, „und das Leben dichtet Ihnen noch unvermuthet den passenden Schluß hinzu.“

„Offen gestanden, ich habe früher manchmal auch diesen Aberglauben gehegt, jetzt bin ich aber längst der Meinung, daß gerade der poetische Reiz meines Abenteuers in seinem fragmentarischen Charakter besteht, und gerade darin erblicke ich das Wesen des Wanderzaubers, daß auf Reisen selbst Herzenserlebnisse an der Seele flüchtig vorüberziehen wie die Eindrücke der Landschaft und keinen anderen Eindruck zurücklassen, als den eines schönen, reinbeglückenden Bildes.“

„Im Grunde ist denn doch diese Auffassung,“ ergriff nun Professor Schröder das Wort, indem er sich über den weißen Bart strich, „ebenso romantisch wie pessimistisch. Mir fielen vorhin bei Ihrem Schluß ein paar Verse Scheffels ein, des Dichters, auf dessen Spuren wir hier im Gebiete des Säntis wandern, Verse, die für seine im Grunde so melancholische Gemüthsart ebenso bezeichnend sind wie für seine Neigung, an die Schönheitswelt der Alpen seine poetischen Gedanken anzuknüpfen. Er schildert in dem Gedicht eine Wanderung fahrender Schüler über Alpenhöhen:

‚Hier blitzt ein Städtlein und dort ein Gefilde,
Dort eines Stromes sich schlängelnder Lauf,
Dort auch ein See, wie ein Menschenaug’ milde,
Aus der vernebelten Ferne herauf.
Flüchtig nur winkt es und flüchtig versinkt es
In das umflorende Dunstmeer zurück …
So ist das Leben – sternschnuppig nur blinkt es …
So ist die Minne, die Hoffnung, das Glück.‘

Meine persönliche Erfahrung setzt mich dagegen in Stand, dem Leben wie dem Reisen bleibendere und tiefer greifende Segnungen nachzurühmen. Mich wenigstens hat meine erste größere Reise in die Alpenwelt nicht nur von ähnlichem Pessimismus befreit,

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1888). Leipzig: Ernst Keil, 1888, Seite 555. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1888)_555.jpg&oldid=- (Version vom 5.8.2018)