Seite:Die Gartenlaube (1888) 547.jpg

Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
Verschiedene: Die Gartenlaube (1888)

Schauspiel des Sonnenuntergangs, das durch Heraufziehen von Gewitterwolken einen besonderen Reiz erhielt, fesselte mich derart, daß ich nicht merkte, wie der Hauptweg eine Biegung nach links machte, während der Waldpfad, auf dem ich langsam meinen Weg verfolgte, mich in die Irre führte. Ich mochte so eine halbe Stunde gegangen sein, als ich mich plötzlich in einer Allee von hohen dichten Laubbäumen – ob es Linden oder Kastanien waren, weiß ich nicht mehr – befand.

Rechts und links von dem vielfach mit Gras überwachsenen Fahrwege dehnte sich der Wald hin. Bald konnte ich bemerken, daß der erstere in ziemlicher Entfernung in einem breiten Thorweg mündete. Neugierig näherte ich mich demselben; ein parkartiger großer Garten mit alten dichtkronigen Bäumen, zwischen denen aus der Ferne die Mauern eines großen Gebändes vorschimmerten, nahm mich auf. Auch anderes schimmerte hell durchs Gebüsch. Im Hintergrunde des Gartens schien eine größere Gesellschaft mit Spielen im Freien beschäftigt; helle Damenkleider blinkten ab und zu in Lücken des Buschwerks aus, und nun vernahm ich auch Stimmen. Aus meinem Lauschen weckte mich plötzlich ein Geräusch. Schritte knirschten auf dem Kiesweg, der, von dichtem Gesträuch umhegt, nach einem lauschigen Rondel führte. Ein dicker Baumstamm verhinderte, daß ich von dort aus gesehen werden konnte. Die Statue eines sein Schilfrohr blasenden Pans entzog andererseits auch meinem Blick einen Theil des so nahegelegenen Platzes, auf dem jetzt ein feiner Lieutenant in Interimsuniform mit einer jungen Dame heraustrat, auf die er mit lebhaften Gesten einsprach. Er war jetzt stehen geblieben, doch sie ging weiter mit einer abweisenden Gebärde und ließ sich auf einer Bank wie gelangweilt nieder. Jetzt konnte ich das Antlitz sehen; es war – ich traute meinen Augen nicht – meine Reisebekanntschaft von gestern; das weiße Kleid war mit einem rosafarbenen vertauscht. Der junge Offizier drehte sich verlegen den Schnurrbart; dann folgte er dem Mädchen und begann aufs neue seine eindringlichen Vorstellungen. Der Erfolg war eine kurze Antwort von seiten der jetzt sehr streng ihn anblickenden Schönen, welche bewirkte, daß er stracks mit militärischem Ruck Kehrt machte und den Weg, den er vorhin an der Seite des Mädchens gekommen, allein zurücklegte.

Dieses blieb wie in Träumen verloren sitzen. Als sie die Augen wieder hob, stand ich vor ihr. Ja, sie war es wirklich, das holde Kind, dessen Wesen mich gestern wie mit magischer Sympathie berührt, von dem ich die verwichene Nacht so seltsam geträumt hatte. Wunderbare Fügung! Und dieselbe freudig staunende Ueberraschung, die mich beseelte, lächelte mir freundlich aus ihrem Angesicht entgegen. Wir brauchten wenig Worte zur Aufklärung; sie war gestern auf der Reise hierher gewesen; die Besitzung gehörte einem Onkel von ihr. Daß ich mich auf meiner Wanderfahrt von den Gefährten getrennt, um mich hierher zu verirren, mußten unsre jungen Gemüther als eine Fügung des Himmels auffassen, der beschlossen hatte, uns einander wieder zuzuführen. Die berückende Wirkung dieser Thatsache machte das Mädchen zutraulicher gegen mich, als es ein jahrelanger Verkehr in den Salons der Städte würde ermöglicht haben. Sie war aufgestanden und hatte mir freudig die Hand gegeben, wie einem alten Bekannten. Dann aber war eine seltsame Befangenheit über sie gekommen und sie war unwillkürlich einige Schritte in den Schatten der Bäume zurückgewichen, doch ohne mich zu hindern, ihr zu folgen.

Sie stand zwischen blühenden Syringenzweigen, ganz wie ich sie im Traum gesehen, und gelbe Blüthentrauben des Goldregens umringelten ihre schwarzen Locken und ihren weißen Hals. Es war mir plötzlich, als könnte sie mir durch ein Wunder – wie es in dem Traum geschehen – entführt werden, als müsse ich sie fest halten und als könne ich die fliehende Minute versäumen, in der allein mir vergönnt sei, das Lächeln des Glücks von diesen Lippen zu lesen. Und so küßten wir uns.

In den Sträuchern und Bäumen um uns begann es zu rauschen; das schreckte uns auf. Es war nur der Wind, aber das Geräusch hatte ihr das Ungewöhnliche ihrer Lage, unsres Thuns zum Bewußtsein gebracht, nachdem sie vorher die Welt außer uns so ganz und gar vergessen gehabt, was ihr jetzt die Röthe der Scham in die Wangen trieb. Der Wind blies heftiger, und das Gesicht in ihre Hände bergend, fing sie an zu weinen. Ich sah ihr an, wie in ihrem Innern Zweifel rangen, ob sie mich einladen solle, ihr zu den Ihrigen zu folgen. Sie hätte es sicher gethan, wenn die Verlegenheit, die sich ihrer bemächtigt, nicht in diesem Augenblicke stärker gewesen wäre als jede andere Empfindung.

Am Himmel wetterleuchtete es. Große Tropfen fielen. Und nun hörten wir ihren Namen rufen. – „Marie!“ – So erst erfuhr ich, wie sie hieß. „Marie,“ sagte ich leise und ergriff ihre Hand.

„Wir müssen uns wiedersehen,“ sagte sie; „aber nicht heute.“

Ein furchtbarer Donnerschlag unterbrach ihre Worte. Gleich darauf begann der Regen in Strömen zu gießen.

„Marie,“ rief jetzt eine Männerstimme lauter und näher als früher. Geängstigt fuhr sie zusammen. „Ich muß hinein. Auf Wiedersehen!“ Indem sie dies leise rief, eilte sie von dannen. Fort war sie, unwiderruflich fort. Und bis heute bin ich ihr nicht wieder begegnet.

* * *

Die Damen blicken mich erstaunt an. Sie werden mit Recht fragen, ob und warum ich keinen Versuch gemacht habe, sie wiederzusehen? Ob ich ihn gemacht habe! Nach ihrem schnellen Verschwinden hatte mich, der ich trotz des Regens stehen blieb, ein Aufseher angetroffen und barsch gefragt, was ich hier zu suchen hätte. Der wolkenbruchartige Regen unter Donner und Blitz hatte jedoch alle weitere Verständigung abgeschnitten; zu suchen oder zu fordern hatte ich ja nichts hier. Hinter mir wurde knarrend das eiserne Parkthor geschlossen; mir war, als habe ein zorniger Cherub die Pforten des Paradieses hinter mir zugeschmettert. Es war tief in der Nacht, als ich in Ilmenau ankam. Ich hatte mich im Walde bei dem furchtbaren Gewitterregen verlaufen. Die Freunde empfingen mich mit Vorwürfen und sie hatten ein Recht dazu; was wußten sie von dem Wandermärchen, das ich inzwischen erlebt! Ihr Einfluß und die Zucht des studentischen Komments waren stark genug, um mich zu zwingen, am anderen Morgen mit ihnen dem verabredeten Reiseplan gemäß weiter zu marschiren. Mein Geheimniß mochte ich ihnen nicht verrathen. Kurz nach Pfingsten hatte ich meine erste Mensur, bei welcher ich einen scharfen Hieb über den Kopf erhielt, der nur schwer heilte. Sobald ich konnte, habe ich mich dann aufgemacht, um den Weg zu dem einsamen Park im Wald wieder zu finden. Aber ich fand mich in der Gegend nicht zurecht; ging wiederholt irre; die Spur blieb mir verloren. Und dann: ich war eben ein junger Student, der andere Dinge im Kopf hatte, als einem verwunschenen Schloß nachzugehen. Oft war mir’s wirklich, als sei das ganze Erlebniß nur ein Traum gewesen. Aber es war doch wirklich erlebte Wanderpoesie, die unvergeßlich meinem Erinnern eingeprägt ist und heute noch in demselben als schönstes Reiseerlebniß glänzt. So …, das war meine Geschichte.

(Fortsetzung folgt.)




Blätter und Blüthen.

Kaiser Wilhelms II. nordische Meerfahrt. (Mit Illustration S. 545.) Vor einem Jahre erst erlebte Kiel denkwürdige „Kaisertage“, als der greise Kaiser Wilhelm I. Anfang Juni der Grundsteinlegang des Nord-Ostseekanals beiwohnte (vergl. „Gartenlaube“ 1887, S. 426). Mitte Juli d. J. prangte die Stadt abermals im reichen Festschmuck, als es galt, den Enkel Wilhelms des Siegreichen, Kaiser Wilhelm II., beim Antritt seiner Meerfahrt nach Rußland und den nordischen Höfen zu begrüßen, und wie das Volk vor Jahresfrist den greisen Kaiser mit jubelnder Begeisterung empfing, so brachte es jetzt auch dem Enkel Kundgebungen der Liebe und des freudigen Vertrauens entgegen.

Des Kaisers Bruder Prinz Heinrich, der stellvertretende Chef der Admiralität Graf von Monts, Vizeadmiral von Blanc, die Contreadmirale Knorr und von Kall, die Spitzen der Civilbehörden etc. hatten sich am Morgen des 14. Juli zur Begrüßung auf dem Bahnhofe eingefunden, wo die Ehrenkompagnie des Seebataillons Aufstellung genommen hatte und Mannschaften des Füsilierbataillons eine Kette gegen die nach Tausenden zählende Volksmenge bildete. Der Hofzug traf bald nach 9 Uhr ein und der Kaiser, welcher über der Admiralsuniform das Orangeband vom Schwarzen Adler trug, umarmte den Prinzen Heinrich und begrüßte die zum Empfange anwesenden hohen Offiziere sowie die Vertreter der Stadt. Als er dann die Bahnhofstreppe hinabschritt, spielte die Musik des Seebataillons die Nationalhymne.

In der Stadt wurde keinerlei Aufenthalt genommen, auch nicht im Schlosse, über dessen inneren Hof die Wagen nach dem Hafen fuhren. An letzterem herrschte ein überaus reges Leben; die Zuschauermenge war eine unübersehbare und das Schauspiel, welches sich derselben bot, in der

Empfohlene Zitierweise:
Verschiedene: Die Gartenlaube (1888). Leipzig: Ernst Keil, 1888, Seite 547. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1888)_547.jpg&oldid=- (Version vom 17.1.2018)